Julia Glathe | Veranstaltungsbericht | 23.01.2019
Der globale Aufstieg „Antidemokratischer Konservativer“ – eine Gefahr für die Demokratie?
Bericht von der Tagung der Assoziation für kritische Gesellschaftsforschung (AkG) vom 30.11. bis 2.12.2018 an der Universität Hamburg
Was hat der rasante Aufstieg der „Alternative für Deutschland“ mit dem autoritären Staatsumbau in der Türkei, den rechtskonservativen Regierungen in Polen und Ungarn sowie dem Wahlsieg des ultrarechten Jair Bolsonaro bei der Präsidentschaftswahl in Brasilien gemein? Inwiefern sind sie Ausdruck einer globalen Krise der liberalen Demokratie? Und welche institutionellen Veränderungen und politischen Konsequenzen sind mit ihnen verbunden? Diesem hochaktuellen Problemkomplex widmete sich die Assoziation für Kritische Gesellschaftsforschung (AKG) auf ihrer Jahrestagung und beleuchtete Ursachen, Kontexte sowie etwaige Folgen des Bedeutungsgewinns antidemokratisch-konservativer Positionen. Anhand eines Vergleichs von vier Ländergruppen – Deutschland/Österreich, Polen/Ungarn, Brasilien/Kolumbien und der Türkei – sollten Gemeinsamkeiten und Spezifika dieses globalen Trends herausgearbeitet werden. Das organisatorische Konzept der Tagung sah vor, Themenschwerpunkte wie Gender- und Klassenverhältnisse jeweils in einem gemeinsamen länderübergreifenden Forum einzuführen und anschließend in regionenspezifischen Panels nochmal zu vertiefen.
In der Auftakt-Session am Freitagabend gewährten vier Referent_innen Einblicke in die spezifische Situation des Landes, zu dem sie schwerpunktmäßig arbeiten. THERESA ELENA GESSLER skizzierte die Kernelemente der antipluralistischen Gesellschaftsordnung in Ungarn. Unter anderem verwies sie dabei auf einen für das Land charakteristischen Wesenszug des Verhältnisses zwischen Staat und Gesellschaft: Einerseits wäre die Zivilgesellschaft verschärften Kontrollen durch die Regierung ausgesetzt, andererseits würde direkte Bürgerbeteiligung aber im Rahmen „nationaler Konsultationen“ als Instrument zur Kommunikation und Legitimation eingesetzt. ALKE JENSS beleuchtete den militanten Konservatismus der gegenwärtigen kolumbianischen Regierung sowie dessen autoritäre Tradition. Sie zeigte, dass, ähnlich wie in Ungarn, auch in Kolumbien die Konstruktion einer Gemeinschaft und oppositionären „inneren Feinden“ ein politisches Mittel sei. Auf diese Wiese könnten zivilgesellschaftliche Akteure als „Terrorist_innen“ diffamiert werden. GÜLÇIN B. ÇOŞKUN schilderte die Konsolidierung des autoritären politischen Regimes in der Türkei, das seit dem Putschversuch 2016 zwar sichtbarer geworden sei, allerdings bereits zuvor bestanden hätte. Sie betonte, dass die zentrale Strategie der türkischen Regierung zur Herrschaftssicherung der Populismus sei, wobei die Referentin insbesondere auf die Instrumentalisierung und Unterdrückung der Massenmedien verwies.
In den darauffolgenden Workshops wurden die Einblicke in die regionalen Kontexte vertieft. Im Osteuropa-Panel zu Polen und Ungarn wurden detail- und kenntnisreich die Hintergründe des Erfolgs der polnischen und ungarischen Regierungsparteien PiS und Fidesz erläutert. ANNA DELIUS erklärte am Beispiel Polens, dass Angriffe auf demokratische Institutionen, wie die auf die unabhängigen Verfassungsgerichte, immer in ihren jeweiligen Kontexten, etwa gesellschaftlichen Transformationserfahrungen oder bestimmten Diskursen, betrachtet werden müssten. Beispielsweise wurde die (letztlich revidierte) Abberufung der polnischen Verfassungsrichter damit legitimiert, dass sie als „Dekommunisierung“ der Gerichte dargestellt wurde.
