Hourya Bentouhami | Essay | 25.11.2021
Dem Leib verhaftet
Fanon im Lichte von Merleau-Pontys Phänomenologie
Maurice Merleau-Ponty interessiert sich in seiner Phänomenologie für den Eigenleib, der zugleich Ich und Mein ist, empfindliche Öffnung zur und Zugriff auf die Welt.[1] Frantz Fanon übernimmt diese beiden Dimensionen und integriert Merleau-Pontys Analyse des Körperschemas und Farbmaßstabs in seine Überlegungen zum Rassismus. So kann er verstehen, inwieweit rassifizierten Personen durch die Unsichtbarkeit oder umgekehrt durch die übermäßige Sichtbarkeit in der Gesellschaft ihr Zur-Welt-Sein entzogen wird. Damit übernimmt der aus Martinique stammende Philosoph nicht einfach nur Elemente der Phänomenologie, sondern verschiebt ihre Aussagen und ergänzt sie um seine eigenen Überlegungen zur sozialen und politischen Eigentümlichkeit der Hautfarbe.
Fanon wird oft im Zusammenhang mit Sartre oder dem existenzialistischen Zirkel insgesamt erwähnt,[2] teilweise auch in einem Atemzug mit den Philosophen der Négritude, deren poetische Werke Sartre als gemeinsamer „Freund“ in Schwarzer Orpheus bekannt gemacht hatte.[3] Diese beiden wichtigen Vorläufer (Existenzialismus, Négritude) bespricht, bearbeitet und kritisiert Fanon nicht nur, um herauszufinden, was das schwarze und allgemeiner das kolonisierte Bewusstsein ist, sondern er befasst sich auch mit dem Begriff des Körpers, den er als Psychiater in den Mittelpunkt seiner Überlegungen zur sozialen Konstruktion negativer Affekte wie des Selbsthasses und zur damit einhergehenden Zersetzung der Persönlichkeit stellt, die etwa in Form phobischer Verhaltensweisen auftreten kann.
In seinem ersten Werk von 1952, Schwarze Haut, weiße Masken,[4] misst Fanon dem Leib, wie ihn Merleau-Ponty in der Phänomenologie der Wahrnehmung[5] von 1945 beschreibt, große Bedeutung bei. Merleau-Ponty übt heftige Kritik am kartesianischen Leib-Seele-Dualismus und somit auch am intellektualistischen Verständnis von Pathologien, die angeblich mit der Selbst-, aber auch der Umweltwahrnehmung zu tun hätten. Die erste Zuschreibung einer phänomenologischen Verwandtschaft beruht darauf, dass Fanon sich einem Körper widmet, der nicht in Sartres Vorstellung vom lähmenden und versteinernden Blick des Anderen verhaftet bleibt, allerdings auch kein Objekt darstellt, das vom Intellekt rein mechanistisch als bloße räumliche Ausbreitung, partes extra partes, begriffen werden könnte, sondern einen Körper meint, der durch seine „Pathologisierung“ den Richtungs- und Orientierungssinn verliert. Fanons phänomenologisches Verständnis des Körpers beruht auf den negativen erlebten Erfahrungen, denen auch Merleau-Ponty in der Phänomenologie der Wahrnehmung Aufmerksamkeit zollt, indem er sich von den Experimenten inspirieren lässt, die Adhémar Gelb und Kurt Goldstein in ihren Arbeiten zur Psychopathologie und neurologischen Gestalttheorie (zur Aphasie oder „Seelenblindheit“, d. h. zur Anosognosie) beschreiben.[6]
Eine Phänomenologie, die sich psychopathologischen Phänomenen widmet und daher für den Leib interessiert, insbesondere für den zerstückelten, beschnittenen, amputierten Leib oder bloß den desorientierten Körper des Halluzinierenden, bildet wohl den theoretischen Hintergrund, vor dem Fanon seine eigenen Diagnosen stellt, etwa die des „Schmerzes ohne Krankheit“.[7] Fanon fragt sich, wie es zu einer Zerstörung der Persönlichkeit kommen kann, die sich in einer steifen Körperhaltung äußert, wie sie etwa durch Muskelkontraktionen herbeigeführt wird. Unterschwellig bedient er sich der Phänomenologie, um etwa die politische Vereinnahmung des Unbewussten zu kritisieren: In Algerien lehrte die Schule von Algier, deren Hauptvertreter Antoine Porot war, in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die „Kriminalität des Nordafrikaners“[8] als dessen Wesenseigenschaft. Demnach ließe sich der Verlust des Sinns für Raum und Zeit, der den Algerier melancholisch oder hysterisch mache, ausgehend von der Bildung eines wesensmäßig aggressiven Ich erklären. Angesichts derartiger kolonialistischer Interpretationen untersucht Fanon im „nordafrikanischen Syndrom“, wie der Algerier, den man mit „bicot, bougnoule, arabe, raton, sidi, mon z’ami“ beschimpfte, sein Schmerz selbst ist;[9] er ist in seinem Schmerz ganz „engagiert“, wie Merleau-Ponty sagen würde.
Der Blick fixiert sich selbst, statt dass er interesselos etwas fixiert, doch diese Fixierung hat nichts mehr mit dem Bestreben der Seele zu tun, das wahrgenommene Objekt auf Distanz zu halten, um sich bloß nicht mit ihm zu vermischen. Der Blick vertieft sich, durchdringt sein Objekt, um es in Stein zu verwandeln, sobald ihm ein anderes begegnet.
