Katharina Pistor | Rezension | 24.08.2021
Der Nährboden des Kapitals
Rezension zu „Zwischen Globalismus und Demokratie. Politische Ökonomie im ausgehenden Neoliberalismus“ von Wolfgang Streeck
In seinem jüngsten Buch Zwischen Globalismus und Demokratie verschärft Wolfgang Streeck mehrere Grundthesen, die er bereits in früheren Werken entwickelt hatte. Erstens, Kapitalismus lässt sich nur durch Demokratie einbetten und kontrollieren. Zweitens, Demokratie ist nur möglich im Rahmen souveräner Nationalstaaten. Drittens, diese Staaten haben ein nationales Eigeninteresse, das aus der Besonderheit ihrer Geschichte und Kultur erwachsen ist und welches sie im Verhältnis zu anderen Staaten vertreten würden, wenn sie nur dürften. Viertens, supra-nationale Organisationen und Vertragswerke, insbesondere die EU, schwächen demokratisch legitimierte souveräne Nationalstaaten und überformen sie in imperiale Superstaaten, die letztlich an ihrer eigenen Unregierbarkeit scheitern müssen. Fünftens, die Antwort darauf kann nur sein, nationalstaatliche Souveränität wieder zu stärken.
Die wichtigsten Akteure in dieser Gemengelage sind auf der innerstaatlichen Ebene Arbeit und Kapital, auf der zwischenstaatlichen Ebene mehr oder weniger souveräne Staaten und auf der supranationalen Ebene komplexe Gebilde wie die EU, die Welthandelsorganisation (WHO) sowie kosmopolitische Eliten, die eine global governance basierend auf Expertise und technokratischen Lösungen einer genuinen Demokratie vorziehen und dabei übersehen, dass sie letztlich den Kapitalisten, vor allem multinationalen Unternehmen aus den größten imperialen Staaten das Wort reden.
Für Streeck sind diese Akteure in ihrem Verhalten idealtypisch genug, sodass es keiner weiteren Diskussion bedarf, ob es in der Tat richtig ist, dass sich die Interessenkonflikte innerhalb von Staaten auf den klassischen Klassenkonflikt zwischen Arbeitern und Kapital reduzieren lässt, ob Demokratien meist auf der Seite der „kleinen Leute“ (Streeck) stehen oder ob Kapital vor allem von der ‚Gleichschaltung‘ von Rechtsregeln und Institutionen, dem einheitlichen Superstaat, profitiert. Nur wenn man diesen Annahmen widerspruchslos zustimmt, kann man sich der Schlussfolgerung anschießen, dass „Imperialismus und Superstaatismus […] die real existierenden Formen von global governance als institutioneller Rahmen für kapitalistische Globalisierung“ (S. 509) seien und dann folgerichtig zu der von Streeck vorgeschlagenen kleinstaatlichen Lösung gelangen.
Gegenthesen: Erstens, ohne Nationalstaaten gäbe es den Kapitalismus nicht. [...] Zweitens, der Nährboden für Kapital ist Arbitrage: das Ausnutzen von Widersprüchen und Konflikten für die Erlangung relativer Vorteile gegenüber anderen.
Ich möchte hierauf mit zwei Gegenthesen antworten. Erstens, ohne Nationalstaaten gäbe es den Kapitalismus nicht. Sie hegen ihn nicht nur ein (auch wenn sie das von Zeit zu Zeit versuchen); sie ermöglichen ihn. Zweitens, der Nährboden für Kapital ist Arbitrage: das Ausnutzen von Widersprüchen und Konflikten für die Erlangung relativer Vorteile gegenüber anderen. Vereinheitlichung und Gleichschaltung dienen der Skalierung, aber die relativen Wettbewerbsvorteile schwinden, wenn alle das Gleiche machen. Sobald diese Möglichkeit real wird, werden neue Schnittstellen im System ausfindig gemacht und das Spiel beginnt von neuem.
Die erste These habe ich ausführlich in meinem Buch Der Code des Kapitals. Wie das Recht Reichtum und Ungleichheit schafft (2020) erläutert. Durchsetzungsfähige Rechtsansprüche sind die Grundlage für Kapital jenseits der primitiven, mit physischer Gewalt betriebenen Akkumulation. Diese Rechtsansprüche stammen in erster Linie aus dem Privatrecht, das heißt dem Eigentums-, Vertrags, Unternehmens- und Konkursrecht. Theoretisch können sich alle dieser Institutionen bedienen und sie mehr oder weniger zu ihrem eigenen Nutzen einsetzen. Tatsächlich sind die „kleinen Leute“ in der Regel passive rule takers und halten sich an das vorgegebene dispositive Recht. Die Gestaltungsmacht, welche diese Rechtsinstitutionen privaten Akteuren zugestehen, kommt daher vor allem denjenigen zugute, die sich diese qua anwaltlicher Hilfe leisten können. Die Rolle des Staates in diesem System ist es, sein Zwangsmonopol für die Durchsetzung dieser Rechte zur Verfügung zu stellen.
