Carsten von Wissel | Rezension | 23.04.2024
Der lange Marsch einer Institution
Rezension zu „Aufbruchstimmung. Die Universität Bremen und das Projekt Hochschulreform“ von Cornelius Torp (Hg.)
Kaum eine andere Universität in Deutschland ist so sehr mit dem Hochschulreformdiskurs verschränkt wie die 1971 spät gegründete Universität Bremen. Nicht metaphorisch, sondern tatsächlich ist sie auf Sand gebaut, um genau zu sein: 1,5 Millionen Kubikmeter davon sind ins nasse Marschland hineinplaniert worden, um darauf Betonbauten gründen zu können. Dass Bremen zu „einer Art Skandalfall der westdeutschen Universitätsgründungen in den 1960er und 1970er Jahren werden konnte“ (S. 9), wie Herausgeber Cornelius Torp in seinem einleitenden Beitrag feststellt, ist allerdings nicht dem Sand geschuldet. Der Sammelband, der die Beiträge einer Vortragsreihe anlässlich des 50. Gründungstages der Bremer Universität zusammenbindet, fragt nach den Ursachen für das besondere, mit starken Wertungen verbundene Bild, das der Bremer Universität seit ihrer Gründung eignet.
Gleich zum Einstieg seines Einleitungskapitels fragt Torp, warum ausgerechnet Bremen zum oben zitierten Skandalfall der westdeutschen Universitätsgründungen der späten 1960er- und frühen 1970er-Jahre wurde – all der Gründungen, die sich erstens vor dem Hintergrund einer Kapazitätskrise der Universitäten, zweitens einer Sinnkrise des Studiums, drittens einer Krise der wissenschaftlichen Forschung und viertens einer Strukturkrise der Universitäten selbst ereignet hätten. All dies seien Krisenwahrnehmungen, die sich nicht auf Basis einer klaren, theoriegestützten Diagnose etabliert, sondern auf einem Bündel von Erwartungen und Zuschreibungen basiert hätten. Torp diskutiert in seinem Einleitungskapitel diese Krisenwahrnehmungen und spannt sodann – auch mit Blick auf die oben genannte Ausgangsfrage – das hochschulpolitische Panorama der Bundesrepublik jener Jahre auf. Dieser spannende Bogen soll hier, ergänzt um eine gegenwartspolitische Perspektive, zunächst skizziert und dem Blick auf die weiteren Aufsätze vorangestellt werden.
Bremen war insofern ein Sonderfall, als es die einzige Universität war, die in einem Bundesland gegründet wurde, in dem es bis dahin noch keine gab. Damit gingen einzig in Bremen Universitätspolitik und Begründung von Wissenschaftspolitik eines Bundeslandes eins in eins. Nicht zuletzt aus diesem Grund dauerte der Gründungsprozess insgesamt nicht weniger als zehn Jahre und unterlief dabei mehr als eine Häutung. Er begann mit der Ende 1961 fertig gewordenen Denkschrift des Göttinger Hochschullehrers Hans Werner Rothe. Rothe war sehr humboldtisch gestimmt und projektierte die zu gründende Universität als eine Campusuniversität, die auf innenstadtnahem Gelände als klassische Volluniversität mit Medizin und Theologie entwickelt werden sollte. Nur gab es dafür auch nach 1962 keine innenstadtnahe Fläche von ausreichender Größe. Auch fehlte es, trotz einer Beteiligung von Bund und Ländern, an Geld, was Anlass zu Konflikten bot. Nachdem sich die Mitglieder wegen strittiger Finanzierungsfragen überworfen hatten, löste sich der um Rothe zusammengestellte Gründungsausschuss aus 16 Professoren nach einigen Jahren auf. Ein zweiter Gründungssenat, an dem dann auch Studierende beteiligt waren, zerschellte wenige Jahre später an unüberbrückbaren Differenzen zwischen den Statusgruppen.
