Peter Niesen | Essay |

Demokratische Regression – Zur Verteidigung der Kategorie

Vorabdruck aus „Zur Diagnose demokratischer Regression“, hrsg. von Peter Niesen

Für den Prinzen Hamlet aus William Shakespeares gleichnamigem Politdrama war die Sache klar: „Etwas ist faul im Staate Dänemark.“ Am schlechten Zustand des Gemeinwesens bestand für den jungen Thronfolger, den Inbegriff des Zauderers und Zögerers, kein Zweifel. Aber schon bei der Suche nach den genauen Ursachen und den geeigneten Gegenmaßnahmen beschlichen den Königssohn wieder die handlungslähmende Unsicherheit und Skepsis, die ihn am Ende das Leben und die Krone und den Staat die Unabhängigkeit kosten sollten. Das mulmige Gefühl, das der Prinz beim Blick auf seine Gegenwart empfand, wird heute von vielen Menschen inner- und außerhalb Dänemarks geteilt. Der Eindruck, dass es mit den liberalen Demokratien Europas nicht zum Besten bestellt ist, ja dass sich die Dinge schon länger nicht mehr zum Besseren, sondern eher zum Schlechteren entwickeln, entspricht einer weit verbreiteten Befindlichkeit zahlreicher Bürgerinnen und Bürger, die seit einigen Jahren auch die Politik- und Sozialwissenschaften verstärkt beschäftigt. Die Gründe, sich um den Zustand der europäischen Demokratien zu sorgen, sind vielfältig: zu Elitenversagen und Steuerungsproblemen, Machtmissbrauch und Korruption, Populismus und Polarisierung kommen Angriffe auf die Unabhängigkeit von Presse und Justiz. Noch bedenklicher wirkt die Lage, wenn man über die immer undurchdringlicheren Grenzen Europas hinausblickt. Weltweit geraten demokratische Staaten zunehmend unter Druck, gewinnen illiberale Parteien an Zulauf und autoritäre Regime an Stärke. Das westliche Demokratiemodell, so scheint es, hat merklich an Strahlkraft verloren und befindet sich in der Defensive. Aber stimmt der Eindruck? Lassen die verschiedenen Tendenzen gemeinsame Muster und Zusammenhänge erkennen, die es gestatten, einen gerichteten Prozess zu identifizieren? Und falls ja, lässt sich dieser Prozess normativ bewerten? Kurz: Ist es möglich, die institutionellen und politisch-kulturellen Veränderungen im politischen Leben der Demokratien mit dem Begriff der „demokratischen Regression“ gleichermaßen zu analysieren und normativ zu bewerten? Dieser grundsätzlichen, Politik- und Sozialwissenschaften gleichermaßen herausfordernden Frage haben die Kolleg:innen des Leviathan, die das politische Zeitgeschehen seit nunmehr 50 Jahren mit kritischer Expertise begleiten, einen Sonderband gewidmet, der dieser Tage erscheint und Beiträge namhafter Wissenschaftler:innen zum Thema vereinigt. Wir nehmen das Erscheinen der Publikation zum Anlass für die Veröffentlichung eines leicht überarbeiteten Auszugs aus der Einleitung, mit der Herausgeber Peter Niesen in den Band und dessen Problematik einführt. Wir danken Herrn Niesen und dem Nomos Verlag für die Erlaubnis zum Vorabdruck und gratulieren den Kolleg:innen vom Leviathan sehr herzlich zum 50-jährigen Jubiläum ihrer Zeitschrift. – Die Red.

 

Wenn die Frage, „ob das menschliche Geschlecht im beständigen Fortschreiten zum Besseren sei“, die Immanuel Kant im Streit der Fakultäten stellt,[1] heutzutage eher Betretenheit hervorruft, so mag das daran liegen, dass unsere Gegenwart von offensichtlichen Prozessen politischer Regression gekennzeichnet ist. Die Beispiele spektakulärer Verfallserscheinungen, die selbst lange etablierte Demokratien heimsuchen, liegen auf der Hand. Als exemplarisch mag der Sturm eines gewalttätigen Mobs auf das Kapitol, den Sitz beider Kammern der U.S.-amerikanischen Legislative, am 6. Januar 2021 gelten, bei dem ein abgewählter Präsident mit den Verschwörern gemeinsame Sache machte. Einen klareren Modellfall demokratischer Regression kann man kaum konstruieren: Ein auf Zeit gewählter politischer Repräsentant, der sich auf Rückhalt in der Bevölkerung beruft und nicht bereit ist, seine Abwahl anzuerkennen. Dabei wurde er von polarisierenden Leitmedien, deren Akteure Legenden über Wahlfälschung verbreiteten, an die sie selbst nicht glaubten,[2] sowie von Teilen des politischen Apparats und des Rechtssystems unterstützt. Der Angriff auf die Institutionen der US-Demokratie und ihre Repräsentantinnen und Repräsentanten war in den sozialen Medien mit Bedacht vorbereitet worden, so dass das nicht nur symbolische Zentrum der Gesetzgebung und der demokratischen Ämtervergabe mit großer Breitenwirkung getroffen werden konnte. Wenn in der Demokratieforschung eines unumstritten ist, dann dieses: dass der freiwillige und unblutige Wechsel an der Spitze der Exekutive nach einer verlorenen Wahl als Lackmustest für den Zustand demokratischer Systeme dienen kann.

