Dirk Braunstein, Hannah Schmidt-Ott | Interview |

"Das sind keine Adorno-Texte"

Dirk Braunstein im Gespräch mit Hannah Schmidt-Ott

Theodor W. Adorno ließ von jeder seiner Seminarsitzungen ein Protokoll von Studierenden anfertigen. Zu Beginn der anschließenden Sitzung wurde es vorgelesen und diskutiert. Das Konvolut dieser Protokolle ediert Dr. Dirk Braunstein. Als Resultat dieses Editionsprojekt sollen alle gesammelten Protokolle aus den Jahrzehnten zwischen 1949 bis 1969 veröffentlicht werden. Herr Braunstein, wie kam es zu diesem ambitionierten Unternehmen?

Ein Teil der Recherche zu meiner Promotion, in der ich Adornos Kritik der politischen Ökonomie untersucht habe,[1] bestand darin, möglichst viel Material zu sammeln, in dem sich Adorno überhaupt zur Kritik der politischen Ökonomie äußert. Zu diesem Zweck habe ich unter anderem im Adorno-Archiv recherchiert und bin dort zwar auf einige Quellen gestoßen, habe aber längst nicht so viel Material gefunden, wie ich mir erhofft hatte. Doch wies mich einer der Mitarbeiter des Archivs, Michael Schwarz, darauf hin, dass es Protokolle gebe, die Adorno in seinen Seminaren hatte anfertigen lassen und in denen sich eventuell – er kannte deren Inhalt nicht – thematisch passendes Material finden ließe. Mir war die Existenz solcher Protokolle völlig unbekannt, obwohl Alex Demirović in seinem großen Buch über den nonkonformistischen Intellektuellen[2] bereits mit ihnen gearbeitet hatte. Jedenfalls habe ich mich auf den Weg nach Frankfurt gemacht und mir die Protokolle angeschaut, die in der Fachbereichsbibliothek für Gesellschaftswissenschaften aufbewahrt wurden. Dort lagen zwar nur die Protokolle aus den soziologischen Seminaren Adornos, ich habe aber trotzdem einige Quellen für meine Dissertation gefunden. Bei der Sichtung wurde mir dann nicht nur klar, wie umfangreich dieses Material eigentlich ist, sondern auch, wie breit das Spektrum der Themen war, die Adorno in seinen Seminaren behandelt hat. Mir kam der Gedanke, dass diese Texte irgendwann mal herausgegeben werden müssten, und die Idee setzte sich bei mir fest.

Nach Abschluss der Promotion realisierte ich bald, dass es diese Edition nicht geben würde, wenn ich das Vorhaben nicht selbst in Angriff nähme. Also habe ich mich weiter mit dem Material beschäftigt und mich um die Finanzierung gekümmert. Ein erster Antrag bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft wurde nicht bewilligt. Als nächstes – mittlerweile war ich Gastwissenschaftler am Frankfurter Institut – bin ich auf die Gerda Henkel Stiftung zugegangen. Und die hat das Projekt ab Anfang 2014 schließlich finanziert, wofür sie gar nicht hoch genug zu loben ist. Ich bin dann fest am IfS angestellt worden, lebe seitdem auch in Frankfurt und bin mit der Edition beschäftigt.

Nun aber in die Werkstatt. Worin besteht die Arbeit an Ihrem Mammutprojekt?

Die Realisierung des Projekts bestand aus mehreren, ganz unterschiedlichen Arbeitsphasen. Da das Material, wie angedeutet, größtenteils in zwei unterschiedlichen Archiven liegt, musste es zunächst einmal zusammengetragen werden. Der Teil der Protokolle, der aus den soziologischen Seminaren stammte und während der Arbeit an meiner Promotion noch einfach in der Bibliothek zugänglich war, war in der Zwischenzeit ins Universitätsarchiv verbracht worden. Jetzt handelte es sich also nicht mehr um ausleihbare Bestände, sondern um Archivmaterial, was den Zugriff deutlich erschwerte. Adorno hatte eine Professur für Philosophie und Soziologie inne, folglich gab es auch Protokolle seiner philosophischen Seminare, die allerdings als Teil des Nachlasses von Horkheimer im Max Horkheimer-Archiv liegen. Der Grund dafür ist recht einfach: Fast alle Seminare, die er in der Philosophie gegeben hat, wurden zumindest formal zusammen mit Max Horkheimer abgehalten. Deshalb musste ich also zunächst eine Übersicht erstellen, um zu erfassen, wo eigentlich welche Texte liegen.