Mit anderen Worten kann Fanon mithilfe der Phänomenologie die Unabtrennbarkeit des Körpers von seinem Zur-Welt-Sein erklären, und damit auch die unmögliche Objektivierung der traumatischen Erlebnisse durch den körperlosen – und obendrein rassistischen – ärztlichen Blick, der die Ursachenfolge umkehrt. Wenn der Algerier „häufig“ und „mit Grausamkeit“ tötet, so erinnert Fanon daran, dass er dies nicht aufgrund eines phylogenetischen Imperativs tut, der seiner Anatomie eingeschrieben wäre wie ein „offensichtlich“[10] zu erkennender Schandfleck, sondern aufgrund von sozialen Pathologien in der Kolonialordnung, die den Bezug des Kolonisierten zur Welt verkümmern lassen, aus dem Leben ein bloßes Überleben machen und aus dem Mord die Möglichkeit dieses Überlebens.[11]
Seither muss man dem sezierenden ärztlichen Blick ausweichen und analysieren, was in ihm lähmend wirkt. Bei Sartre und Senghor spielt der sezierende Blick eine ebenso entscheidende Rolle wie bei Merleau-Ponty. Der Grund für dieses gemeinsame Interesse hat mit dem zu tun, was sich unmittelbar an ihn heftet. Der Blick fixiert sich selbst, statt dass er interesselos etwas fixiert, doch diese Fixierung hat nichts mehr mit dem Bestreben der Seele zu tun, das wahrgenommene Objekt auf Distanz zu halten, um sich bloß nicht mit ihm zu vermischen. Der Blick vertieft sich, durchdringt sein Objekt, um es in Stein zu verwandeln, sobald ihm ein anderes begegnet. Fanon beruft sich in seinen Analysen sowohl auf die phänomenologische Explikation des Sehens als auch auf die existenzialistische Theorie des Blicks, um zu beschreiben, wie er bei jenen, die auf ihre Hautfarbe reduziert werden, Körperhaltungen erstarren lässt und Glieder amputiert. Merleau-Ponty wiederum verfolgt mit seiner Phänomenologie die Absicht, das Originäre und Grundlegende der unteilbaren Wahrnehmung des eigenen Leibs und der zugehörigen Welt zu beleuchten, und inspiriert damit Fanons Verständnis von der Soziogenese des Rassismus, weil die mit der Versteinerung, aber auch mit der Einschränkung, der Muskelanspannung und der Verstümmelung einhergehenden negativen Erfahrungen der Empfindlichkeit des Leibes mit genau dieser Art von Phänomenologie gedacht werden können.
Es wird sich zeigen, dass Fanon aus der Notwendigkeit heraus, den erlebten Erfahrungen von Rassismus und Diskriminierung sowohl für Schwarze als auch für Araber gerecht zu werden, einen speziellen Gebrauch von der Phänomenologie macht, was ihn zu einer „häretischen“ Aneignung von Thesen zwingt, die er eher verzerrt, als dass er sie übernimmt. Diese eigensinnigen Aneignungen bereichern jedoch wiederum die Phänomenologie, wie eine Lektüre von Fanons Betrachtungen zu Hautfarbe und Hautfarbenpolitik zeigt, mit deren Hilfe sich das phänomenologische Konzept des Sichtbaren zu einer politischen Rassismuskritik erweitern lässt.
Eine phänomenologische Praxis
Der Philosoph aus Martinique achtet bei seiner Rezeption von Merleau-Ponty insbesondere auf dessen Ausführungen über die Räumlichkeit des Leibes, die Sprache und den Leib als geschlechtlich Seiendes. Fanon, der 1946 an der Universität Lyon Medizin studiert, steht unter dem direkten Einfluss des Phänomenologen, dessen Vorlesungen an der philosophischen Fakultät er besucht. Sicher ist, dass er die Phänomenologie der Wahrnehmung in Händen gehalten hat, denn er zitiert daraus – wenn auch nur ein einziges Mal.[12] In Schwarze Haut, weiße Masken findet sich auch die „Szene“ des nach einem Päckchen Zigaretten ausgestreckten Arms und nicht zuletzt lassen sich in Fanons Schreiben stilistische Merkmale von Merleau-Pontys Phänomenologie wiedererkennen, die sich auf die erlebte Erfahrung und insbesondere auf verstümmelte Lebenserfahrungen fokussiert. In den Verdammten dieser Erde liest man von einem erstickten Körper, der sich in einer „in Abteile getrennte[n] Welt“ bewegen muss.[13] Zuvor bereits, in Schwarze Haut, weiße Masken, taucht die Idee eines amputierten Körpers auf, entgliedert auch im Sinne einer Kastration. Umgekehrt kommt indirekt in den beiden Werken die Idee eines aufbegehrenden, tanzenden Körpers auf, der eins wird mit der Welt, die ihn umgibt.
Neben dieser „informellen“ Phänomenologie in prägnanter und lebendiger Sprache vertritt Fanon auch, ähnlich wie Merleau-Ponty, der dafür auf Goldstein zurückgreift, eine psychopathologische Ätiologie, um Phänomene neu zu definieren, die für gewöhnlich als psychische Fehler (Halluzinationen, psychotischer Wahn, Schizophrenie, Aphasie etc.) oder als somatische Störungen bezeichnet werden (etwa „Magengeschwüre“, „Nierenkoliken“, „Menstruationsstörungen“, „[p]aroxismale Tachykardien“).[14] Fanon selbst interpretiert sie als Muskelkrämpfe, die er auf die Weigerung des Kolonisierten zurückführt, sich der Kolonialmacht zu beugen. Insoweit er die sozialen und politischen Voraussetzungen der Pathogenese von Neurosen betont, misst er Phänomenen wie der Halluzination zwar nicht dieselbe Bedeutung bei wie Merleau-Ponty, doch stimmt er mit dessen Schlussfolgerung überein, dass die Halluzination nicht „falsche Wahrnehmung“, sondern Desorientierung des eigenen Leibes ist,[15] wenn sich die Frage stellt, wie es Wahrnehmung ohne das wahrgenommene Objekt geben kann. Das ist etwa der Fall, wenn der politisch engagierte Psychiater zusammenfassend Fälle von lokalen oder unspezifischen Zönästhopathien[16] bei gefolterten FLN-Mitgliedern beschreibt: „Kribbeln im Körper verspüren, den Eindruck haben, daß man ihnen die Hand ausreißt, daß ihnen der Kopf platzt, daß sie ihre eigene Zunge verschlucken.“[17]
Interessiert man sich für die Phänomenologie des Leibes bei Fanon und bringt man sie mit den Analysen Merleau-Pontys in Berührung, vollzieht man eine Verschiebung im Feld der Sichtbarkeit. Dem Psychiater aus Martinique geht es um das Sichtbare, das seine Tiefe in sich hat und keine Hinterwelt besitzt, sondern vielmehr einem Regime unterliegt, das nur nach einem gewissen Gesetz, einer gewissen Farbenordnung zutage treten kann: nach einer chromatischen Ordnung der obersten Hautschicht, der Epidermis, die das Auftreten in der Öffentlichkeit, die Bewegungen, die Stellungen des Leibes reguliert und dadurch in Abhängigkeit von der Hautfarbe die Erfahrung umkehrt, die wir mit unserem eigenen Leib machen.