Die Washingtoner Episode steht als Symptom einer umfassenden demokratischen Dekonsolidierung für sich, aber mitnichten alleine. In den vergangenen Jahren ist die Negativentwicklung erfahrener ebenso wie junger Demokratien mit dem Titel eines wegweisenden, von Heinrich Geiselberger herausgegebenen Bandes oft als „große Regression“ bezeichnet worden,[3] aber das zentrale Konzept „demokratischer Regression“ wurde erst vor Kurzem einer systematischen Analyse unterworfen.[4] Abgesehen von der klaren und kaum umstrittenen Identifikation einzelner paradigmatischer Beispiele, ist die Beobachtung und Behauptung demokratischer Regression ein äußerst voraussetzungsreiches Unterfangen. Bereits die häufig erwähnten Standardbeispiele wie der ursprüngliche Wahlerfolg Donald Trumps 2016, die Demontage unabhängiger Verfassungsrecht­sprechung in Ungarn und Polen, der Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union oder das Aufkommen stabiler rechtsradikaler Parlamentsfraktionen in den westeuropäischen Demokratien werfen eine Reihe von Fragen auf: Ist der abnehmende Einfluss politischer Parteien wie in den USA ein untrügliches Indiz für demokratische Regression oder wird dadurch die gesellschaftliche Basis in der Kandidatenauslese vielmehr ermächtigt?[5] Korrumpiert die zunehmend polarisierende Besetzung von Verfassungsgerichten deren demokratische Funktionen oder pendelt sich die Machtbalance zwischen Parlamenten und Gerichten neu ein?[6] Dient der Rückzug aus internationalen Organisationen wie der Europäischen Union oder dem Internationalen Strafgerichtshof der Wiedererlangung demokratischer Kontrolle oder eher der Durchsetzung nationalistischer und xenophober Politiken der Selbstbehauptung?[7] Was heißt es, wenn populistische und Antisystembewegungen reüssieren: Ist das als Beschädigung von Parlamentarismus und zivilgesellschaftlicher Auseinandersetzung oder als Schließung einer real „klaffenden Repräsentationslücke“ zu bewerten?[8] Macht die Regierungsbeteiligung oder Regierungsübernahme regressiver Akteure mit Blick auf die langfristige Qualität und Resilienz demokratischer Institutionen tatsächlich einen Unterschied?[9]

I.