Anschließend hatte ich die Texte aus der Papierform, in der sie vorlagen, per EDV zu erfassen, das heißt., sie mussten, um es mit einem Wort zu sagen, abgetippt werden. Dazu war es aber zunächst erforderlich, die Urheberrechtsfragen zu klären, denn ohne die Zustimmung der Verfasserinnen und Verfasser ist es kaum möglich, sich das von ihnen verfasste Material anzusehen – von Kopieren ganz zu schweigen. Aber wie soll man die Zustimmungen einholen, wenn man gar nicht weiß, wer eigentlich was protokolliert hat? Da beißt sich die Katze sozusagen in den Schwanz. Also mussten wir mit viel Mühe und Zeitaufwand einen, wie man so schön sagt, Modus Operandi finden, wie wir mit dem Material verfahren, bis wir entschieden haben, ob wir weiter damit arbeiten wollen. Da wir das wollten, war der nächste Schritt also logischerweise, die Rechte der Protokolle einzuholen. Sie liegen natürlich bei den damaligen Verfasserinnen und Verfassern beziehungsweise bei deren Erben.

Damit stellte sich die Frage, wie sich solche die Rechte eigentlich „rechtssicher“ einholen lassen? Da hat uns der Rechtsanwalt Joachim Kersten, der auch für die Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur tätig ist, sehr geholfen, indem er für uns – mit „uns“ meine ich jetzt den Projektleiter, also Axel Honneth, und mich als Bearbeiter des Projekts – einen Briefvertrag aufgesetzt hat. Wir konnten nun einen Brief, der gleichzeitig ein Vertrag in zweifacher Ausfertigung war, an die Protokollantinnen und Protokollanten – etwa 330 Personen – schicken und sie bitten, ein unterschriebenes Exemplar wieder zurückzusenden, das uns die Verwertungsrechte gewährt.

Wie haben Sie all diese Leute ausfindig gemacht?

Das war natürlich die nächste Schwierigkeit: Um sie zu erreichen, brauchten wir ja eine aktuelle Anschrift, E-Mail-Adresse oder Telefonnummer. Also haben wir beim Einwohnermeldeamt in Frankfurt nachgefragt, ob jemand mit dem entsprechenden Namen mal in der Stadt gelebt hat. Und wenn ja, wie lange und wo. Und wenn das Frankfurter Einwohnermeldeamt gesagt hat: „Ja, die Person war", sagen wir mal, „in den 50er-Jahren zum Zeitpunkt der Protokollerstellung hier gemeldet, hat sich dann aber abgemeldet nach Bremen", haben wir eine nächste Anfrage an das Bremer Einwohnermeldeamt geschickt und so weiter, bis wir schließlich die aktuelle Adresse hatten. Auf diese Weise konnten wir schon einige der Protokollantinnen und Protokollanten aufspüren, andere dann etwa über Internetrecherche. Bei den bekannteren Verfasserinnen und Verfassern war die Sache natürlich ganz simpel, aber bei, sagen wir mal, jemandem wie Klaus Müller wird es wirklich schwierig. Wenn ich jetzt schätzen sollte, würde ich sagen, dass wir zwei Drittel der Rechte bekommen haben. Für uns war wichtig, am Ende sagen zu können, dass wir wirklich alles versucht haben. Auch für den Verlag, der die Edition publiziert, war diese Anstrengung nötig, denn er trägt ja das Restrisiko, sollte sich jemand melden, der beklagt, seine Rechte seien durch unsere Publikation verletzt worden. Tatsächlich haben uns aber alle, die wir aufspüren konnten und angefragt haben, ihre Erlaubnis zum Abdruck erteilt.