Zwar mag David Macey zuzustimmen sein, dass Fanon kein ausgefeilter Phänomenologe sei,[18] da von ihm keine ausdrückliche Positionierung hinsichtlich der husserlschen phänomenologischen Tradition zu erwarten ist, doch er verwendet deren Grundbegriffe präzise, wenngleich umstandsbezogen und mithin wohl praxisnah, insoweit er den Rassismus und den Kolonialismus kritisiert. Wenn Fanon schreibt, dann übernimmt er tatsächlich nie einfach nur eine Theorie, er baut vielmehr die Prämissen nach, die das wissenschaftliche Feld strukturieren, aus dem er sich bedient, und stößt sie um. Fanon adaptiert auf diese Weise im Kapitel „Die erlebte Erfahrung des Schwarzen“ in Schwarze Haut, weiße Masken Merleau-Pontys Begriff der Lebenserfahrung als erlebte Erfahrung (beide: expérience vécue). Wahrscheinlich hat Fanon die Idee einer nicht-spekulativen Philosophie wohlwollend aufgenommen, die sich dem Erscheinen und vor allem der Konstitution der Phänomene (im etymologischen Wortsinne) sowie der Art und Weise widmet, wie diese Phänomene dem Bewusstsein als Erlebnisse (deutsch im Original) gegeben sind.
Wenn Husserls Losung lautete, „zu den Sachen selbst“ zurückzukehren, und die Reduktion (Epoché) der Operator war, der es dem Bewusstsein erlaubte, die Welt in ihrer unmittelbaren Realität zu begreifen, verwendet Fanon ebendiesen Operator, wobei er allerdings, wie wir sehen werden, eine Verschiebung vornimmt. Die Phänomenologie möchte bestimmen, wie es das An-sich für sich überhaupt geben kann. Daher wird insbesondere bei Merleau-Ponty die Analyse der Wahrnehmungsmechanismen paradigmatisch, um zu verstehen, dass das gesamte Bewusstsein Bewusstsein von etwas ist, weil der Akt des Wahrnehmens nicht mit dem Visieren eines imaginären Objekts durch das abbildende Bewusstsein zu verwechseln ist.
Mit anderen Worten: Jedes Bewusstsein ist intentional, visiert notwendig ein Objekt an, und die Intentionalität ist die primäre Struktur der Subjektivität – einschließlich der pathologischen Subjektivität. So wird verständlich, inwiefern sich die Phänomenologie der Psychologie nähert oder vielmehr in einem neuen Licht erscheinen lässt, was zuvor in der Psychologie als kausaler oder physiologischer Determinismus gegeben schien. Mit der Phänomenologie werden die menschlichen Taten doppelt beleuchtet, und diese doppelte Beleuchtung macht für Fanon die Hauptanziehungskraft der Phänomenologie aus. Die erste lässt einen Bruch mit dem reinen Physikalismus zu, indem man in Betracht zieht, dass jede menschliche Tat einen Sinn hat (zumal in diesem Punkt die Nähe zur freudschen Theorie deutlich und von Merleau-Ponty selbst betont wird).[19] Die zweite fokussiert sich darauf, wie wenig wir in unserem Körper der Kapitän sind, der sein Schiff steuert.
In seiner Spielart der Phänomenologie will Merleau-Ponty verstehen, wie es in der Wahrnehmung ein An-sich für sich geben kann, und mit den kategoriellen Rekonstruktionen der Intellektualisten ebenso brechen wie mit dem sogenannten empiristischen physiologischen Reduktionismus. Fanon hingegen verschiebt den Fokus dieser Fragestellung in Schwarze Haut, weiße Masken auf das Phänomen der Entfremdung in der erlebten Erfahrung des Schwarzen: Diese Erfahrung ist nicht als Selbsterfahrung zu lesen, sondern als Erfahrung für andere. Mit W. E. B. Du Bois bestimmt sie sich durch die „Rassentrennung“ (color line).[20]
Fanons phänomenologische Reduktion ist keine Reduktion mit einem theoretischen Ziel; sie beruht auf einer primären, ihrerseits ursprünglichen Tatsache, die sich bereits aus der historischen Faktizität ergibt, die auf die Strukturierung der Welt durch Logik und Sprache zurückgreift, einfach weil es für die von anderen konstituierten People of Color keine vorpolitische Vorwelt gibt: Die Reduktion ist der Effekt einer politischen Organisation der Welt und der Subjekte.
Fanon stellt sich also nicht die Frage, was Sehen ist, worin die Konsistenz des Blicks besteht oder wie die Abschattungen (deutsch im Original), die Umrisse und Profile, sich in einer harmonierenden Einheit der Wahrnehmung gründen, sondern was es bedeutet, im Leib getroffen zu werden von einem äußeren Blick, der einen nur durch das Prisma der Hautfarbe sieht. In anderen Worten läuft das Konstituieren eines philosophischen Problems bei Fanon auf jene phänomenologische Aussage hinaus, nach der jeder Gedanke situiert und verkörpert ist. Die Gedankenexperimente, die in der Philosophie im Allgemeinen als Tests verstanden werden und einen stillschweigenden Pakt, gewissermaßen ein intellektuelles Spiel enthalten, nach dem der Philosoph sich mit seinem Leser einigt, „so zu tun, als ob“ die Fantasie, der Mythos oder auch nur die Hypothese real wären, werden schlicht zu Erfahrungen, deren Subjekte und Objekte zusammenfallen.
Die negative Erfahrung der Enteignung (dépossession) und der Verletzung ist also nicht rein epistemisch oder theoretisch, das sogenannte schwarze Problem soll nicht intellektuell oder philosophisch betrachtet werden. Vielmehr ist mit Du Bois zu fragen, wie es sich anfühlt, ein Problem zu sein.[21] Die Reduktion (Epoché), von der Fanon spricht, ist keine Reduktion mit einem theoretischen Ziel; sie beruht auf einer primären, ihrerseits ursprünglichen Tatsache, die sich bereits aus der historischen Faktizität ergibt, die auf die Strukturierung der Welt durch Logik und Sprache zurückgreift, einfach weil es für die von anderen konstituierten People of Color keine vorpolitische Vorwelt gibt: Die Reduktion ist der Effekt einer politischen Organisation der Welt und der Subjekte. Die Reduktion, bei Husserl oder Merleau-Ponty eine Ausblendung der Faktizität der Welt, führt in der kolonialen Realität in die Irre, denn sie verschafft den Beherrschten of Color (nach Fanon Schwarze oder Araber) keinen Zugriff auf ein reines Ich, sondern beteiligt sich an einer Trübung der Subjektivität. Reduktion bedeutet insofern nur einen intellektuellen Akt des „Einklammerns“, um die Pathologien besser fassen zu können, die mit dem Weltentzug (dem erzwungenen Akosmismus), der Verschlechterung der erlebten Erfahrung und der Unmöglichkeit einhergehen, seinen Körper, sein Haus, sein Land als eine Art „Heimat“ zu bewohnen.
