Theresa Wobbe | Interview | 03.05.2023
„Der Akt des Lesens entscheidet über das Schicksal eines Buches“
Sieben Fragen an Theresa Wobbe
Ohne die Lektüre welchen Buches wären Sie heute eine andere?
Diese Frage lässt sich so nicht beantworten. Können wir durch ein Buch eine andere Person werden? Wohl kaum. Doch einige sozialwissenschaftliche Bücher haben schon früh bei mir neue Wege des Denkens angestoßen. So etwa die Dialektik der Aufklärung oder der Autoritäre Charakter in der damaligen Amsterdamer Raubdruckausgabe, von denen ich in der Gymnasialzeit noch sehr wenig verstand. Es tat sich aber ein neuer Horizont des Denkens auf, der mir bis dahin vollkommen unbekannt war, jedenfalls aus den Schulgeschichtsbüchern. Die beiden Bände prägten später zwar nicht meine Fragen an Moderne und Nationalsozialismus. Doch was bleibt, ist, dass sie mich in ein mir bis dahin unbekanntes Universum des Denkens stießen.
Ein Buch, das mir das Verhältnis von Modernität und den Verbrechen der NS-Rassen- und Frauenpolitik, von Pronatalismus und Antinatalismus erschloss, ist Gisela Bocks große Untersuchung über Zwangssterilisation von 1986 – wahrlich keine leichte Kost. Doch ist es vollkommen überzeugend, wie sie die neue Qualität der institutionalisierten Rassen- und Frauenpolitik an der Vorgeschichte des wissenschaftlichen Rassismus im 19. Jahrhundert entfaltet und den Anschluss an und die Differenz zum Nationalsozialismus prägnant herausarbeitet. Darauf folgten weitere wichtige Bücher wie Reinhart Kosellecks Vergangene Zukunft, Carole Patemans Sexual Contract, Mary Pooveys A History of the Modern Fact, Niklas Luhmanns Die Religion der Gesellschaft und Catherine Halls Civilising Subjects. In jüngerer Zeit kamen dann die Werke des aus Jamaika stammenden US-amerikanischen Soziologen Orlando Patterson zu Sklaverei und der westlichen Freiheitsidee auf meinen Tisch.
Freilich bewirken wissenschaftliche Bücher nicht, was Literatur vermag. Als ich zum ersten Mal während der Schulzeit Kafkas Die Verwandlung las, wurde ich gleichermaßen in Staunen, Erschrecken und Neugierde versetzt über die Abgründe und Verstörungen der Literatur. Die Beklemmung, welche Die Verwandlung aufruft, hat bis heute ihre Kraft nicht verloren. Die zur Sprache gebrachte Differenz von Selbst- und Fremdbeobachtung, die Wucht ihrer Asymmetrie und das Auseinanderfallen von Bewusstsein und Kommunikation, das alles lässt sich durch ein soziologisches Buch so nicht einholen.
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Umso bemerkenswerter ist Virginia Woolfs Kurz-Essay On Being Ill, in dem sie die Grenzen der literarischen Sprache in einer Fülle und Welle von Bildern, Halluzinationen, Spiegelungen und Metaphern präsentiert. Woolf begibt sich auf die Spur des Krankheitszustands, „when the lights of health go down, the undiscovered countries that are then disclosed, what wastes and deserts of the soul a slight attack of influenza brings to view, what precipices and lawns sprinkled with bright flowers a little rise of temperature reveals.“[1] Seltsam sei es, so Woolf, dass Krankheit in der Literatur nicht den Platz erhalten habe wie Liebe, Kampf und Eifersucht. Sie legt den Finger in die Wunde der (englischen) Sprache, die zwar die Gedanken Hamlets und die Tragödie Lears ausdrücken kann, „but let a sufferer try to describe a pain in his head to a doctor and language at once runs dry“.[2] Für den Gesundheitszustand muss die geistreiche Täuschung aufrechterhalten werden, „to communicate, to civilise, to share, to cultivate the desert, to educate the native, to work together by day and by night to sport“.[3] Dem gegenüber gelten Kranke als Deserteure, Nichtstuer, Verweigerer und Verschwender. Diese Trugbilder hören erst im Krankheitszustand auf zu existieren. Krankheit ist, mit anderen Worten, nicht kommunikabel: „Here we go alone, and like it better so.“[4]
Welches war die beste/schlechteste Buchempfehlung, die Sie je bekommen haben?
Eine der besten Empfehlungen war der Hinweis auf Land of the Living der walisischen Schriftstellerin Georgina Harding – der erste Band einer Trilogie, in der die Rückkehr eines Soldaten aus dem Krieg nach 1945 als Beginn des Weiterlebens mit dieser Erfahrung zwischen burmesischem Dschungel und dem kargen Flachland Norfolks dargestellt wird. Weder in der jungen Ehe des Protagonisten noch zwischen den Generationen sind die gemachten Erfahrungen kommunizierbar.
Schlechte Buchempfehlungen hingegen vergesse ich und wenn die Sprache das Buch nicht trägt, höre ich mit dem Lesen auf.