Das zeige, so Torp, dass die Bremer Universität mitten in die Turbulenzen der frühen 1970er-Jahre hineingegründet worden war – und die junge Universität nahm dabei fast alles an Gepäck auf, was in den frühen 1970er-Jahren möglich war. Verantwortlich dafür waren nicht zuletzt die selbstgesteckten Ansprüche: Reformierter sollte sie sein als alle anderen Universitäten, offener zur Gesellschaft hin und auch demokratischer. Anders als alle anderen damaligen Neugründungen war sie weder als explizite Forschungsuniversität (Bielefeld, Konstanz) noch als Entlastungsuniversität (Bochum, Regensburg) und auch nicht als Gesamthochschuluniversität (Kassel) angelegt worden. Stattdessen legte das Bremische Universitätsprojekt Wert auf eine Trias von Projektstudium, gesellschaftskritischem Anspruch und Drittelparität und provozierte damit auch diesseits und jenseits der Grenzen des Städtestaats. Diesen institutionslogischen Mix empfanden viele seinerzeit als links und die Universität tat damals nicht viel, derlei Eindrücke zu zerstreuen. Man versuchte, Hierarchien gar nicht erst entstehen zu lassen, verzichtete auf einen akademischen Mittelbau (indem man Assistenzprofessoren einstellte) und setzte alle in Großraumbüros. Auch damit aktivierte man allerlei Reaktanzen innerhalb des hochschulpolitischen Feldes.
Auch deshalb setzte, so Torp, schnell ein Weg einer institutionsspezifischen Normalisierung ein, dessen Bremer Komponente darin bestand, die Universität – nicht zuletzt auch aufgrund standortpolitischer Nützlichkeitserwartungen – in eine natur- und technikwissenschaftliche Richtung auszubauen. Aus Sicht der in Bremen regierenden SPD war das ein gangbarer Weg, den gesellschaftspolitischen Impetus der Universitätsgründung etwas abzupuffern.
Aus dieser Ur- und Frühgeschichte der Bremer Universität resultierte ein ganzes Bündel von noch heute wichtigen Besonderheiten und eigentümlichen Spannungsmomenten, die es so an keinem anderen Universitätsstandort gibt. Dazu gehören etwa der vergleichsweise hohe Technikwissenschaftsanteil, aber auch die im Ländervergleich niedrigsten Ausgaben pro Studierender oder der von landesüblich hohem Gewicht gewerkschaftlicher Akteure geprägte Hochschulbetrieb und die große Bedeutung von Drittmitteln im universitären Finanzbetrieb.
Der Band, der auch diese Spannungsmomente auszuloten versucht, gliedert sich in drei Teile: Einen ersten, der sich der Gründung und ihren Begleitumständen widmet, einen zweiten, der den universitären Alltag damals und heute thematisiert, und einen dritten, der in theoretischer Absicht einmal auf geistes- und einmal auf sozialwissenschaftliche Weise Gegenwart und Zukunft des Wissenschaftssystems in den Blick nimmt. Die Aufsätze der ersten beiden Blöcke versuchen zudem, auch jeweils lokale, örtliche und überregionale Dimensionen miteinander zu verbinden. In den Fällen, in denen die Verbindung der verschiedenen Zeitebenen und Dimensionen gelingt, erweist sich der Ansatz als ausgesprochen gewinnbringend. Dem Band ist stellenweise anzumerken, dass pandemiebedingt viele der Vorträge als Zoom-Webinare stattfinden mussten, und es deshalb kaum möglich war, die Vorträge miteinander in eine Resonanz zu bringen. Die Entscheidung, auf ein Autor*innenregister und eine Vorstellung der Autor*innen zu verzichten, trägt auch nicht dazu bei, die zum Teil methodisch und stilistisch mitunter sehr heterogenen Texte zusammenzubinden. Dennoch vermittelt der Band insgesamt einen guten Überblick über Entstehungs- und Rechtfertigungskontext einer besonderen Universität und präsentiert interessante Ausblicke, wie es um die Zukunft der Universität Bremen bestellt sein könnte.