Diese psychopathologische Dimension ist entscheidend, um nachzuvollziehen, warum sich Fanon für Merleau-Pontys Vorlesungen interessiert: Die phänomenologische Reduktion – verstanden als Weltentzug, nicht als Ausblendung der Welt, demnach ganz und gar nicht im husserlschen Sinne – erlebt sich selbst auf der Ebene des Fleisches (chair). Aufgrund dieser Verankerung im Fleisch etwa – diese Begrifflichkeiten verwendet Merleau-Ponty noch nicht in der Phänomenologie der Wahrnehmung, aber er deutet sie bereits an – ist es schwer, eine negative Erfahrung experimentell an der Stelle von jenen zu erleben, die wirklich vital in diese Erfahrung verstrickt sind. Aus dieser Perspektive sind Merleau-Pontys ironische Äußerungen zu Philosophen zu verstehen, die Meskalin nehmen, um zu begreifen, was es heißt, ein Halluzinierender zu sein. Das Experiment des Intellektuellen unter Meskalineinfluss führt zu einer Loslösung des Geistes vom Körper, um diesem zu entkommen; er erfährt seine Halluzination also gerade nicht als einen Akt des Hineingepresstwerdens in den Körper, der Verhaftung in ihm, wie es beim Kranken der Fall ist.[22] Für Fanon ist die gelebte Erfahrung des Schwarzen im feindlichen Umfeld wie die eines Kranken, eines Phobikers: Etwas entzieht sich der Austauschbarkeit, das nicht die color line überschreiten kann, ein Weißer kann also nicht verstehen, was es bedeutet, schwarz zu sein, ganz wie der Gesunde nicht im Körper des Kranken sein kann, indem er auf psychotrope Stoffe zurückgreift. Diese Spezifizität der Erfahrung ist kein Essenzialismus, nach dem die Schwarzen Dinge spüren könnten, die Weiße nicht zu verstehen vermöchten. Im Gegenteil beruht sie auf materiellen historischen Gegebenheiten, auf der Organisation der sozialen Verhältnisse in Abhängigkeit von der color line, auf die wir uns bei Du Bois bezogen haben. Sie beruht, anders gesagt, auf einer sozialen und politischen Ordnung, die durch die chromatische Ordnung der Hautoberflächen im Feld der öffentlichen Sichtbarkeit bestimmt wird.
Die erlebte Erfahrung im Prisma der Hautfarbe
Einer der Gründe, die Fanons Rezeption von Merleau-Pontys Phänomenologie motivieren, wenngleich sie sich nur sporadisch und nur ein einziges Mal als Zitat zeigt, liegt, so könnte man meinen, in deren schwerpunktmäßiger Betrachtung der Mechanismen der Farbwahrnehmung,[23] mit dem wesentlichen Unterschied, dass die Hautfarbe bei Fanon eine andere Dimension annimmt als bei seinem Vorläufer. Sie hat eine soziale Dichte, die es dem Psychiater verbietet, sich mit den Phänomenen des Sehens aus einem unbeteiligten geisteswissenschaftlichen Blickpunkt zu befassen, so engagiert – im Sinne Merleau-Pontys – dieser auch sein mag. Folglich stellt sich nicht mehr die Frage, was Fanon Merleau-Ponty zu verdanken hat, sondern was Fanons Philosophie mit dessen Phänomenologie anstellt, welche Verschiebungen sie vornimmt, um ihre politischen Dimensionen im Bereich des Rassismus vertiefen zu können.
Die Farben lassen sich nicht von den Dingen trennen, die ihnen Form verleihen. Fanon spürt bis in sein eigenes Fleisch, dass die Schwarze Hautfarbe Haltungen hervorbringt, die die weiße Farbe nicht hervorbringt.
Bei Merleau-Ponty ist also Farbe Fleisch – auch wenn er, wie bereits erwähnt, in der Phänomenologie der Wahrnehmung noch nicht ausdrücklich von Fleisch (chair) spricht –, und zwar insofern Fleisch auch als Textur, als Tiefe der Oberfläche verstanden wird, insofern es zum Berühren, Betasten, Spüren einlädt. Merleau-Ponty stellt treffend fest, dass die Farbe nicht nur von den Formen, sondern auch von der Textur nicht zu trennen ist: Wie soll man sich ein Violett vorstellen, das keine samtene Beschaffenheit hätte, ein Blau, das kein wolliges Blau wäre?[24] Wenn Fanon sich jedoch für die Hautfarbe interessiert, sind Textur und Berührung nicht als Berufung auf eine ästhetische Empfindsamkeit zu verstehen, anders als bei Merleau-Ponty, der von Cézannes Blau spricht oder vom Flaschengrün in dessen Gemälden (was der Ästhetisierung der Farbe bei den Schriftstellern der Négritude, insbesondere bei Senghor, näher käme). Es geht vielmehr um eine phänomenologische Annäherung an das Schwarz der Haut, das verwandt ist mit dem, was Merleau-Ponty von den Farben und ihrer Zugehörigkeit zu „Verhaltungen“ (conduites) sagt.[25] Demnach bringen Farben ganz allgemein gesprochen Haltungen und Verhaltensweisen hervor. Sie haben eine lebensweltliche Dimension.
Die Farben, von denen Merleau-Ponty in diesem Abschnitt spricht, lassen sich zwar nicht von den Dingen trennen, die ihnen Form verleihen, und sie gehören nicht zu einem Menschen aus Fleisch, doch mit seiner von der induktiven Psychologie abgeleiteten Typologie lässt sich verstehen, was in der Farbe nicht reine Qualität oder Quantität der Konzentration von Pigmenten ist, sondern eine Art Maßstab (étalon) und damit der stets variable Grad meines Zur-Welt-Seins.[26] Fanon spürt bis in sein eigenes Fleisch, dass die Schwarze Hautfarbe Haltungen hervorbringt, die die weiße Farbe nicht hervorbringt. Die Schwarze Hautfarbe ist auffällig und bietet Anlass zu indirekten Pöbeleien: „Sieh mal, ein Neger“, sagt das Kind zu seiner Mutter in den Straßen von Lyon, während es mit dem Finger auf Fanon zeigt.[27] Der Schwarzen Haut wird in der chromatischen Ordnung der Epidermen, die dem Rassifizierungsregime der Menschen unterliegen, Undurchdringlichkeit zugewiesen, während die weiße Haut angeblich durchsichtig oder leuchtend ist.