Diese Projektphase hat ein gutes Jahr in Anspruch genommen, mindestens. Ich habe zwar keine studentischen oder gar wissenschaftlichen Mitarbeiter, aber ich hatte einen ganzen Stab von Praktikantinnen und Praktikanten, die mir sehr geholfen haben. Ohne deren Unterstützung wäre das Projekt an dieser Stelle in größere Schwierigkeiten gekommen, das steht außer Frage.

Inwiefern werden die Protokolle für die Publikation ediert? Bearbeiten Sie die Texte, stellen Sie einen Apparat zusammen?

Die Publikation besteht natürlich nicht nur aus den eigentlichen Protokolltexten, sondern sie werden mit – im Übrigen bitternötigen – Anmerkungen versehen. Das sind dann größtenteils Literaturangaben, um den theoretischen Kontext wiederherzustellen, in dem sich das Seminar damals bewegt hat. Anfangs hatte ich die völlig vernagelte Vorstellung, die Edition könnte so ähnlich aussehen wie die Nachgelassenen Schriften Adornos, die Rolf Tiedemann initiiert hat. Dort gibt es eine Kommentierung, die den Leserinnen und Lesern sehr entgegenkommt, mit sehr viel Information. Tiedemann hat damals gesagt: "Im Grunde müssen die Anmerkungen auch für sich alleine stehen und gelesen werden können." Von dieser Idee bin ich ziemlich schnell wieder abgekommen. Erstens war ihre Umsetzung schon aufgrund des schieren Umfangs – es sind über 4700 Anmerkungen, die ich hinzugefügt habe – völlig unmöglich, jedenfalls für jemanden, der alleine arbeitet. Zweitens spricht die Art des Materials selbst gegen eine solche Kommentierung: Da es sich nicht um einen Text handelt, bei dem der Urheber der formulierten Gedanken klar identifizierbar ist, sondern um eine ganz andere, eigene Textsorte, wurde mir recht schnell klar, dass ich streng positivistisch vorgehen muss, wenn ich nicht Rezeptionslenkung betreiben will.

Was heißt das konkret? Wie gehen Sie vor?

Wird in einem Protokoll beispielsweise Kant erwähnt, etwa in Form eines kurzen Zitats, beschränkt sich der Kontext, den ich in den Anmerkungen anbiete, ganz auf Kant: Ich führe etwa den längeren Textpassus an, aus dem das Zitat stammt, und ergänze die entsprechenden bibliografischen Angaben. Wird aus einer völlig abwegigen Hegel-Ausgabe zitiert, was leider recht häufig der Fall ist, zumal es die heute gebräuchliche Hegel-Ausgabe des Suhrkamp-Verlags noch nicht gab, dann weise ich nach, wo sich das Zitat findet und welche Fehler sich gegebenenfalls eingeschlichen haben, verweise also darauf, dass die Seitenzahl falsch ist und dergleichen. Was ich aber, anders als in den Nachgelassenen Schriften Adornos, nicht versucht habe, ist etwa genau die Ausgabe zu finden, aus der während des protokollierten Seminars zitiert wurde. Auch da bin ich geradezu erzpositivistisch vorgegangen und habe mich bei den Literaturangaben mitunter auf Ausgaben oder Editionen bezogen, aus denen die Protokollantinnen und Protokollanten gar nicht hätten zitieren können, weil sie damals noch nicht vorlagen. Ich will also wirklich nur über die zitierte Literatur Aufschluss geben und nicht darüber, wie das Seminar tatsächlich abgelaufen ist.

Und dann gibt es natürlich Anmerkungen für die Klärung von Namen. Wird in einem der Protokolle etwa eine Kommilitonin erwähnt, die als Fräulein von Alth auftaucht, füge ich an, dass es sich um Michaela von Alth, nachmals Michaela von Freyhold handelt. Oder ich ergänze, sofern sich in den Archiven die entsprechenden Informationen finden, den Titel eines gehaltenen Referats, wer es hielt und natürlich seine heutige Archivsignatur.