Kurz, die Verwendung des Ausdrucks „demokratische Regression“ geht mit einer Reihe von nicht-trivialen Voraussetzungen einher. Sie baut erstens darauf, dass es sich bei der Wahrnehmung von Rückschritten tatsächlich um eine stabile und umfassende Diagnose handelt, und nicht um ein durch kurzlebige oder punktuelle Konjunkturen erzeugtes falsches Bild. Zudem entwickeln sich unterschiedliche Politikfelder oft ungleichzeitig oder sogar entgegengesetzt, so dass etwa Liberalisierungsschritte im Blick auf kulturelle und sexuelle Identitäten durchaus mit einer Zunahme an sozialer Ungleichheit einhergehen können.[10] Der Umstand, dass Individuen grundrechtlich besser geschützt werden und ihnen gesellschaftliche Chancen offenstehen, während die Schere zwischen Arm und Reich weiter aufgeht, lässt sich als Merkmal einer „regressiven Modernisierung“ verstehen,[11] etwa wenn die gleichberechtigte Teilhabe am Arbeitsmarkt mit dem Verlust sozialer Sicherungen für beide Ehepartner erkauft wird. Dagegen zeichnet die Rede von demokratischer Regression ein Gesamtbild politischer Netto-Regression, in der die demokratische Qualität im Ganzen abnimmt. Sie erfordert zweitens, dass sich die versprengten Beispiele nicht nur intuitiv auf ein und denselben Begriff bringen lassen, sondern sich notwendige und hinreichende Bedingungen für demokratische Regression identifizieren lassen. Das ist nicht dasselbe wie Ursachenforschung, die noch einmal eigene methodische Anforderungen stellte. Dabei ist drittens zu berücksichtigen, dass der verwendete Demokratiebegriff nicht unumstritten und seine Verteidigung nicht trivial ist. Was „Demokratie“ im Zusammenhang mit Regression heißen soll, ist klärungsbedürftig, ansonsten reden die Vertreterinnen von minimalistischen und von voraussetzungsreicheren Demokratiekonzeptio­nen aneinander vorbei. Nur selten sind die Fälle so eindeutig wie in dem eingangs erwähnten Beispiel, in dem die Spitze der Exekutive im Begriff ist, eine Entscheidung des souveränen Wahlvolks zu sabotieren. Umgekehrt kann, etwa in den breit dokumentierten Fällen der Verfassungsentwicklung Ungarns und Polens, langjährige elektorale Bestätigung von Regierungsparteien und -koalitionen dazu führen, dass rechtsstaatliche Institutionen und pluralistische Mediensysteme auf legalem Weg, nämlich mit verfassungsändernden Mehrheiten zurückgebaut werden.[12] Es ist ja nicht von der Hand zu weisen, dass die Gesamtheit der Wahlbürgerinnen und Wahlbürger selbst das regredierende Subjekt sein kann. Unter bestimmten Bedingungen ließe sich dann anstelle von demokratischer auch von „demotischer“ Regression, der Regression des demos, sprechen, ohne dass dabei die manipulativen Techniken, die von Politikunternehmern eingesetzt werden, und die vielfach bereits vorentscheidenden Rahmenbedingungen in Wahlrecht, Parteien- oder Mediensystem ausgeblendet werden dürfen. Die Herausforderung des Ausdrucks „demokratische Regression“ liegt gerade darin, dass die identifizierten Weichenstellungen oft elektoral oder in Referenden herbeigeführt oder zumindest von breiten Strömungen in der Bevölkerung mitgetragen werden, häufig im Namen der Demokratisierung. Für die Demokratietheorie bedeutet das insofern eine Schwierigkeit, als der in der Diagnose demokratischer Regression verwendete Demokratiebegriff aus guten demokratischen Gründen nicht unabhängig vom Demokratieverständnis der jeweiligen Bevölkerung analysiert werden kann. Das heißt nicht, dass sich die Politikwissenschaft und die politische Philosophie den wechselnden Präferenzen und Vorverständnissen darüber, was Demokratie bedeuten soll, kritiklos beugen müssten. Aber denjenigen, die demokratischer Herrschaft unterworfen sind, müssen die in der Regressionsdiagnose verwendeten Demokratiekonzeptionen zumindest anschlussfähig erscheinen, andernfalls setzte man sich dem Vorwurf aus, gegen elementare Voraussetzungen des öffentlichen Vernunftgebrauchs zu verstoßen.[13] Viertens schließlich muss erörtert werden, ob die wertende Kritik, die im Regressionsbegriff zwangsläufig mitschwingt, im Hinblick auf die gegenwärtigen Entwicklungen berechtigt ist: ob die Enttäuschung über Gefährdung oder Verlust etablierter politischer Praktiken und Organisationsformen eine plausible normative Einstellung ist, und auf welchen Voraussetzungen sie beruht. Von Regression zu reden, verweist unvermeidlich auf eine Rückkehr zu einem „weniger entwickelten Zustand“ und erfordert daher eine „normative Theorie oder eine teleologische Theorie sozialer Entwicklung“.[14] Das verlangt aber nicht, in jedem Fall eines Rückbaus technischer und gesellschaftlicher Modernisierung von Regression zu sprechen. Ein Verbot privater Raumfahrtunternehmungen etwa wäre angesichts der verheerenden ökologischen Bilanzen privater space trips wohl trotz des unvermeidlichen Rückschlags für die technische Entwicklung nichts weniger als regressiv.[15] Wenn man dagegen in einen vorgängigen Zustand regrediert, muss der Zustand ex ante insgesamt besser gewesen sein und sich auch mit guten Gründen als solcher darstellen lassen. Es braucht also eine politische Theorie der Regression, die nicht bloß einem Vorurteil zugunsten des status quo ante verpflichtet ist, sowie eine gehaltvolle Demokratietheorie, die bereit ist, die Rede von kognitiven Fort- und Rückschritten ernst zu nehmen. Die These von der demokratischen Regression ist also gleichermaßen eine empirische, begriffliche und normative Herausforderung, die nur im Zusammenwirken von vergleichender Politikwissenschaft, politischer Theorie und politischer Philosophie bewältigt werden kann.