Der zweite Konferenztag begann mit einem übergreifenden Panel zum Zusammenhang von Klassenverhältnissen und dem Aufstieg des „antidemokratischen Konservatismus“. SILKE VAN DYK begann mit einem überzeugenden Input, in dem sie thesenhaft die aktuell stark polarisierte akademische Debatte zum Aufstieg rechter Kräfte nachzeichnete. Sie kritisierte die vor allem auf bivariaten Analysen basierende Einstellungsforschung sowie die häufig implizite Annahme eines Gegensatzes der Erklärungsvariablen Klasse beziehungsweise Rassismus und Anti-Genderismus. Daran anschließend warnte van Dyk davor, Unsicherheits- und Deprivationserfahrung als isolierte Erklärungsvariable heranzuziehen. Vielmehr könnten sich in der Hierarchisierung von Bevölkerungsgruppen verschiedene Kategorien wie Klasse, Rassismus oder Geschlecht überlagern, gegenseitig bedingen oder aber auch gegeneinander ausgespielt werden. Dieses Plädoyer wurde von ANNE ENGELHARDT aufgegriffen, deren Vortrag sich mit dem Ineinandergreifen von betrieblichen Kämpfen im brasilianischen Logistiksektor und darüber hinaus gehenden sozialen Kämpfen, z.B. im Bereich der Geschlechterbeziehungen oder Migration, beschäftigte. Die Referentin führte in diesem Kontext einen erweiterten Klassenbegriff ein, der neben Klassenverhältnissen auch gesellschaftliche Hierarchisierungen im Zusammenhang mit den Kategorien Geschlecht und ‚Ethnizität‘ explizit macht. Eine solche Perspektive steht Ansätzen entgegen, welche die Arbeiterklasse implizit als weiß und männlich charakterisieren.
Einen weiteren thematischen Schwerpunkt bildeten gesellschaftliche Kämpfe um Geschlechter- und Genderordnungen, die einen zentralen Ankerpunkt für rechtskonservative Kräfte bilden. Der Input von JENNIFER RAMME beleuchtete unter anderem die „familialistische Prägung“ des Nationalismus in Polen. Die anhaltende Relevanz des nationalen Mythos „Mutter Polin“ erklärt sie mit der Form der kollektiven Erinnerung an die Zeit der Besatzung, also dem Narrativ, demzufolge die Nation während der Besatzungszeit in den Familien fortgelebt habe und es die Frauen gewesen seien, die die Nation durch Reproduktion über Generationen hinweg bewahrt hätten. Vor diesem Hintergrund erklärt die Referentin auch die Prominenz der Deutungsfigur von „Abtreibung als Völkermord“ in Polen und leistet damit einen wichtigen Beitrag zur Forschungsdebatte um den Zusammenhang von Gender, Nation und Sexualität.
Am dritten Konferenztag bildeten Migrationspolitik und Asyl die Themenschwerpunkte. Dabei wurde insbesondere diskutiert, welche Auswirkungen der Bedeutungsgewinn der „antidemokratischen Konservativen“ für Geflüchtete und andere (vermeintliche) Minderheiten habe. ILKER ATAÇ beleuchtete in ihrem Input das „EU-Türkei-Abkommen“ aus postkolonialer Perspektive. Sie argumentierte überzeugend, wie koloniale Kontinuitäten in drei Externalisierungen zum Ausdruck kämen: in der Externalisierung europäischer Grenzen, in der Externalisierung von Geflüchteten aus den liberalen Rechten Europas durch systematische Menschenrechtsverletzungen im Kontext des Abkommens und in der Externalisierung einer europäischen Verantwortung für Fluchtmigration durch die Selbstdarstellung Europas als Opfer einer ‘Migrationskrise‘. In ebenfalls bestechender Prägnanz charakterisierte MAXIMILIAN PICHL das Migrations- und Grenzregime Ungarns. Indem er auf das Typische und das Spezifische dieses äußerst restriktiven Grenzregimes verwies, gelang es ihm, die Verflechtungen lokaler Kontexte in globale Zusammenhänge zu veranschaulichen und damit das Potenzial einer globalen Perspektive zu verdeutlichen. Pichl argumentierte, dass der restriktive Charakter des ungarischen Grenzregimes zwar einerseits vor dem Hintergrund einer in Ungarn parteiübergreifend wirksamen völkischen Ideologie zu verstehen sei, deren historischer Bezugspunkt die Erinnerung an den Verlust ungarischen Staatsgebiets durch den Vertrag von Trianon am Ende des Erstes Weltkrieges sei (Spezifik). Andererseits stehe es aber auch im Kontext des europäischen Asylregimes und spiegele das System zur Sicherung der Europäischen Außengrenze wider (Typik). Auf diese Weise werde die rigorose Abweisung von Geflüchteten an der ungarischen Grenze eben mit dem Verweis auf die Regelung der ‚sicheren Drittstaaten‘ legitimiert. In der anschließenden Diskussion kam jedoch vor allem der Vortrag von HELGE SCHWIERTZ zur Sprache. Schwiertz stellte die für den deutschen Fall typische Gleichzeitigkeit von einem einerseits restriktiven Migrationsmanagement und einem andererseits solidarischen heraus. Er argumentierte, dass man insofern von einer „anti-migrantischen Hegemonie“ sprechen könne, als dass Migration in Deutschland generell für problematisch befunden würde und daher stets legitimiert werden müsse, woraus schließlich Klassifizierungen in „nützliche“ und „schädliche“ Migration resultierten. Daraus folge, dass Entrechtung von Migrant_innen die Regel und Berechtigung die Ausnahme sei. In der Diskussion wurde dann aber vor allem die Frage erörtert, inwiefern der Begriff der Hegemonie vor dem Hintergrund wirksamer solidarischer und demokratischer Praktiken – wie beispielsweise Initiativen, die sich für die Rechte von Geflüchteten einsetzen oder das Engagement kirchlicher Wohlfahrtsverbände – zu stark sei und wie man die beobachtbare Gleichzeitigkeit stattdessen begrifflich fassen könne.