Wenn es eine „motorische Bedeutung der Farben“[28] gibt, dann laut Merleau-Ponty nicht aufgrund einer Unterscheidung zwischen der Farbempfindung und der motorischen Reaktion, sondern aufgrund einer gewissen Art des Zur-Welt-Seins. Man könnte nun Fanons Diagnose in Merleau-Pontys Worten formulieren: „Ich bin so zur Welt, dass sich der farbenordnende Blick in der von ihm fixierten Realität verankert und bereits eine bestimmte mögliche Haltung meines Leibes als Betrachtender und des Leibes des Anderen als Betrachteten voraussetzt.“ Die Verankerung, von der Merleau-Ponty spricht, ist offensichtlich eine Form des Nebeneinanders, während der Blick, von dem Fanon spricht, ein sezierender ist, der zwar kein „wissenschaftlicher“ sein mag, aber der Blick eines Weißen, der sein Weißsein wie ein Feuer trägt, das einem die Haut verbrennt und im wahrsten Sinne des Wortes anstarrt: „Das viele Weiß, das mich ausbrennt …“.[29]
Die brennende Farbe geht über das bloße Spüren eines „Blicks im Nacken“ hinaus, von dem Merleau-Ponty spricht, um zu verstehen, was ein Wahrnehmungshorizont ist. Stattdessen entspricht das Starren eher dem Blick, der die Haut seziert, den Körper parzelliert und träge macht. Merleau-Ponty erwähnt das Starren, um zu erklären, dass man einen ordentlichen Abstand wahren muss, bevor man die Dinge und die Menschen so wahrnimmt, dass alles seinen richtigen Platz im Sichtbarkeitsfeld einnimmt (was Fanon wiederum übernimmt):
„Wie für jedes Bild in einer Gemäldegalerie gibt es für einen jeden Gegenstand eine optimale Entfernung, aus der er gesehen werden will, und eine Orientierung, in der er mehr von sich sehen läßt als in jeder anderen: diesseits und jenseits dieser Entfernung und außerhalb dieser Orientierung bleibt die Wahrnehmung infolge eines Zuviel oder Zuwenig konfus, bleiben wir gespannt auf das Maximum der Sichtbarkeit hin und suchen wir, wie beim Mikroskop, eine bessere Einstellung, die sich gründet auf ein gewisses Gleichgewicht von Innen- und Außenhorizont: Ein lebendiger Körper etwa, aus zu großer Nähe und ohne Hintergrund gesehen, von dem er sich abhebt, ist kein lebendiger Körper mehr, sondern eine materielle Masse, seltsam wie eine Mondlandschaft, wie z. B. wenn man ein Stück Haut unter der Lupe betrachtet; aus zu großer Entfernung gesehen, verliert der Körper ebenfalls seine Lebendigkeit, wird zur Puppe oder zum Automaten.“[30]
Diese optimale Entfernung für den humanisierenden Blick, wie ihn Merleau-Ponty beschreibt, wird bei Fanon in der kolonisierten Welt, wo die Abstände fehlen, wo Beengtheit herrscht, ausgelöscht. Aufgrund des fehlenden Horizonts und des ausgeprägten Gefühls, immer einen Blick im Nacken zu haben, sind die „Träume des Eingeborenen Muskelträume, Aktionsträume, aggressive Träume“,[31] um Befriedigung und Lockerung zu erlangen. Und in der Metropole fixiert sich nun der weiße Blick auf den Schwarzen, löscht seine Unebenheiten aus und macht ihn unsichtbar. Wenn er ihn aber aus dem Schatten holt, dann setzt er ihn einem grellen Licht aus, das aus ihm ein Spektakel macht, ihn reifiziert, zu einer Sache unter Sachen werden lässt, sodass „der andere […] mich durch Gesten, Verhaltensweisen, Blicke [fixiert], so wie man ein Präparat mit Farbstoff fixiert“.[32] Auf diese Weise wird hier die Räumlichkeit des Leibes verneint, die theoretisch, wie Merleau-Ponty sagte, nicht mit einer Stellung im Raum verwechselt werden dürfte: Der Körper hat normalerweise eine Situationsräumlichkeit, wo die Dinge, die äußeren Gegenstände, eine Positionsräumlichkeit haben.[33] Die Fixierung in einer Position erfolgt nach Fanons metaphorischer Formel durch Färbung, insofern der Schwarze sich erst inmitten von Weißen als ein solcher begreifen muss und mit seiner Hautfarbe bezeichnet wird. Diese Färbung ist jedoch nicht rein metaphorisch, denn Fanon erwähnt im selben Kapitel die pharmazeutische Forschung, die Mittel zum Bleichen der Haut herstellt und nach dem von ihm so bezeichneten „Serum[…] zur Entnegrifizierung“ sucht.[34] Der fixierende Blick zeigt mit dem Finger und lässt erstarren, sodass die Kinästhesie, auf die sich Merleau-Ponty bezieht, um die untrennbare Verbindung von Sehen und Berühren zu verstehen, hier auf Praktiken der Stigmatisierung verweist.
Merleau-Pontys Phänomenologie bietet Fanon also einen Rahmen, in den er die Spezifizität eines Alltagsrassismus fassen kann, der die gewöhnlichsten Verhaltensweisen und Neigungen prägt, etwa das Spazieren in der Stadt („Schau nur, er ist schön, dieser Neger …“),[35] das Zugfahren, das Gespräch unter Freunden, den Smalltalk beim Abendessen oder den Arztbesuch. Zugleich vermittelt Fanon der Phänomenologie einen neuen Anwendungsbereich, indem er ihr eine politische Ausrichtung verleiht und sie Fragen von race aufwerfen lässt.