II.

Wenn es so etwas wie ein Rätsel demokratischer Regression gibt, dann das folgende. Regression ist nicht dasselbe wie Niedergang, Erosion, Degeneration oder Verfall, und auch die verbreitete Rede vom backsliding ist missverständlich.[16] Wie immer der Ausdruck im Folgenden genauer bestimmt wird, so ist doch damit ein endogener Vorgang gemeint, der Regression von einer Vielzahl anderer Verfallsprozesse unterscheidet, die sich einfach ereignen und die sich daher passivisch und objektivistisch beschreiben lassen. Die existierenden Demokratien sind aber von Regression nicht in gleicher Weise bedroht wie von äußeren Ereignissen. Anders als ein Meteoriteneinschlag, der das Ende einer Population von Dinosauriern bedeuten und für ihr Aussterben verantwortlich gemacht werden kann,[17] bezeichnet Regression einen von innen angestoßenen Vorgang. Als Regression lassen sich mithin Prozesse identifizieren, die willentlich, affirmativ und oft bewusst (wenn auch nicht unter dieser Beschreibung) von politischen Akteuren herbeigeführt und von breiten gesellschaftlichen Kreisen bejaht werden. Anders denn als elektorale Belohnung von lustvoll vorgeführter Regression lässt sich wohl keiner der Wahlerfolge des autoritären Populismus verstehen. Das ist erklärungsbedürftig, handelt es sich doch bei den demokratischen Institutionen und Praktiken, die Gegenstand der Regression sind, zumindest aus der Binnenperspektive demokra­tischer Gesellschaften oft um hart erkämpfte Errungenschaften, die verloren zu gehen, beschädigt oder abgeschafft zu werden drohen. Prozesse demokratischer Regression werden von Akteuren betrieben und von Bevölkerungen unterstützt, die an Freiheit und politische Selbstbestimmung gewöhnt sind. Im Unterschied zu scheiternder Demokratisierung, die von außen zurückhaltend beurteilt werden sollte, entscheiden über die Rückabwicklung etablierter Standards häufig Amtsträgerinnen und Amtsträger, die seit Jahrzehnten Subjekte demokratischer Erfahrungen sind und nun der Beschädigung ihrer ermöglichenden Bedingungen, einschließlich Konflikttoleranz und Offenheit, mutwillig Vorschub leisten. Auch angesichts der exogenen Krisen, die die westlichen Demokratien in den vergangenen Jahrzehnten heimgesucht und einander abgelöst oder überlagert haben, ist es erstaunlich, dass Regression sich offenbar unforciert einstellt,[18] und dass die Einschätzungen von vermeintlich stabilen Lernerfahrungen und Dispositionen sich als wenig zuverlässig erweisen. Das Faktum demokratischer Regression ist aus dieser Perspektive ein gleichzeitig empirisches und normatives Puzzle, dementiert es doch das, was manchmal als „Sperrklinkeneffekt“ moralischer, politischer und zivilisatorischer Entwicklung bezeichnet wird.[19] Ein Sperrklinkeneffekt verhindert je nach (empirischer oder normativer) Lesart den Rückfall in einen schlechteren, überwundenen Zustand oder garantiert doch zumindest, dass sich ein einmal erworbenes praktisches Wissen auch angesichts eines tatsächlichen Rückfalls „nicht mehr vergisst“,[20] so dass es den Akteuren zur Bewertung und Kritik der vollzogenen Rückschritte nach wie vor zur Verfügung steht. Die etablierten Institutionen (nach empirischer Lesart) oder die durch politische Lernerfahrungen erworbenen Pro-Einstellungen zur Demokratie (nach normativer Lesart) sind aber offensichtlich durch regressive Entwicklungen verwundbar. Als Beispiel für ein analoges Rätsel des Verlernens verweist etwa Susan Neiman auf die Entwicklung der U.S.-amerikanischen Öffentlichkeit, die nach der Präsidentschaft von Barack Obama wieder verstärkt rassistischen und xenophoben Überzeugungen Raum gibt und sich zunehmend für Verschwörungstheorien, alternative Fakten und Fake News anfällig zeigt. Neiman zufolge resultiert das nicht „aus einem Mangel an Wissen“, so dass die Rolle von Erkenntnis und Wissen in Prozessen der Regression neu überdacht werden müsse.[21] Natürlich ist die Annahme allzu plakativ, dass erreichte Standards normativer Entwicklung in demokratischer Regression gesellschaftsweit einfach vergessen oder unterdrückt werden. Allerdings stellt Regression sich offenbar wider etablierte Mechanismen demokratischer Resilienz und wider besseres Wissen ein. Das Faktum der Regression widerlegt daher nicht nur naive geschichtsphilosophische Fortschritts­unterstellungen, die ohnehin heute niemand mehr vertritt, sondern erschüttert auch die empirische wie die normative Interpretation von Sperrklinkeneffekten. Allerdings besagt das Fehlschlagen von Sperrklinken-Hypothesen noch nichts darüber, ob der Regressionsbegriff nicht in diagnostischer, analytischer und normativer Hinsicht zum Schlüsselbegriff unserer Tage werden kann. Wenn es zutrifft, dass sich Prozesse demokratischer Regression nicht in der gleichen Weise einstellen wie Naturkatastrophen, sondern sich ihre Merkmale, ihre Akteure und deren Strategien methodisch abgesichert benennen lassen, erscheinen Zurechnungen und auch Verantwortungszu­schreibungen möglich. Das kann insbesondere für die Teilnehmerperspektive, die einzunehmen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler innerhalb von demokratischen Gesellschaften kaum vermeiden können, bedeutsam werden, lässt sich Regression so doch nicht leicht externalisieren. Im Unterschied zu vielen anderen Praktiken der Kritik bezieht sich der Vorwurf demokratischer Regression vorrangig auf das eigene Scheitern: Den identifizierten Anstiftern und Antreibern stehen weite Teile der Gesellschaft gegenüber, die Regression zulassen und sich ihren „selbstverwahrlosenden“[22] Prozessen nicht widersetzen.