Den Anfang der Aufsätze macht Wolfgang Kraushaar, der sich als Zeitzeuge und Zeithistoriker zu Wort meldet, ohne allerdings selbst in Bremen dabei gewesen zu sein. Als Chronist der Achtundsechziger-Bewegung liefert er eine Beschreibung der Startkonfiguration der Bremer Universität. Zu den Urahnen der Reformen nach 1968 zählt Kraushaar auch Wilhelm von Humboldt, den er als Reformer liest. Die hochschulpolitischen Debatten der Nachkriegsjahre deutet er als Zwist zwischen Rechts- (Anrich, Heimpel, Schelsky, usw.) und Linkshumboldtianern (Horkheimer, Adorno, Abendroth, etc.). Den dann tatsächlich erfolgreichen Start des Bremer Universitätsprojekts verbindet Kraushaar mit dem Amtsantritt des ehemaligen Göttinger Rektors Walter Killy, der von 1968 bis 1970 dem Gründungsausschuss vorstand. Unter Killy, so Kraushaar, erfolgte der Abschied vom „Gestern der Ordinarienuniversität“ (S. 40): Auf die Einrichtung von Fakultäten wurde ebenso verzichtet wie auf die Einführung der Theologie, was eine entschiedene Abkehr von Rothes Volluniversitäts-Konzept bedeutete. Aber auch Killys Amtszeit blieb kurz, er kam mit den drittelparitätisch besetzten Gründungsgremien nicht zurecht. Dies zu schaffen, war seinem Nachfolger Thomas von der Vring vorbehalten, einem jungen, sozialdemokratisch sehr aktiven Privatdozenten aus Hannover. Aber auch von der Vring vermochte die Gründungskonflikte, die aus Interessen- und Wahrnehmungsgegensätzen der Statusgruppen resultierten, nicht dauerhaft zu befrieden, insofern knallte die als Reformerischste der Universitäten gedachte Bremer Universität frontal in die Reaktanzen des hochschulpolitischen Feldes und der überregionalen Fachcommunitys. Schnell galt sie als „rote Kaderschmiede“ (S. 51). Einen wichtigen Einschnitt markierte schließlich das Urteil des von Professoren dominierten Bundesverfassungsgerichts, das die im Niedersächsischen Vorschaltgesetz geregelte Drittelparität für unvereinbar mit der Wissenschaftsfreiheit erklärte. Das bedeutete praktisch das Aus für den Anspruch, die demokratischste und reformorientierteste Universität Westdeutschlands zu sein, und die Universität Bremen begab sich auf ihren langen Pfad in die hochschulpolitische Normalisierung.
Um die Gründungsgeschichte geht es auch im Beitrag des Kasseler Historikers Wilfried Rudloff, der aber, anders als Kraushaar, eine stärker politikgeschichtliche Perspektive einnimmt. Rudloff beschreibt, wie die Universitätsgründungsprojekte institutionell angegangen wurden, wobei er sich neben Bremen insbesondere auf Hessen konzentriert. Rudloff skizziert dabei ein Moment, das für jede Art Bremer Wissenschaftspolitik bis heute prägend bleiben sollte: die Idee, dass Wissenschaft Verwertungsinteressen (in einem weiten Sinne) zu erhellen habe (S. 79). Dabei beobachtet er einen ganz eigenen Weg Bremer Hochschulautonomie, der darin bestand, dass die ehemalige Hochschulabteilung des Bildungssenators geschlossen aus der senatorischen Verwaltung in die Rektoratsverwaltung der neugeschaffenen Universität überwechselte (S. 81 f.).