Welche besonderen editorischen Schwierigkeiten und Problemstellungen ergeben sich daraus, dass es sich um Seminarprotokolle handelt?

Hätte ich vorher gewusst, auf was ich mich da einlasse, auch was die Masse an Material betrifft – ich will nicht sagen, hätte ich es nicht gemacht, aber ich hätte größeren Respekt vor der Aufgabe gehabt, die mich erwartete. Schon das Einholen der Rechte war, wie gesagt, sehr schwierig und ungleich aufwendiger, als ich gedacht hatte. Auch die Transkription der Protokolle in die EDV war eine Herausforderung, weil sich der bereits erwähnte Zugang zum Archivmaterial derart kompliziert gestaltete. Schließlich ist der Anmerkungsapparat sehr viel umfangreicher geworden, als ich es mir je hätte ausmalen können. Die einzige einschlägige Editionserfahrung, die ich im Vorgang der Protokolledition gesammelt hatte, war die Herausgabe von Adornos 1960 gehaltenen Vorlesungen über Philosophie und Soziologie[3] im Rahmen der Nachgelassenen Schriften. Ich hatte angenommen, dass die Arbeit an der Protokolledition ähnlich sein würde – was aber überhaupt nicht der Fall war. Die schwierige Aufgabe, der ich so gut es ging gerecht werden wollte, bestand darin, ein neues Verfahren zu entwickeln, wie sich Seminarprotokolle als wissenschaftliche Textgattung edieren lassen. Dafür gab es keine Modelle oder Vorläufer, an denen ich mich hätte orientieren können. Das ganze Prozedere war so anspruchsvoll, dass ich darüber dann selbst schon wieder wissenschaftliche Abhandlungen schreiben konnte.[4]

Es gibt ein paar anderweitige Protokolleditionen, die aber weder vom Umfang, noch von der Art her vergleichbar sind, beispielsweise von Seminaren, die Heidegger gehalten hat. Diese Textkonvolute hat Heidegger jedoch seinerseits redigiert, was ihnen eine Authentizität verschafft, die rechtfertigt, dass sie als Heidegger-Texte in die Gesamtausgabe eingegangen sind. Hingegen sind die Texte, mit denen ich zu tun habe, keine Adorno-Texte. Und es ist, gerade für die Rezeption, ausgesprochen wichtig, darüber völlige Klarheit walten zu lassen.

Wenn es keine Texte aus der Feder Adornos sind, was ist in den Protokollen dann eigentlich zu lesen? Was spiegeln diese Dokumente Ihrer Ansicht nach wider?

Wenn man es ganz genau nimmt, spiegeln sie das Verständnis des jeweiligen Seminarablaufs wider, so wie es in die Darstellung der Protokollantin oder des Protokollanten eingeflossen ist. Das sollte man sich beim Lesen wirklich vor Augen halten, sich also darüber im Klaren sein, was die Protokolle alles nicht zeigen, also zum Beispiel den faktischen Seminarablauf. Natürlich machen sie einen Seminarablauf sichtbar, aber sie zeigen nicht die Seminare und wie sie tatsächlich abgelaufen sind. Um das zu verdeutlichen: Liest man die Transkription einer Vorlesung, gerade einer von Adorno, der in der Regel ja frei gesprochen hat, sitzt man zwar auch noch nicht in der Vorlesung, nimmt auch nicht an dem Prozess teil, zu dem sich eine Vorlesung über die Zeit eines Semesters entwickelt, aber man hat das bestmögliche textliche Abbild dessen in der Hand, was von Adorno gesagt wurde. Bei den Seminaren verhält es sich ganz anders. Es ist nicht bloß so, dass es keine Transkriptionen von Seminarmitschnitten sind, ich glaube auch, dass selbst transkribierte Mitschnitte nicht so viel von der Lehrveranstaltung überliefern könnten wie die Mitschriften einer Vorlesung.