Auf welche Alltagserfahrung bei Merleau-Ponty bezieht sich Fanon? In der Phänomenologie der Wahrnehmung gibt es viele Beispiele, die auch Fanon analysiert: die Reise im Zug, die Stadt, der man sich nähert, der Griff nach dem Zigarettenpäckchen. Einige Thesen von Merleau-Ponty werden mit Sartres Verständnis vom Blick in Das Sein und das Nichts vermengt, von dem Fanon vermutlich die berühmte Passage von der vulgären Geste kennt, die von einem zudringlichen Blick beobachtet wird. Diese Thesen tauchen in einigen klaren Passagen auf, auch wenn sie verknappt wurden. Mit ihnen wird die Gleichursprünglichkeit von Welt und Leib in nichtpathologischen Erfahrungen gezeigt, um dann zu erörtern, worin die Amputation dieser Gleichursprünglichkeit besteht:
„In der weißen Welt stößt der Farbige auf Schwierigkeiten bei der Herausbildung seines Körperschemas. Die Erkenntnis des Körpers ist eine rein negierende Tätigkeit. Eine Erkenntnis in der dritten Person. Rings um den Körper herrscht eine Atmosphäre sicherer Unsicherheit. Ich weiß: wenn ich rauchen möchte, muß ich den rechten Arm ausstrecken und nach dem Päckchen Zigaretten greifen, das am anderen Ende des Tisches liegt. Die Streichhölzer dagegen sind in der linken Schublade, ich muß mich etwas zurücklehnen. Und alle diese Gesten mache ich nicht aus Gewohnheit, sondern aufgrund einer stillschweigenden Erkenntnis. Langsamer Aufbau meines Ichs als Körper innerhalb einer räumlichen und zeitlichen Welt, dies scheint das Schema zu sein.“[36]
Hier finden sich mehrere der großen Thesen von Merleau-Ponty in konzentrierter Form: zunächst die vom Körperschema, nach dem der Körper wahrnimmt und sich bewegt, unteilbar, integriert und dynamisch, nicht mechanisch wie eine bloßes Organgelenk.[37] Die „Erkenntnis in der dritten Person“, von der Fanon spricht, könnte sich implizit auf Merleau-Pontys Idee beziehen, dass weniger das Ich wahrnimmt als ein Man:
„Wollte ich infolgedessen die Wahrnehmungserfahrung in aller Strenge zum Ausdruck bringen, so müßte ich sagen, daß man in mir wahrnimmt, nicht, daß ich wahrnehme. Jede Empfindung trägt in sich den Keim eines Traumes und einer Entpersönlichung: wir erleben es an dem Betäubungszustand, in den wir geraten, wenn wir uns gänzlich einem Empfinden überlassen.“[38]
An dieser Stelle übernimmt Fanon von Merleau-Ponty den Gedanken einer impliziten Erkenntnis des Leibes, für den die freien Bewegungen wie eine Melodie sind, die das alltägliche Leben bietet, nicht „das Ergebnis mühsam zusammengesetzter Teilbewegungen“.[39]
Problematisch wird es für den Schwarzen genau dann, wenn sein Körperschema zerstückelt wird und der Körper desorientiert ist („Wo mich situieren? Oder wenn ihr lieber wollt: wo mich verkriechen?“).[40] Dieser Verlust von raumzeitlichen Bezugspunkten tritt beim Beherrschten auf, wenn der Rassismus in alltäglichen Gesprächen naturalisiert ist oder man so tut, als wäre die Person of Color nicht anwesend. Es kommt zu Ekel, der bei dem für Gleichgewichtsverlust sorgt, der dachte, „den Raum ins Gleichgewicht [gebracht]“, „Empfindungen lokalisier[t]“ zu haben.[41] Doch das Unwohlsein geht über den Ekel hinaus und wird morbid. Die Morbidität offenbart bei Merleau-Ponty bekanntlich die normalen Funktionsweisen des Leibes und soll die abstrakten Ansätze der Motorik theoretisch kritisieren, denn die Bewegungen des Leibs sind wie ein Ganzes auf den eigenen Leib orientiert und in ihn integriert, wie es der Fall des „Phantomglieds“[42] zeigt, das der Amputierte tatsächlich spürt und das keine bloße Erinnerung ist.
Die Entpersönlichung, auf die sich Fanon hier bezieht, gleicht keinem Traum, gleicht nicht jener nahezu sinnlichen Verhaftung des wahrnehmenden Bewusstseins in schillernden Farben, wo noch keine Figuren stabilisiert, wo die Horizonte noch offen sind. Die Entpersönlichung entspricht eher dem, was Merleau-Ponty bei Halluzinierenden oder Schizophrenen beschreibt, und hängt eng mit dem zusammen, was Fanon über die erniedrigende Erfahrung von race sagt.
Bei Fanon wird die Morbidität gelebt und gehört zum Leben der Person of Color, die man ausgrenzt oder versteinert, indem man sie auf ihre Hautfarbe, auf ihren minderwertigen Status verweist. Der Körper ist dann „desorientiert […], außerstande, […] draußen zu sein“, er kehrt „ausgewalzt, zerteilt, geflickt […], ganz in Trauer“ zurück,[43] was sowohl den Eigenschaften des Melancholikers als auch des Amputierten entspricht. Der Körper ist in alle seine Einzelteile zersprungen und durch diese Zerstückelung verengt. Er wird nicht mehr, wie Merleau-Ponty sagte, in der dritten Person erkannt, sondern ist ein zerlegter Körper, reduziert auf eine Existenz partes extra partes, was für Fanon sozusagen die theoretische Unzulänglichkeit des Körperschemas bedeutet, um die erniedrigende Erfahrung von race zu beschreiben:
„‚Mama, schau doch, der Neger da, ich habʼ Angst!‘ Angst! Angst! Man fing also an, sich vor mir zu fürchten. Ich wollte mich amüsieren, bis zum Ersticken, doch das war mir unmöglich geworden. […] Und das Körperschema, an mehreren Stellen angegriffen, brach zusammen und machte einem epidermischen Rassenschema Platz. In der Eisenbahn ging es nicht mehr um eine Erkenntnis meines Körpers in der dritten Person, sondern in der dreifachen Person. In der Eisenbahn überließ man mir nicht einen, sondern zwei, drei Plätze. Schon amüsierte ich mich nicht mehr. Ich entdeckte keine fiebernden Koordinaten der Welt. Ich existierte dreifach: ich nahm Platz ein.“[44]
Die Entpersönlichung, auf die sich Fanon hier bezieht, gleicht keinem Traum, gleicht nicht jener nahezu sinnlichen Verhaftung des wahrnehmenden Bewusstseins in schillernden Farben, wo noch keine Figuren stabilisiert, wo die Horizonte noch offen sind. Die Entpersönlichung entspricht eher dem, was Merleau-Ponty bei Halluzinierenden oder Schizophrenen beschreibt. Sie hängt eng mit dem zusammen, was Fanon über die erniedrigende Erfahrung von race sagt. Wenn Fanon dem Körperschema die theoretische Stichhaltigkeit abspricht, ist dies nicht in allen Punkten begründet, doch immerhin insofern Merleau-Ponty von Kranken spricht, während das einzige Symptom der People of Color ihre „pathologisierte“ Hautfarbe ist.