Im Anschluss daran fokussiert die ebenfalls in Kassel lehrende Erziehungswissenschaftlerin Anne Rohstock dann auf die große Erzählung: Sie nimmt die Entstehung von Wissenschaftspolitik im Zusammenhang des 2. Weltkrieges in den Blick, in deren Zuge gegen Ende des Prozesses sich schließlich auch das Feld der Hochschulpolitik etablierte. Im Protestgeschehen der späten 1960er-Jahre sieht sie zwar eine treibende Facette dieser Entwicklung, aber weder den einzigen noch den bestimmenden Faktor. Entscheidend war nach ihrer Darstellung vielmehr die im Zusammenhang des Krieges gewonnene Erkenntnis, dass Wissenschaft einen sehr wesentlichen Unterschied macht. Diese Einsicht war umso wichtiger, als sich die demokratischen Gesellschaften dies- und jenseits des Atlantiks nach dem Ende des Krieges abermals in einem Systemkonflikt wiederfanden. Aus diesem Grund sollte plan- und steuerbar werden, welches Wissen, angeeignet von wie vielen, gesellschaftlich verfügbar war. Rohstock liefert damit ein wichtiges Hintergrundmotiv, das in vielen Debatten der Nachkriegsjahrzehnte präsent war, vom „Sputnikschock“ der späten 1950er-Jahre bis zur „Bildungskatastrophe“ der Jahre 1964 ff. Vor dem Hintergrund dieser Debatten und ihrer Motive erschien ein weiterer Ausbau der Hochschulsysteme unabdingbar. Die weitgehend mit sich selbst beschäftigte Ordinarienuniversität als primäres Modell von Wissensproduktion wirkte in diesem Zusammenhang überholt, ein Monument vergangener Zeiten, dessen Schleifen auf der Tagesordnung zu stehen schien.
Den Auftakt zum zweiten Teil des Bandes macht der Historiker Heinz-Gerhardt Haupt, der von 1974 bis 1985 als Hochschullehrer in Bremen wirkte und somit schon relativ früh mit dabei war. Er schildert in seinem Beitrag eine kleine Weisheit, mittels der man in Bremen Konflikte um Stellenbesetzungen einhegte: Man berief auf die Stellen nicht jeweils eine Person, sondern schrieb sie immer gleich als Doppelprofessuren aus und besetzte sie mit zweien. Das vermied Konflikte, wo sie nicht hilfreich gewesen wären.
Geschichtswissenschaften in Bremen waren auf eine gesellschaftswissenschaftliche Ausweitung angelegt. Zudem gab es, Haupt zufolge, auch schon in den 1970er-Jahren globalhistorisch Arbeitende avant la lettre (S. 115), zu einem Zeitpunkt also, als der entsprechende Forschungszweig noch gar nicht etabliert war (und Forschung an der Bremer Universität gesehen eher nachrangig gewesen sei). Haupt schildert auch Probleme in der Lehre seines Faches. So habe man seine Literaturauswahl kritisiert und ihm vorgehalten, nicht hinreichend beachtet zu haben, dass viele Studierende der Arbeiterklasse entstammten und deshalb geringere Englisch- und Französischkenntnisse besäßen.
Eberhardt Syring, Chronist Bremischen Bauens seit Jahrzehnten, hat zu dem Band einen luziden Text zur Baugeschichte der Bremer Universität beigesteuert. Großes hätte entstehen sollen, schreibt Syring. Da, wo heute immer noch der ländliche Ortsteil Blockland ist, sollte sich eine ganze „Hollerstadt“ (S. 131 f.) in das flache, gelegentlich nasse Land ergießen und entlang des Kuhgrabens bis zur Wümme reichen. Eingebettet waren diese Ideen in Erwartungen, die ein Anwachsen Bremens auf mehr als 800.000 Einwohner*innen kommen sahen. Das Universitätsgelände hätte mit der rundherum wachsenden Stadt verflochten werden sollen, allein es kam nicht so. Stattdessen fand sich die Bremer Universität zehn Jahre später in der moorigen Brache links der nach Norden führenden Autobahn wieder. Projektiert und gebaut war das alles im brutalistischen Stil mit einem aufgeständerten, anfangs auch überdachten Verbindungsweg zwischen den Gebäuden, dem sogenannten „Boulevard“ (S. 143 ff.). Weil dieser „Boulevard“ auf der Höhe eines Zweiten Stocks war, gab es auf Erdgeschoss- und Erster-Stock-Ebene zahlreiche Dunkelräume, die nicht immer nur für Haustechnik und Versorgung genutzt wurden.