Lernen wir am Ende vielleicht nur, wer die wirklich Begabten in Adornos Seminaren waren? Gibt es Protokollantinnen oder Protokollanten, die Ihnen richtig Eindruck gemacht haben?

Natürlich variiert die Qualität der Protokolle. Bei manchen ist vielleicht so etwas wie eine größere Sicherheit beim Verfassen von Texten zu spüren. Aber ich würde nicht sagen, dass Unsicherheiten in Bezug auf den Seminarverlauf oder dessen Inhalt durchscheinen. Was Begabung in diesem Zusammenhang angeht, so scheint sie mir mit der Fähigkeit zusammen zu hängen, sich zurückzunehmen, sich als Autorin darauf zu beschränken, den Seminarverlauf so gut wie möglich abzubilden, also die Diskussion in ihrem Ablauf zu referieren und es nicht doch noch besser wissen zu wollen als die Kommilitoninnen. Oder noch einmal mit einem Prunkzitat von Hegel aufzuwarten.

Im Übrigen haben die Protokolle nicht nur mich beeindruckt. Manche der Autoren und Autorinnen wollten, bevor sie die Einwilligung zum Abdruck ihrer Mitschrift gegeben haben, ihre vor vielen Jahren formulierten Texte gern noch einmal lesen. Und dabei habe ich mehrmals erlebt, dass diese Arbeiten aus vergangenen Studienzeiten ziemlichen Eindruck auf ihre Verfasser und Verfasserinnen gemacht haben. Natürlich konnten sie sich kaum mehr an das von ihnen aufgesetzte Protokoll erinnern. Beispielsweise stammt das allererste Protokoll von Herrmann Schweppenhäuser, der es im November 1949 verfasst hat, was einfach verdammt lang her ist. Bei der Relektüre waren eigentlich alle beeindruckt davon, wie konzentriert und im besten Sinne ernst die Arbeit am Protokoll war und wie gut sie auch die Begeisterung, mit der man im Seminar bei der Sache war, eingefangen hatten. Ähnlich hat sich ja Adorno selbst geäußert. In einem Brief an seine Eltern berichtet er von seinen ersten Frankfurt-Erfahrungen nach seiner Rückkehr aus dem Exil und schildert sein Erstaunen über die an der Universität vorherrschende Begeisterung für Kant. Die war so groß, dass die Studierenden sich sogar wünschten, er möge auch in den Semesterferien privat noch weiter Seminare abhalten. Offenbar war der Wissensdurst unter den jungen Studierenden, gerade direkt im Anschluss an den Nationalsozialismus, immens.

Welche Einsichten und Erkenntnisse bietet die Edition? Was macht die Lektüre der dort veröffentlichten Texte interessant, womöglich sogar zu einer Begegnung mit einzigartigen Dokumenten?

Einerseits behandelt Adorno in seinen Seminaren Themen, mit denen er sich sonst weder in seinen Schriften noch in seinen Vorlesungen besonders intensiv beschäftigt hat, beispielsweise wenn in aller Ausführlichkeit die Theorien von Karl Marx oder Max Weber besprochen und analysiert werden. Es gab sogar ein Seminar zu Schellings Weltalterphilosophie, einem Thema, das in Adornos Werk kaum eine Rolle spielt. Die Initiative zu dieser Lehrveranstaltung ging gewiss von Habermas aus, der ebenfalls an dem Seminar teilnahm und über Schelling promoviert hatte, bevor er Assistent Adornos wurde.