III.

Philip Manow hat behauptet, dass die verwendete Demokratiekonzeption darüber entscheidet, ob wir es derzeit tatsächlich mit großflächiger Regression zu tun haben, und den Einwand erhoben, die Diagnose gehe zumeist mit einer Privilegierung liberal-demokratischer Präferenzen einher.[23] Schäfer und Zürn weisen diese Interpretation zurück, indem sie auf die nuancierte Untersuchung unterschiedlicher Subtypen von Demokratie verweisen, die dem Demokratieindex V-Dem zufolge sämtlich im Niedergang begriffen sind. Den liberalen, deliberativen, partizipativen, direkten und anderen Bindestrich-Demokratien wird dort jeweils eine analoge Dynamik bescheinigt.[24] Wie lässt sich der Einwand aber theoretisch abarbeiten, dass die Demokratietheorie über unblutige Regierungswechsel hinaus weitere Elemente demokratischer Systeme wie Grundrechte und Rechtsstaatlichkeit, den Verzicht auf exekutive Steuerung des Mediensystems oder die gerichtliche Überprüfung von legislativen und exekutiven Entscheidungen als Merkmale festschreibt? Wie ist die (vorenthaltene) Einführung direktdemokratischer Elemente zu beurteilen? Wie ist die Integration in überstaatliche Institutionen zu bewerten? Selbst dem Brexit steht ja eine „objektiv“ regressive Funktion nicht einfach ins Gesicht geschrieben. Oder, um ein von Manow verwendetes Beispiel zu erwähnen, wie soll man den Umstand gewichten, dass manche Staaten ganz ohne Verfassungsgerichte auskommen, und dass bedeutende Stimmen der Demokratietheorie ihnen darin rechtgeben?