Abgerundet wird der zweite Teil durch drei weitere Beiträge, die hier nur kurz vorgestellt werden sollen. Zunächst schildert Birte Gräfing, wie die Drittelparität nicht nur am Bundesverfassungsgericht, sondern auch an den Gegensätzen der Beteiligten sowie an deren mitunter wenig überzeugender Erschließung gremienspezifischer Komplexität scheiterte.
Petra Lucht gelingt es in ihrem Beitrag ungleich mehr, dann wieder den Bogen vom Lokalen zum Weiten zu schlagen. Sie fragt, welchen Anteil die Bremer Universität bei der Etablierung von Frauen- und Geschlechterforschung in den Natur- und Technikwissenschaften hatte. Und dieser Anteil war ein ganz erheblicher, auch wenn es der Universität nicht gelang, daraus, auf Dauer gesicherte Studienangebote werden zu lassen, auch in Bremen nicht. Aber Lucht gelingt es dafür nicht nur gut, zu zeigen, wie es um die Anfänge naturwissenschaftlicher Geschlechterforschung bestellt war, sondern sie macht auch verständlich, was das mit der heutigen Situation am Beginn einer neuen Phase der Wissenschaftsgeschichte, in der es um große gesellschaftliche Herausforderungen (Grand Challenges) geht, zu tun hat.
Den Abschluss des Alltagsabschnittes macht der Jurist Manfred O. Hintz, indem er die Entwicklung des Namibia-Projektes der Universität Bremen schildert. Er bleibt dabei ganz bei einer Leistungsbeschreibung des auf staatlichen und insbesondere juristischen Institutionenaufbau bezogenen, auf Jahrzehnte angelegten Projektes.
Den dritten Teil „Gegenwart und Zukunft der Universität“ eröffnet der vormalige DFG-Präsident Peter Strohschneider. Als routinierter Akteur im Wissenschaftsbetrieb weiß Strohschneider, dass Wissenschaftseinrichtungen mehr und anderes leisten müssen, als man von ihnen erwartet, „um leisten zu können, was die Gesellschaft von ihnen erwartet und allein von ihnen erwarten kann“ (S. 237, Hervorh. im Orig.). Deshalb will er Wissenschaft gegen Zumutungen verteidigen.
Zunächst aber spricht er von Überdehnungen in quantitativer, funktionaler und semantischer Hinsicht. Bildungseinrichtungen, die mal für 5 % der (männlichen) Bevölkerung gedacht gewesen seien, könnten nicht unverändert bleiben, wenn sich ihre Angebote mittlerweile an gut 50 % der heranwachsenden Bevölkerung richteten. Eine Reaktion darauf sei zum Beispiel auch die Installation eines neuen Hochschultypus der Fachhochschulen gewesen, allerdings sei diese Art der Differenzierung, vielleicht auch gerade weil sie in Hinblick auf die Universitäten wie eine Differenzierungssperre wirkte, nicht zu Ende gebracht worden. Massenausbildung sei im Wesentlichen an den Universitäten geblieben und keines der universitären Massenfächer sei an die neugeschaffenen Fachhochschulen verlagert worden.
Aus solcher Inkonsequenz rührt für Strohschneider auch die Unschärfe des Bildes, das die Universität von sich habe; man wisse allenfalls undeutlich, was die Universität ausmacht und das, was man wisse, sei von minderer Verbindlichkeit. Lehrseitig ist es Strohschneider zufolge im Rahmen des Bologna-Prozesses zu einer staatenübergreifenden Vereinheitlichung von Anspruchsniveaus gekommen, in Hinblick auf die Forschungsfunktion hingegen sieht er einen Differenzierungsimpuls. Aber gerade in Differenzierung gelte es einen Wert zu erkennen, denn Neues könne nur da entstehen, wo man es nicht unbedingt erwarte und eben darin liege der Grund für eine Freistellung von Zwecksetzungen. Diese durchaus paradoxe Spannung zwischen Freiheit und Leistungskraft müsse in der Universität verwaltet werden.