Was die Protokolle andererseits interessant macht, ist zugleich das, was den Umgang mit ihnen erschwert: Wir haben es mit einer ganz eigenen und neuen Art wissenschaftlicher Literatur zu tun. Ich vermute, dass die Protokolle rezipiert werden, weil ein Interesse an Kritischer Theorie im Allgemeinen und Adorno im Besondern besteht. Es mag noch andere Gründe geben, die selbstverständlich nicht minder legitim sind, etwa sich mit dieser Textform beschäftigen zu wollen oder Lehrforschung zu betreiben. Aber wenn ein Leser in der Erwartung zu den Protokollen greift, etwas über die Kritische Theorie in Erfahrung zu bringen, das es andernorts schlechterdings nicht gibt, dann wird er sich darauf einlassen müssen, einen Text vor sich zu haben, der nicht die Gewissheit geben kann, dass er vom Großmeister selbst abgesegnet ist.

Es gibt überhaupt keinen Zweifel daran, dass Adorno nichts mit der Publikation der Protokolle hätte anfangen können. Schon der Veröffentlichung seiner Vorlesungen hätte er sicherlich nicht zugestimmt. Es handelt sich bei der Edition also nicht um ein Werk im herkömmlichen Sinne, und damit stellt sich die Frage: Worum handelt es sich dann?

Ich würde das jetzt selbst gar nicht so gerne beantworten wollen, sondern ich fände es interessant und wünschenswert, dass eine Diskussion in Gang käme. Und die müsste dann natürlich darüber hinausgehen zu monieren, dass es sich bei den Protokollen nicht um ein Werk Adornos handelt. Stattdessen wäre zu fragen, was dieses Material spezifiziert, mit welcher Art von Texten wir konfrontiert sind, und ob es sich um ein eigenes, wissenschaftsliterarisches Genre handelt. Mich würde ganz grundsätzlich interessieren, ob es tatsächlich zu einer Rezeption der Protokolle kommt und sie eine eigene Wirkungsgeschichte im Kontext der Kritischen Theorie entfalten, oder ob es eine Kanonisierung gibt, die sich dagegen sperrt.

Ist Adorno, angenommen, diese Protokolle liefern die Grundlage für ein Urteil, ein guter akademischer Lehrer gewesen?

Ja, ich finde die Protokolle lassen schon durch ihre Existenz den Schluss darauf zu, dass er das war. Es ist doch alles andere als selbstverständlich, von Studierenden zu erwarten, was Adorno von ihnen erwartet hat: Dass sie in der Lage sind, den Verlauf einer Sitzung in einer Weise aufzunehmen und schriftlich wiederzugeben, die es gestattet, die angefertigten Protokolle buchstäblich zu einem Teil des Seminars zu machen, indem sie in der jeweils anschließenden Sitzung verlesen werden. Das lässt meines Erachtens darauf schließen, dass Adorno seine Studierenden sehr ernstgenommen und das Seminar als eine Art gemeinsames Vorhaben begriffen hat. Natürlich kann so ein Unterfangen scheitern oder der Erkenntnisgewinn am Ende nicht so groß sein wie erhofft. Allerdings bleibt es bei dieser Idee der gemeinschaftlichen Erschließung eines Themas, die dem klassischen Frontalunterricht natürlich diametral entgegensteht. Und so würde ich auch Adornos Lehrmethode beschreiben: sie beruht auf der Vorstellung, dass sich beim gemeinsamen Theoretisieren vermittelt, was eine Theorie auszeichnet.

Gibt es denn auch Themen, die wiederkehren? Variiert Adorno sein Lehrangebot?

Über die Hälfte der philosophischen Seminare behandeln Hegel und Kant. Das hängt sicherlich damit zusammen, dass wir über einen Zeitraum von zwanzig Jahren reden. Da muss jede neue Kohorte von Studierenden an die großen Themen und Fragen herangeführt werden, also sind Wiederholungen unvermeidlich.

Gehen wir noch einmal zurück in Ihre Werkstatt: Wie sehen Sie Ihre Rolle bei dem Projekt? Arbeiten Sie eher als Philosoph, als Historiker oder als Archivar?