Eine Möglichkeit wäre es, hier historisch reflexiv anzusetzen und auf die Pfadabhängigkeit der Einrichtung verschiedener demokratischer Systeme zu verweisen, die ja auf unterschiedliche Rahmenbedingungen reagieren und in ganz unterschiedlichen Realisierungen münden können. Der Umstand, dass die niederländische Verfassung etwa ohne gerichtliche Normenkontrolle auskommt, lässt sich kaum als Defekt deuten, und Autorinnen und Autoren wie Ingeborg Maus, Richard Bellamy oder Jeremy Waldron haben justizstaatliche Tendenzen, wie sie mit der Einführung von Apexgerichten verbunden sind, mit prinzipiellen Argumenten kritisiert.[25] Für eine Diagnose demokratisch regressiver Tendenzen, die von den Niederlanden die Einführung entsprechender Mechanismen als Gegenmaßnahmen forderte, ließen sich kaum hinreichende Gründe mobilisieren. Die gegenwärtigen Leitbeispiele für demokratische Regression betreffen denn auch in erster Linie die Beschädigung oder Entmachtung, nicht aber die unterlassene Etablierung gerichtlicher Normenkontrolle. Der Vorwurf richtet sich vielmehr gegen solche Staaten, die oberste Gerichtshöfe oder Verfassungsgerichte eingeführt haben und nun deren Entmachtung und Beschränkung betreiben, ohne funktionale Äquivalente für sie einzuführen. Erklärungsbedürftig ist mithin die normative Asymmetrie zwischen Nichteinführung und Demontage. Das ist einerseits kein Problem, denn die exekutive Unterwanderung oder Umgestaltung von Institutionen zur Demokratie-Attrappe lässt sich auch unabhängig von einem übergreifenden Regressionsdiskurs identifizieren, wie die Analysen der Beobachterinnen und Beobachter der Justizreformen in Ungarn und Polen belegen.[26] Man könnte daher versucht sein, Regression als Eigenschaft eines Prozesses zu sehen und von der Qualität des Resultats abzusehen.[27] Das ließe jedoch die grundsätzliche Frage unbeantwortet, ob der Rückbau von Institutionen nur fallbezogen, im Hinblick auf historisch etablierte Zusammenhänge und die mit ihnen gemachten Erfahrungen möglich ist, oder ob er auch auf dem höheren Abstraktionsgrad der Demokratiemessung und normativen Demokratietheorie als regressiv beschrieben werden kann. Lässt sich beispielsweise die Abschaffung von einmal eingeführten obersten Gerichten per se als regressiv identifizieren oder nur im jeweiligen Kontext ihrer Motive und vor dem Hintergrund eingespielter Machtverhältnisse und eines systemischen Niveaus deliberativer wie dezisionaler Aufgabenteilung? Die israelische Protestbewegung, die seit Monaten gegen die faktische Aufhebung der höchstrichterlichen Überprüfung von Parlamentsentscheidungen auf die Straße geht, wird sich nicht durch die von Maus, Bellamy oder Waldron vorgebrachten Argumente beeindrucken lassen, und es wäre überraschend, wenn die Verfassungsreform, die die gegenwärtige israelische Regierungskoalition anstrebt, sich im Erfolgsfall nicht auch substanziell als demokratische Regression erwiese.[28] Dabei sei zugestanden, dass der Versuch, demokratischem Fortschritt und demokratischer Regression im Hinblick auf die Kämpfe um Austarierung politischer Entscheidungsbefugnisse gewissermaßen pfadabhängige Indizes zu verleihen, für ihre quantitative Erforschung und Vergleichbarkeit große Schwierigkeiten mit sich brächte. Ein historisch-reflexiver Zugang wäre darauf angewiesen, die unterschiedlichen Weisen, in denen Systeme versuchen, demokratische Integrität über Zeit zu garantieren, je für sich zu untersuchen.

Aus der Begriffsanalyse (I.), der Kritik der „Selbstverwahrlosung“ des demos und seiner Institutionen (II.), sowie schließlich aus der Beobachtung der Pfadabhängigkeit der Diagnose demokratischer Regression (III.) lässt sich ein Aufgabenbündel für die kommende Forschung schnüren. Wenn wir weiter von demokratischer Regression reden wollen, so sind die Analysemethoden der epistemischen Demokratietheorie den agonalen, pluralistischen, radikalen und ähnlichen nonkognitivistischen Demokratiekonzeptionen womöglich überlegen, da sie sich zutraut, mit der Rede von Errungenschaften, also mess- und rechtfertigbaren Fortschritten, und entsprechenden Rückschritten einen kognitiven Sinn zu verbinden.[29] Damit ist jedoch nicht die Aufforderung verbunden, die Entwicklung von Demokratien an den Befunden, die für die demokratische Willensbildung sowie für die Verfassungs- und Institutionenpolitik in einem anderen Land gelten mögen, zu messen oder gar Best-Practice-Regeln aufzustellen, und zwar aus zwei Gründen: Erstens, wenngleich sich die Regressionswarnung offensiv universalisieren lässt und auch wenn Beispiele für historische Fehlschläge hilfreich sein können, sollte doch im Zentrum die Analyse der endogenen, typischerweise in der Verantwortung und auch in der Hand der politischen Akteure liegenden Symptome und Merkmale demokratischer Regression stehen. Damit ist der praktische Sinn verbunden, auf regressive Tendenzen aktiv, und nicht nur präskriptiv, reagieren zu können. Zweitens geht damit die methodologische Aufforderung einher, Regression im Hinblick auf die diachrone Entwicklung eines Kollektivsubjekts zu verstehen, das über Zeit hinweg trotz aller Veränderungen behauptet, mit sich selbst identisch zu bleiben und sich deswegen die Erfolge wie die Fehlschläge zurechnet. Fortschritte und Regressionen sind häufig als solche erst von hier aus identifizierbar. An die Stelle des Vertrauens in Demokratie-Indizes müsste die qualitative und diskursive Untersuchung der Motivationen und Ergebnisse von Institutionen- und Mentalitätswandel treten. Damit gäbe die politikwissenschaftliche, politik-theoretische Perspektive nicht Anspruch und Zuständigkeit ab, als Leitwissenschaft demokratischer Regression zu fungieren, wohl aber räumte sie die notwendige Zusammenarbeit mit geschichtswissenschaftlichen, zeitgeschichtlichen und geschichtspolitischen Ansätzen ein, die vollständigere Narrative von Entwicklung, Errungenschaft und Rückfall formulieren könnten, als dies aus quantitativ-vergleichender und normativer Perspektive zusammengenommen zu leisten wäre.