Der den Band abschließende Aufsatz des Kasseler Soziologen, Hochschul- und Wissenschaftsforschers Georg Krücken umreißt den Stand der Hochschul- und Wissenschaftsforschung aus einer, wenn man so will, bielefeldisch geprägten Perspektive. Krücken rückt die Universität als Organisation ins Blickfeld und generiert auch dadurch einen nennenswerten, über die Lektüre hinausreichenden Gebrauchswert, dass er relevante Literatur im Anmerkungsapparat zumindest kursorisch benennt. Er dekliniert die Veränderungen der Zeit anhand der drei Komplexe Forschung, Lehre und Dritte Missionen durch
Sein Ausgangspunkt ist die Multiplizierung von Wettbewerb, was die Forschung betrifft. Diese sieht er auf drei Ebenen: in Hinblick auf die Selbstverhältnisse von Wissenschaftler*innen untereinander, in Hinblick auf die Selbstbeschreibung von Organisationen (Universitäten, Forschungseinrichtungen) als Wettbewerbsakteure und in Hinblick auf Staaten, die sich im internationalen Kontext als Wettbewerbssubjekte wahrnähmen. Eine kleine Randparadoxie dieser Vervielfachung von Wettbewerb ist womöglich, dass sie sich wie eine Zurückweisung von Planung anfühlt, tatsächlich aber zu einer Intensivierung von Planung führt. Allerorten wachsen die Stäbe und sogenanntes Wissenschaftsmanagement ist auch wenig anderes als eine neue Form von Forschungsbürokratie. Zumindest in Deutschland, so Krücken, gehe die Intensivierung von Wettbewerb bislang keineswegs mit einer Vermarktlichung oder gar Privatisierung der betreffen Felder einher. Hochschulpolitische Versuche, Studiengebühren als Instrument der Geldbeschaffung zu installieren, wurden schnell wieder beendet.
Lehre sei in den letzten Jahren im Zuge der Pandemie unter einen ungeahnten Veränderungs- und Digitalisierungsdruck geraten. Dabei habe sich gezeigt, dass eine vollständige Umstellung auf digitale Lehre nicht möglich ist. Darauf zielende Ideen würden verkennen, dass es im universitären Alltag auch um soziale Aspekte und nicht nur um die Weitergabe von Wissen geht. Analog gelte in Hinblick auf die sogenannte Dritte, auf Transfer zielende Mission der Universitäten, dass die zu Organisationen gewordenen Universitäten ihrerseits weit mehr Strukturen herausbilden würden, deren Gegenstand die Vermittlung und Weitergabe von in der Forschung geschaffenem Wissen ist. Dies könne nicht mehr nur indirekt über die Verknüpfung von Lehre mit der Forschung oder das Wirken einzelner, als Hochschullehrer*in der Organisation verbundener Akteure erfolgen.
Krückens Aufsatz rundet damit einen multiperspektivischen Sammelband ab, der nicht nur lokalhistorisch relevant ist, sondern ein Schlaglicht darauf wirft, wie Universitätsreform vor Ort möglich gewesen ist und Wirklichkeit geschaffen hat. Der Ausblick auf die Zukunft der Universität, den der Band gewährt, bleibt dabei eher allgemein und insofern unspezifisch, als der besondere Weg der Universität Bremen sich nicht in eine von allen anderen Universitäten in besonderer Weise unterscheidbare Zukunft fortschreiben dürfte.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Karsten Malowitz.
Kategorien: Bildung / Erziehung Geschichte der Sozialwissenschaften Gesellschaft Gruppen / Organisationen / Netzwerke Universität Wissenschaft
Zur PDF-Datei dieses Artikels im Social Science Open Access Repository (SSOAR) der GESIS – Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften gelangen Sie hier.
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