Als Archivar würde ich mich in dieser Sache auf gar keinen Fall bezeichnen. Die Edition ist kein archivalisches Projekt, sondern ich benutze Archivmaterial als Forscher. Im Grunde ist meine Rolle die eines Herausgebers mit sozialphilosophischem Anspruch. Ich versuche, möglichst hinter dem Material zurückzutreten, was schwierig ist, etwa wenn man Anmerkungen anfügt, die natürlich immer subjektiv gefärbt sind. Jemand anderes würde wahrscheinlich doch einen anderen Anmerkungsapparat erstellen. Ganz grundsätzlich geht es mir darum, ein Stück Kritische Theorie zu veröffentlichen, und zwar als Editor: Ich mache Material zugänglich, das nicht mein eigenes ist und über das ich auch nicht herrschen möchte, sondern es einfach auf eine Weise darbieten, die Leserinnen und Lesern zeigt, worum es sich handelt, ohne dass sie andauernd andere Literatur konsultieren müssen.

Wie reagieren Sie auf den Vorwurf, Ihre Edition würde der Musealisierung der Kritischen Theorie zuarbeiten?

Gar nicht, denn er trifft mich nicht. Wenn die Kritische Theorie musealisiert wird, dann sicherlich nicht wegen meiner Protokolledition. Wer musealisieren will, soll das tun – und tut es ja auch, wie zuletzt anlässlich Adornos fünfzigstem Todestag zu beobachten war. Ich kann nur ein Angebot machen, und wenn es nicht auf Resonanz stößt, weil der Tenor lautet, es biete nichts Neues, dann ist das eben so. Das ist ja ein Problem, mit dem nicht nur Adorno oder Wissenschaftseditionen konfrontiert sind, sondern geisteswissenschaftliche Forschung generell. Selbst wenn ich ein Buch über Adorno schreibe, mit dem ich ganz gewiss eine Art Rezeptionslenkung intendiere – deshalb schreibe ich es ja –, habe ich keinerlei Einfluss darauf, was es auslöst, wie also die Leser und Leserinnen meine Arbeit aufnehmen und was sie mit ihr machen.

Natürlich bin ich dagegen, dass Adorno, seine Theorie oder die Kritische Theorie insgesamt verdinglicht und am Ende schlimmstenfalls als Coffee Table Book ästhetisiert werden. Aber da tut meiner Meinung nach Bescheidenheit not. Selbst wenn es passiert, müsste ich sagen, dass das außerhalb meines eigenen Einflusses als Herausgeber solcher Seminarprotokolle liegt.

Und was wäre Ihr, angesichts des gegenwärtigen Stands der Editionsarbeiten sicherlich noch vorläufiges, Fazit?

Mein vorläufiges Fazit lässt sich in dem bereits erwähnten Wunsch zusammenfassen, dass die Protokolle nicht als werkfremd abgekanzelt, sondern als ein wie auch immer geartetes Material der Kritischen Theorie anerkannt und studiert werden. Natürlich hat die Edition keinen Werkcharakter, und ohne den Namen Adornos wäre die Publikation der Protokolle undenkbar gewesen. Es hätte weder mein Interesse am Material gegeben, noch die Finanzierung des Projekts, noch die Erwartung, die Edition könnte bei einer potenziellen Leserschaft auf Interesse stoßen. Denn zwar handelt es sich ganz ohne Frage um Material aus der Kritischen Theorie, aber eben keines von Adorno. Vielleicht könnte man es Material mit Adorno nennen, doch selbst diese Kategorisierung halte ich für fraglich. Nur weil im Protokoll steht, „Herr Professor Adorno sagt das und das“, heißt das noch lange nicht, dass Adorno sich tatsächlich so geäußert hat.