  1. Immanuel Kant, Der Streit der Fakultäten [1798], in: ders., Kants Werke, Akademie-Textausgabe Bd. VIII, Berlin 1968, S. 79–92, hier S. 79.
  2. Vgl. Joe Miller, Rupert Murdoch’s Fox Agrees $787.5mn Settlement in Dominion Defamation Case, in: Financial Times, 18. April 2023.
  3. Vgl. Heinrich Geiselberger, Die große Regression. Eine internationale Debatte über die geistige Situation der Zeit, Berlin 2017.
  4. Vgl. Armin Schäfer / Michael Zürn, Die demokratische Regression. Die politischen Ursachen des autoritären Populismus, Berlin 2021.
  5. Vgl. Philip Manow, (Ent-)Demokratisierung der Demokratie. Ein Essay, Berlin 2020, S. 88 f.
  6. Vgl. Jan-Werner Müller, Democracy Rules, London 2021.
  7. Vgl. Richard Tuck, The Left Case for Brexit, Cambridge 2020.
  8. Dirk Jörke / Veith Selk, Der hilflose Antipopulismus, in: Leviathan 43 (2015), 4, S. 484–500, hier S. 488.
  9. Vgl. Jasmin Sarah König / Tilko Swalve, Zum Verhältnis von demokratischer und konstitutioneller Regression unter populistischen Regierungen. Eine empirische Analyse, in: Peter Niesen (Hg.), Zur Diagnose demokratischer Regression, Baden-Baden 2023 (= Leviathan Sonderband 40), S. 255–281.
  10. Vgl. Nancy Fraser, The Old is Dying and the New Cannot Be Born: From Progressive Neoliberalism to Trump – and Beyond, London 2019.
  11. Carolin Amlinger / Oliver Nachtwey, Gekränkte Freiheit. Aspekte des libertären Autoritarismus, Berlin 2022, S. 99; vgl. auch Oliver Nachtwey, Die Abstiegsgesellschaft. Über das Aufbegehren in der regressiven Moderne, Berlin 2016.
  12. Vgl. hierzu erneut Müller, Democracy Rules.
  13. Vgl. Cristina Lafont, Unverkürzte Demokratie: Eine Theorie deliberativer Bürgerbeteiligung, Berlin 2021.
  14. Karin J. Alter / Michael Zürn, Conceptualising Backlash Politics, in: The British Journal of Politics and International Relations 22 (2020), 4, S. 563–584, hier S. 566 (meine Übersetzung, P.N.).
  15. Vgl. Sighard Neckel, Zerstörerischer Reichtum. Wie eine globale Verschmutzerelite das Klima ruiniert, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 68 (2023), 4, S. 47–56.
  16. Vgl. Reinhart Koselleck, „Fortschritt“ und „Niedergang“ – Nachtrag zur Geschichte zweier Begriffe, in: Niedergang. Studien zu einem geschichtlichen Thema, hrsg. v. Reinhart Koselleck u. Paul Widmer, Stuttgart 1980, S. 214–230; Michael Th. Greven, The Erosion of Democracy – the Beginning of the End?, in: ders., Die Erosion der Demokratie, hrsg. v. Friedbert W. Rüb, Veith Selk und Rieke Trimçev, Berlin 2020, S. 191–208; Craig Calhoun / Dilip Parameshwar Gaonkar / Charles Taylor, Degenerations of Democracy, Cambridge, MA 2022; Nancy Bermeo, On Democratic Backsliding, in: Journal of Democracy 27 (2016), 1, S. 5–19.
  17. Wie es die Rede von „Tod“ und „Ende“ der Demokratie nahelegt – vgl. David Runciman, So endet die Demokratie, übers. von Ulrike Bischoff, Frankfurt am Main / New York 2020; Steven Levitsky / Daniel Ziblatt, Wie Demokratien sterben. Und was wir dagegen tun können, übers. von Klaus-Dieter Schmidt, München 2018.
  18. Zu unzureichenden objektivistischen Erklärungen vgl. Schäfer/Zürn, Die demokratische Regression, S. 82–88.