Abschließend möchte ich zwei Problempunkte der Tagung zur Diskussion stellen. Erstens wurden trotz des vielversprechenden Tagungskonzepts kaum Verbindungen zwischen den Diskussionen der spezifischen Regionen gezogen. Dementsprechend blieben auch Schlussfolgerungen zu gemeinsamen Mechanismen, Dynamiken und Gründen der spezifischen Ausformungen aus. Die Aufteilung in Panels vertiefte zwar die Analysen der jeweiligen Regionen, wurde jedoch nicht hinreichend an die Ausgangsfrage nach einem globalen Trend „antidemokratischen Konservatismus“ rückgebunden. Vielleicht hätte eine Einteilung der Panels nach analytischen statt nach regionalen Gesichtspunkten eine stärker zielgerichtete Diskussion in Gang setzen und Fragen nach den globalen Verflechtungen und Machtverhältnissen forcieren können: Inwiefern gleichen sich etwa postkoloniale postsozialistische Kontexte? Beziehungsweise, inwiefern ist das Verhältnis zwischen globaler Peripherie und Zentrum bedeutsam für die regionalspezifische Ausgestaltung anti-liberaler Konstellationen? Häufig blieb man stattdessen einem ‚methodologischen Nationalismus‘ verhaftet, statt die Chance zu nutzen, auf der Grundlage von verschiedenen Regionalexpertisen auf über- und ineinandergreifende Dynamiken zu schließen.
Darüber hinaus wurde der politische Anspruch der Tagung, nämlich der Transnationalisierung des Rechtsrucks mit einer transnationalen Zusammenarbeit im akademischen Bereich zu begegnen, zum Teil durch das eigene eurozentrische Erkenntnisinteresse konterkariert. Besonders stark zeigte sich das in dem äußerst ungleich verteilten Interesse an den einzelnen Regionen. Insbesondere das Türkei-Panel, das hauptsächlich aus kritischen, aus der Türkei stammenden und derzeit im deutschen Exil arbeitenden Wissenschaftler_innen bestand, weckte so wenig Interesse, dass es mit einem weiteren „Randgruppen“-Panel – dem zu Osteuropa – zusammengelegt werden musste. Um zukünftig eine integrative Debatte zu ermöglichen – denn dieses hier angesprochene Problem steht ja vielleicht exemplarisch für einen generellen Trend in der wissenschaftlichen Landschaft,[1] erscheint es lohnenswert, die Gründe für eine solche Asymmetrie auch nachträglich noch zu diskutieren. Zu diesem Zweck könnte man sich, erstens, offensiver mit der Frage nach dem Mehrwert einer globalen Perspektive befassen, etwa in Hinblick auf die Erklärung des Erstarkens rechtsautoritärer Kräfte, aber auch bezüglich der Verflechtung globaler und lokaler Kontexte. Zweitens wäre eine Auseinandersetzung mit der Rolle der eigenen Sozialisation und Positionierung im deutschen Wissenschaftssystem, in dem die Frage nach Peripherie/Zentrum häufig ausgeklammert bleibt, sinnvoll. Drittens könnte auch eine Beschäftigung mit Fragen nach den Strukturen von Forschungsfinanzierung und -wettbewerb in Deutschland sachdienlich sein – denn sie scheinen einen kritischen Blick auf globale Zusammenhänge zu erschweren.
Fußnoten
- Siehe etwa den Tagungsbericht „Geschichtswissenschaft in politischen Zeiten“, Soziopolis 4.10.2018
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Hannah Schmidt-Ott.
Kategorien: Rassismus / Diskriminierung Politische Theorie und Ideengeschichte Macht
Zur PDF-Datei dieses Artikels im Social Science Open Access Repository (SSOAR) der GESIS – Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften gelangen Sie hier.
Empfehlungen
Uneinigkeit und Recht und Freiheit
Rezension zu „Der Liberalismus der Rechte“ von Judith N. Shklar
Über den Westen nichts Neues
Michael G. Hanchard durchmustert einmal mehr die unrühmliche Vergangenheit der modernen Demokratien
Über den Mut, Widersprüche zu riskieren
Rezension zu „Der Streit um Pluralität. Auseinandersetzungen mit Hannah Arendt“ von Juliane Rebentisch