Welches Buch hätten Sie gern selbst geschrieben?
Darüber habe ich bislang noch nicht nachgedacht. Jedes Buch ist schließlich eine distinktive Kreation. Es gibt allerdings Bücher, die im besten Sinne zu bewundern sind. Die Romane von Carson McCullers gehören unbedingt in diesen engeren Kreis. In The Member of the Wedding porträtiert McCullers Berenice Sadie Brown, die schwarze Bedienstete im Haushalt einer Familie der unteren weißen Mittelschicht, als eigenständige Person statt sie als Teil des Hintergrunds anderer zu erwähnen. Am Küchentisch erzählt die Protagonistin den Kindern von ihren Vorstellungen über die Welt, die Wahlen und die Freiheit. Die zwölfjährige vorpubertäre Frankie, „a member of nothing in the world”[5], hört ihr zu. Das junge Mädchen ist verzweifelt auf der Suche nach Zugehörigkeit und es ist faszinierend, wie McCullers ihre Ambivalenzen zur Darstellung bringt. Frankie liebt ihre Berenice und wohl aus diesem Grunde überschreitet sie ständig die ‘colour line’ und fordert rassistische Normen heraus. Aber am Ende muss sie doch einen Platz in der nur Weißen vorbehaltenen segregierten Kultur der Südstaaten vor der Bürgerrechtsbewegung suchen. Berenices Welt bleibt ihr verschlossen.
Welches Buch hat Sie bei der Lektüre in Rage versetzt?
Keins. Ich möchte stattdessen ein Gedicht nennen, das ich gern lese und spreche.
I’m Nobody! Who are you?
Are you - Nobody - Too?
Then there’s a pair of us?
Don’t tell! they’d advertise - you know!
How dreary - to be - Somebody!
How public - like a Frog -
To tell one’s name - the livelong June -
To an admiring Bog![6]
Aus welchem Buch zitieren Sie am häufigsten?
Aus keinem. Dafür ist mein literarisches Lesespektrum zu breit und sind die Anregungen zu viele. Aus literarischen Texten zitiere ich eigentlich nicht, aber über manche Kurzgeschichten, Erzählungen oder Romane kann ich noch lange nachdenken. Dazu gehören unter allen Umständen die Jahrestage Uwe Johnsons. Bis heute sind sie mit ihren Verschiebungen, Taktiken und Anschlüssen, mit ihren Spiegelungen von Landschaften, Personen, Zeiten und Räumen ein Leseereignis. Undenkbar ohne die kluge und aufmüpfige Marie.
Welches Buch hat Ihnen in der Retrospektive besser gefallen als während des Lesens?
Keins. Der Akt des Lesens entscheidet über das Schicksal eines Buches.
Von welchem Autor/welcher Autorin wüssten Sie gern, welches Buch ihn/sie am meisten beeinflusst hat?
Einfluss interessiert mich hier weniger. Von Carys Davies, die den wunderbaren Roman West geschrieben hat, würde ich eher gern wissen wollen, welche historischen Quellen sie in der New York Public Library für das Buch studiert hat. In dem schmalen Roman führt uns die Autorin in die Weite und Härte des ‚amerikanischen Westens‘, der zu Beginn des 19. Jahrhunderts einhergehend mit der Vertreibung der indianischen Bevölkerung entdeckt und kartiert wurde. Davies spannt zwischen einem kleinen ärmlichen Anwesen in Pennsylvania und den Tausenden von Kilometern gen Westen einen Raum auf, in dem der Siedler Cyrus Bellman von der kuriosen Idee angetrieben wird, dort gigantisch große Tiere zu finden, während seine Tochter Bess, im festen Glauben an seine Rückkehr, unter der Obhut ihrer Tante zurückbleibt. Bellman schreibt Bess jeden Tag Briefe, die sie nicht erreichen. Trotz der kommunikativen Leere glaubt sie an die Rückkehr ihres Vaters, den sie unbedingt zum Schutz gegen die Übergriffe des Nachbarn Elmer Jackson braucht. Als der Indianerjunge Old Woman, Gehilfe des inzwischen verstorbenen Vaters, auf das Haus zureitet, kommt der Beistand von ihm. Großartig ist die Spannung, die Davies zwischen der Welt des Vaters und der der Tochter auf knapp 150 Seiten aufbaut und uns eine neue Vorstellung des Westens bietet. Wie hat sie das nur hingekriegt?
Fußnoten
- Virgina Woolf, On Being Ill, 2. Aufl., Ashfield, MA 2002, S. 3.
- Ebd., S. 7.
- Ebd., S. 12.
- Ebd.
- Carson McCullers, The Member of the Wedding, Harmondsworth 1979, S. 7.
- Emily Dickinson, ohne Titel [um 1861], in: The Complete Poems of Emily Dickinson, hrsg. von Thomas H. Johnson, London 1977, S. 133.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Stephanie Kappacher.
Kategorien: Bildung / Erziehung Kultur Medien
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