  19. Als Standardwerk zu den ratchet effects des Mentalitäts- ebenso wie des Verfassungswandels vgl. Hauke Brunkhorst, Critical Theory of Legal Revolutions – Evolutionary Perspectives, New York / London 2014.
  20. Kant, Der Streit der Fakultäten, S. 88.
  21. Susan Neiman, Progress, Regress, and Power, in: Philip Kitcher / Rahel Jaeggi / Susan Neiman / Amia Srinivasan, Moral Progress, hrsg. v. Jan-Christoph Heilinger, Oxford 2021, S. 111–118, hier S. 116 (meine Übersetzung, P.N.).
  22. Schäfer/Zürn, Die demokratische Regression, S. 11.
  23. Vgl. Philip Manow, Eine Beobachtung der Demokratiebeobachtung. Zur Diagnose demokratischer Regression, in: Niesen (Hg.), Zur Diagnose demokratischer Regression, S. 83–101; ders., (Ent-)Demokratisierung der Demokratie.
  24. Schäfer/Zürn, Die demokratische Regression, S. 29–36 und S. 49–56.
  25. Vgl. Ingeborg Maus, Zur Aufklärung der Demokratietheorie, Frankfurt am Main 1992; Richard Bellamy, Political Constitutionalism. A Republican Defence of the Constitutionality of Democracy, Cambridge 2007; Jeremy Waldron, The Core of the Case against Judicial Review, in: Yale Law Journal 115 (2006), 6, S. 1346–1406.
  26. Vgl. Kriszta Kovács / Kim Lane Scheppele, The Fragility of an Independent Judiciary: Lessons from Hungary and Poland – and the European Union, in: Journal of Communist and Post‐Communist Studies 51 (2018), S. 189–200.
  27. Vgl. Christopher F. Zurn, Political Progress: Piecemeal, Pragmatic, and Processual, in: Debating Critical Theory: Engagements with Axel Honneth, hrsg. von Julia Christ et al., London 2020, S. 269–286, hier S. 279–281. Zurn unterscheidet zwischen prozessualen und inhaltlichen Verständnissen von Regression. Eine prozessuale Interpretation schlägt auch Rahel Jaeggi vor. Vgl. Rahel Jaeggi, Widerstand gegen die immerwährende Gefahr des Rückfalls: Zum Verhältnis von moralischem Fortschritt und sozialem Wandel, in: Genesis und Geltung, hrsg. von Thomas Gutmann et al., Tübingen 2017, S. 223–243.
  28. So bereits die frühe Analyse von Aeyal Gross, The Populist Constitutional Revolution in Israel. Towards a Constitutional Crisis?, in: Verfassungsblog, 19.1.2023 (DOI: 10.17176/20230119-143757-0).
  29. Vgl. Robert E. Goodin / Kai Spiekermann, An Epistemic Theory of Democracy, Oxford 2020; Hélène Landemore / Jon Elster (Hg.), Collective Wisdom: Principles and Mechanisms, Cambridge 2014; Lafont, Unverkürzte Demokratie.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Karsten Malowitz.

Kategorien: Demokratie Gesellschaftstheorie Politische Theorie und Ideengeschichte Sozialer Wandel

Peter Niesen

Peter Niesen ist seit 2013 Professor für Politikwissenschaft, insbesondere Politische Theorie, an der Universität Hamburg. Er war 2007 Gründungsmitglied des Exzellenzclusters „Herausbildung normativer Ordnungen“. Zu seinen neueren Veröffentlichungen zählt “Reframing civil disobedience: Constituent power as a language of transnational protest“, Journal of International Political Theory (2019).

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