„Die Entpersönlichung und die Störung des Körperschemas schlagen sich unmittelbar in einem äußeren Phantasma nieder, da es für uns ein und dasselbe ist, unseren Leib und unsere Situation in einer bestimmten physischen und humanen Umwelt wahrzunehmen, da unser Leib nichts anderes als diese Situation selbst als wirkliche und verwirklichte ist.“[45]
Fanon würde dieser Erklärung des pathologischen Phänomens (Entpersönlichung durch „äußeres Phantasma“) insoweit zustimmen, als Rassismus pathologisierend ist. Somit lassen sich die meisten negativen Erfahrungen, die Fanon in seinen Werken ausgehend von Merleau-Pontys pathologischen Fällen vorbringt, im Rahmen einer auf race bezogenen Soziogenese fassen, und im Gegenzug wird die phänomenologische Methode in dieser Dimension beleuchtet und verdichtet sich. Die Episode des fehlenden Glieds oder des Phantomglieds kann Fanon also gewinnbringend lesen und ausgehend von der rassistischen Vorstellungswelt, die laut Fanon von der Kastration schwarzer Männer träumt, in einen Diskurs über race einbringen.[46] Merleau-Pontys Äußerungen zur Aphasie oder zur Aphonie weisen Parallelen zu Fanons Aussagen über die verbalen Stereotypen oder das Kapitel zum Schwarzen und der Sprache auf.
Für Fanon ist Sprechen nicht nur ein mechanisches Zusammenbringen von Worten. Wer seinen Leib unauthentisch macht, ihn wie eine Kriegsmaschine gegen sich selbst in Stellung bringt, dem gelingt am Ende nur ein lächerliches phonetisches Holpern. Der Affekt, mit dem sich die Worte aufladen, ist nicht Ausdruck einer reinen Innerlichkeit, er entspricht eher einer Veränderung meines Bezugs zu den anderen und zur Welt.
Merleau-Ponty erinnert daran, dass der Aphasiker „nicht ein[en] bestimmte[n] Wortvorrat, sondern eine bestimmte Weise, sich dieses ‚Vorrats‘ zu bedienen“, verloren hat.[47] Gegen den intellektualistischen Ansatz, nach dem Sprache bloß eine Subsumtion in Kategorien ist, eine stimmige Paarung von „Individuen“ und abstrakten Kategorien also, und gegen den empirischen Ansatz, demgemäß die Sprache unter dem Vorzeichen der mechanischen Kausalität über Sinneserregungen zu verstehen wäre, die von einem Objekt oder Bild hervorgerufen würden, stellt Merleau-Ponty die den Worten innewohnende Dichte und die Affektivität der Sprache in den Vordergrund, die nicht als Spiegel einer Innerlichkeit zu verstehen ist, sondern als wirklicher Sinn. Was bedeutet es, dass das Wort bei Fanon Sinn ist, wenn er wiedergeben möchte, wie die entfremdeten Schwarzen sich in der französischen Sprache verstricken und dabei Sprechakte hervorbringen, die in einer „fehlerhaften“ Diktion münden? Die Bedeutung des Akzents wird im Kapitel „Der Schwarze und die Sprache“ unter dem Gesichtspunkt einer phobischen Haltung analysiert, die bei demjenigen entsteht, der Angst hat, seine martinikanische Herkunft zu verraten, wenn er die „r“-Laute „verschluckt“ und, nachdem er übermäßig sorgfältig all seine Kraft in das erste „r“ seines Ausrufs gelegt hat, die nachfolgenden „r“-Laute wieder nicht ausspricht: „Garrrçon! un vè de biè.“[48]
Fanon hatte sein Kapitel damit eingeleitet, dass die Sprachanalyse für das Verständnis der „Dimension für-den-anderen des farbigen Menschen“ hilfreich wäre. Davon zeugt diese Stelle mit dem Kellner, die einer Szene bei Sartre ähnelt und eine unauthentische Haltung beschreiben soll. Für Fanon ist Sprechen also nicht nur ein mechanisches Zusammenbringen von Worten. Wer seinen Leib unauthentisch macht, ihn wie eine Kriegsmaschine gegen sich selbst in Stellung bringt, dem gelingt am Ende nur ein lächerliches phonetisches Holpern. Der Affekt, mit dem sich die Worte aufladen, ist nicht Ausdruck einer reinen Innerlichkeit, noch weniger, wenn diese Worte ein unauthentisches Selbstbild bedienen; er entspricht eher einer Veränderung meines Bezugs zu den anderen und zur Welt, wie Merleau-Ponty sagte. Aus diesem Grund entsprach für ihn etwa der Sinn des Zorns einer Lebensfunktion, einer Einstellung, die sowohl Haltung in der Welt als auch Bedeutung dieser Einstellung zur Welt ist. Fanon hingegen beleuchtet diese phänomenologischen Behauptungen, indem er sie durch das Sieb des „gespaltenen Bewusstseins“ passiert, der zersplitterten Persönlichkeit, die dadurch zustande kommt, dass man sich in den Augen eines anderen sieht, der sein eigenes Regime von Sichtbarkeit durchsetzt.
Fanons Methode beruht folglich nicht auf einer strengen Phänomenologie, wenn darunter lediglich ein epistemologisches Feld zu verstehen ist, das sich in der philosophischen Tradition als eine neue Art zu „sehen“ und unser Zur-Welt-Sein wahrzunehmen durchsetzen wollte, indem es sämtliche epistemischen Grundlagen, auf denen es gründet, neu definiert. Fanon verschiebt vielmehr die Vorannahmen einer solchen Phänomenologie und verleiht ihnen eine neue Dichte, indem er sie in das „epidermische Rassenschema“ integriert, ohne sich darum zu sorgen, ihren Konzepten eine unzweifelhafte epistemologische Grundlage zu geben. Diese Konzepte sind insoweit ihrerseits reflexiv, als sie praxisbezogen sind und mit ihnen zu verstehen ist, was im Denken untrennbar mit dem Leib und unserer Stellung in der Welt verbunden ist. Fanons Text stützt sich also tatsächlich auf die Phänomenologie, wenngleich sporadisch und ohne eine klar erkennbare Struktur der textlichen Bezugnahme. Doch umgekehrt ist auch für die Rezeption der Phänomenologie, insbesondere der von Merleau-Ponty, eine Gegenüberstellung mit Fanons Analysen fruchtbar. Es entsteht ein Reflexionsraum, in dem die beiden Werke durch ihre wechselseitige Spiegelung an existenzieller Dichte gewinnen.