Die Herausforderung besteht darin, mit dieser Unsicherheit umzugehen. Und meine Hoffnung wäre, dass sie nicht bloß editionsphilologische Fragen aufwirft, sondern auch zu Diskussionen über die Verfahrensweisen Kritischer Theorie führt. Und zwar insofern, als ich gerne die Annahme infrage gestellt sehen würde, dass Kritische Theorie gleich Adorno gleich Horkheimer gleich Frankfurter Institut für Sozialforschung ist. Da bestehen durchaus Unterschiede, die nicht verwischt werden sollten. Und wenn dann beispielsweise eine große deutsche Wochenzeitung fragt: "Warum bringt denn das IfS nichts über den neuen Autoritarismus? Offensichtlich weiß die Kritische Theorie darüber überhaupt nichts mehr zu sagen", dann ist das ein doppeltes, dreifaches, vielleicht sogar vierfaches Missverständnis. In Wahrheit hat die Kritische Theorie einiges zum gegenwärtigen Autoritarismus beizutragen. Man müsste also eigentlich zurückfragen, was eigentlich zur Kenntnis genommen wurde, um zu dem Schluss zu kommen, die Kritische Theorie habe zu diesem Thema nichts zu sagen.

Kritische Theorie, und das ist die Verdinglichung, gegen die ich mich wende, ist eben nicht das Institut für Sozialforschung, weder das Frankfurter noch das Hamburger, ist auch nicht Adorno und Horkheimer, bin nicht ich, sind nicht Sie. Und wie sie sich vollzieht, entwickelt und artikuliert, ist keine Frage, die zu beantworten ist, indem man sich den wissenschaftlichen Output des IfS oder sonst einer Institution anguckt.

Kritische Theorie existiert also immer nur im Vollzug?

Ich wüsste gar nicht wie sonst. Ich meine, hier im Regal stehen die blauen Bände, die Nachgelassenen Schriften Adornos. Die sind aber noch keine Kritische Theorie. Das sind Bücher. Das ist ein Unterschied.

  1. Dirk Braunstein, Adornos Kritik der politischen Ökonomie, Bielefeld 2011.
  2. Alex Demirović, Der nonkonformistische Intellektuelle. Die Entwicklung der Kritischen Theorie zur Frankfurter Schule, Frankfurt am Main 1999.
  3. Theodor W. Adorno, Philosophie und Soziologie, Nachgelassene Schriften IV: Vorlesungen, Bd. 6, herausgegeben von Dirk Braunstein, Berlin 2011.
  4. Dirk Braunstein, Autorschaft, Authentizität und Editionspraxis bei Seminarprotokollen. Viele Fragen und einige Antworten, in: Jörn Bohr (Hg.), Kolleghefte, Kollegnachschriften und Protokolle. Probleme und Aufgaben der philosophischen Edition. Berlin / Boston 2019, S. 167–177.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Martin Bauer.

Kategorien: Kritische Theorie

Dirk Braunstein

Dirk Braunstein ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Archivar am Institut für Sozialforschung in Frankfurt am Main. Jüngst erschien das Buch von Peter von Haselberg: Schuldgefühle. Postnazistische Mentalitäten in der frühen Bundesrepublik. Eine Studie aus dem Gruppenexperiment am Institut für Sozialforschung, das er gemeinsam mit Michael Becker und Fabian Link herausgegeben hat.

Alle Artikel

Hannah Schmidt-Ott

Hannah Schmidt-Ott ist Soziologin. Sie arbeitet am Hamburger Institut für Sozialforschung als Redakteurin der Zeitschrift Mittelweg 36 sowie des Internetportals Soziopolis.

Alle Artikel

PDF

Zur PDF-Datei dieses Artikels im Social Science Open Access Repository (SSOAR) der GESIS – Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften gelangen Sie hier.

Empfehlungen

Mario Wolf

Von der kritischen Theorie zur feministischen Kritik

Rezension zu „Geschlecht, Familie, Sexualität. Die Entwicklung der Kritischen Theorie aus der Perspektive sozialwissenschaftlicher Geschlechterforschung“ von Barbara Umrath

Artikel lesen

Tobias Albrecht

Mission Impossible?

Rezension zu „Kritische Theorie der Politik“ von Ulf Bohmann und Paul Sörensen (Hg.)

Artikel lesen

Sandra Sieron

Neue Konturen feministischer Kritischer Theorie

Rezension zu „Kritische Theorie und Feminismus“ von Karin Stögner und Alexandra Colligs (Hg.)

Artikel lesen

Newsletter