Aus dem Französischen von André Hansen.
Fußnoten
- [Anm. d. Red.: Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um eine Übersetzung von: Hourya Bentouhami, L’Emprise du Corps. Fanon à l’aune de la phénoménologie de Merleau-Ponty, in: Cahiers Philosophiques 138 (2014), 3, S. 34–46. Wir danken der Autorin und der Zeittschrift für die freundliche Genehmigung der Veröffentlichung.]
- Lewis R. Gordon, Fanon and the Crisis of European Man, New York 1995; ders., Sartre et l’existentialisme noir, in: Cités 22 (2005), Sartre à l’épreuve, S. 89–97.
- Jean-Paul Sartre, Schwarzer Orpheus. Vorwort zu: Léopold Sédar Senghor (Hg.), Anthologie de la nouvelle poésie nègre et malgache de langue française, übers. von Traugott König, in: ders.: Schwarze und weiße Literatur. Aufsätze zur Literatur. 1946–1969, Reinbek 1984, S. 39–85.
- Frantz Fanon, Schwarze Haut, weiße Masken, übers. von Eva Moldenhauer, Frankfurt am Main 1985.
- Maurice Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, übers. von Rudolf Boehm, Berlin 1966.
- Vgl. Adhémar Gelb / Kurt Goldstein, Über den Einfluß des vollständigen Verlustes des optischen Vorstellungsvermögens auf das taktile Erkennen, in: dies. (Hg.), Psychologische Analysen hirnpathologischer Fälle, Leipzig 1920, S. 157–250.
- Frantz Fanon, Das „nordafrikanische Syndrom“, in: ders., Für eine afrikanische Revolution, übers. von Einar Schlereth, Frankfurt am Main 1972, S. 12–26, hier S. 16.
- Frantz Fanon, Von der Kriminalität des Nordafrikaners zum Nationalen Befreiungskrieg, in: ders., Die Verdammten dieser Erde, übers. von Traugott König, Frankfurt am Main 1966, S. 226–238.
- Fanon, Das „nordafrikanische Syndrom“, S. 13. Schreibweise angepasst.
- Fanon, Von der Kriminalität des Nordafrikaners zum Nationalen Befreiungskrieg, S. 228 ff.
- Fanon, Die Verdammten dieser Erde, S. 237: „In einer Atmosphäre der Unterdrückung wie der von Algerien heißt leben nicht mehr Werte verkörpern oder sich in die zusammenhängende und fruchtbare Entwicklung einer Welt einfügen. Leben heißt hier nur: nicht sterben. Existieren heißt: das Leben erhalten.“
- Fanon, Schwarze Haut, weiße Masken, S. 160: „[F]ür ein Wesen, das zum Bewußtsein seiner selbst und seines Körpers, zur Dialektik von Subjekt und Objekt gelangt ist, ist der Körper nicht mehr Ursache für die Struktur des Bewußtseins; er ist zum Objekt des Bewußtseins geworden.“
- Fanon, Die Verdammten dieser Erde, S. 29.
- Ebd., S. 224 f.
- Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 387.
- [Anm. d. Red.: Zönästhopathien sind Störungen der Leibempfindung. Die zönasthopathische Schizophrenie beschreibt laut ICD 10 (F20.8) eine Erkrankung, bei der ein leibliches Beeinflussungserleben (z. B. Gefühl eines Fremdkörpers in Kopf und Eingeweiden, Empfinden von Hitze und Kälte) im Zentrum steht. Dabei kann es auch zu Wahn, Halluzinationen oder Ich-Störungen kommen.]
- Fanon, Die Verdammten dieser Erde, S. 217 f.
- Diese Bemerkung stammt von David Macey, Autor der bisher ausführlichsten Biografie von Frantz Fanon. Vgl. Macey, Fanon, Phenomenology, Race, in: Radical Philosoph 95 (1999), S. 11.
- Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 199 ff.
- Der Ausdruck stammt vom amerikanischen Soziologen und Aktivisten William Edward Burghardt Du Bois, der sie in allen seinen Schriften verwendet, um von der sozialen, ökonomischen und politischen Hervorbringung der Unterschiede in Bezug auf race zu sprechen. Siehe W. E. B. Du Bois, Die Seelen der Schwarzen (1903), aus dem Englischen von Jürgen und Barbara Meyer-Wendt, Freiburg 2008, S. 31.
- Ebd., S. 34.
- Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 389.
- Ebd., S. 352–363.
- Maurice Merleau-Ponty, Sinn und Nicht-Sinn, übers. von Hans-Dieter Gondek, München 2000, S. 69.
- Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 246.
- Ebd., S. 247.
- Fanon, Schwarze Haut, weiße Masken, S. 79.
- Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 247.
- Fanon, Schwarze Haut, weiße Masken, S. 83.
- Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 350–351.
- Fanon, Die Verdammten dieser Erde, S. 40.
- Fanon, Schwarze Haut, weiße Masken, S. 79.
- Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 125.
- Fanon, Schwarze Haut, weiße Masken, S. 80.
- Ebd., S. 83.
- Ebd., S. 80.
- Merleau-Ponty, Die Räumlichkeit des eigenen Leibes und die Motorik, in: ders., Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 123–184. Fanon zitiert Jean Lhermitte, von dem Merleau-Ponty den Begriff des Körperschemas übernommen hat: Lhermitte, L’image de notre corps, Paris 1939.
- Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 253.
- Ebd., S. 130.
- Fanon, Schwarze Haut, weiße Masken, S. 82.
- Ebd., S. 81.
- Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 100–114.
- Fanon, Schwarze Haut, weiße Masken, S. 81 f.
- Ebd., S. 81. Hervorhebungen der Verfasserin.
- Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 391.
- Fanon, Schwarze Haut, weiße Masken, S. 116.
- Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 208.
- Fanon, Schwarze Haut, weiße Masken, S. 17. [Anm. d. Red.: Standardsprachlich korrekt wäre: „Garçon ! Un verre de bière.“, auf Deutsch also: „Kellner, ein Glas Bier bitte!“]
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Samir Sellami.
Kategorien: Affekte / Emotionen Kolonialismus / Postkolonialismus Körper Philosophie Rassismus / Diskriminierung
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