Das gilt sowohl intern als auch extern, denn wenn aus verschiedenen Rechtsordnungen stammende Parteien miteinander wirtschaften, stellt sich die Frage, wessen Rechtsordnung denn für einen bestimmten Vertrag, für eine Eigentums- oder Kreditsicherungsrecht, oder aber für eine Gesellschaft Anwendung finden soll. Dieses Rechtsgebiet, das in Europa unter der Bezeichnung „Internationales Privatrecht“ firmiert, aber besser mit dem englischen Begriff des „conflict of laws“ charakterisiert wird, ist ein wichtiger Nährboden für Kapital. In den USA gilt dieser Sachverhalt selbst intern. Denn die Kerngebiete des Privatrechts liegen dort in der Jurisdiktion der Einzelstaaten, und nicht – anders als beispielsweise in der Bundesrepublik – in der Hand der Föderation. Aufgrund der Diversität einzelstaatlicher Systeme ist ein reger regulativer Wettbewerb entstanden, nachdem die Gerichte die „commerce clause“ in der Verfassung dahingehend ausgelegt haben, dass ein Staat das Recht eines anderen nicht grundsätzlich infrage stellen darf. Kraft des Zusammenspiels zwischen lokalem Recht und gegenseitiger Anerkennung dieses Rechts hat sich eine weit höhere Homogenisierung des Rechts durch law shopping beziehungsweise forum shopping ergeben, als sie Europa über Jahrzehnte durch die von Brüssel betriebenen Rechtsangleichung zustande gebracht hat. Letztere scheiterte nicht zuletzt an den Nationalstaaten und deren Juristen, die an nationalen Rechtsinstitutionen festhielten. Einen Ausweg boten seit den 1990er-Jahren Maßnahmen zur Angleichung des Conflicts-of-Law-Regelwerks, das heißt eine weitgehend freie Rechtswahl nach US-amerikanischem Vorbild – jedenfalls für die, die hieraus Vorteile schöpfen können.
So gesehen stellt sich die „Hyperglobalisierung“ (Rodrik) weniger als Trend „nach oben“, hin zum Globalen und vermeintlich Staatsfernen, dar, sondern als immanent staatlich und lokal – letztlich als Scheitern des Versuches einer konstruktiven respektive positiven zwischenstaatlichen Lösung. Im Resultat hat dieses Scheitern unter dem Druck des Kapitals zu „negativer Integration“ (Scharpf) geführt, also statt einer Rechtsangleichung zur Öffnung der Grenzen mit freier Rechtswahl. Wie problematisch die Initiative sein kann, multilaterale oder globale governance durch bilaterale zu ersetzen, zeigt sich nicht zuletzt bei den Investitionsschutzabkommen. Die knapp 3000 bilateralen Abkommen, die derzeit in Kraft sind, stellen die Antwort hegemonialer Staaten auf das Scheitern der Multilateralen Investitionsschutzabkommen dar. Von Kooperation und effektiver Vertretung nationaler Interessen kann nicht ernsthaft die Rede sein, wenn ausländischen Investoren umfassend Schutz zugesichert wird, ohne diesen an die eigenen verfassungsrechtlichen Grundsätze zu binden. Ohne Zweifel sind diese Abkommen nicht nur der Ausdruck einer neoliberalen Ideologie, sondern auch eines zwischenstaatlichen Kräftespiels.
Die Entwicklung des Kapitalismus korreliert mit der Entwicklung des modernen Nationalstaates. Die USA waren erst kapitalistisch und danach demokratisch, wie Jonathan Levy in seinem Buch Ages of American Capitalism (2021) betont. Gleiches gilt für die meisten anderen Länder. Nichtsdestotrotz haben sich in diesen Ländern Demokratien entwickelt. Zwar gibt es viele Länder, die kapitalistisch, wiewohl nicht demokratisch sind, aber kaum eine Demokratie, die nicht kapitalistisch ist – Indien bis in die 1990er-Jahre bildet eine wichtige Ausnahme. Diese Feststellungen sollen nicht den Kapitalismus rechtfertigen oder eine Neuformulierung des Slogans aus den Hochzeiten des Neoliberalismus sein, wonach freie Märkte und Demokratien notwendig zusammengehören. Vielmehr sollen sie der Unterstützung meiner zweiten These dienen, dass die Arbitrage Nährboden des Kapitals ist. Wenn Recht, wie ich argumentiere, die Grundlage, eben der Code des Kapitals ist, dann stellt sich die Frage, welche politischen Systeme mit höherer Wahrscheinlichkeit einem sich immer wieder neue erfindenden Kapitalismus die notwendigen rechtlichen Grundlagen liefert. Kaum monolithische gleichgeschaltete Institutionen, die nur schwer veränderbar sind. Wohl aber pluralistische Gemeinwesen mit wechselnden Koalitionen, die gegeneinander ausgespielt werden können. Neben die rechtliche Arbitrage, die Möglichkeit freier Rechtswahl intern und zwischenstaatlich, tritt die politische Arbitrage, die mögliche Eingriffe in die durch subjektive private Rechte geschaffenen Pfründe verhindert oder solche, die nicht verhindert werden konnten, wieder verwässert. Beispiele ließen sich aus den innenpolitischen Debatten vieler Länder anführen. Um dem Bild eines imperialen Einheitsstaates, das Streeck von den USA zeichnet, entgegenzuwirken, sei ein Beispiel aus diesem Land herangezogen, nämlich der Torpedierung des New Deals in der Nachkriegszeit. Der New Deal leitete eine neue Phase des US-amerikanischen Kapitalismus ein, das Zeitalter der „Kontrolle des Kapitals“, wie Levy es nennt.[1] Sie hielt allerdings nicht lange an – zum Teil, weil Amerikas Wirtschaftswachstum während des Krieges Erwartungen für dessen Fortsetzung mit allen Mitteln geweckt hatte, aber auch wie Ira Katznelson dargelegt hat, weil sich alte Koalitionen wieder neu formierten zwischen Demokraten in den Südstaaten, die Arbeit mit Rasse gleichsetzten und sich für die Fortsetzung der Unterdrückung der schwarzen Bevölkerung einsetzten, sowie Republikanern aus den Nordstaaten, für die Arbeitnehmerschutz einen Angriff auf ihre Verfügungsrechte darstellte.[2]
Streeck weist selbst darauf hin, dass das goldene Zeitalter der Nachkriegszeit auch in Europa kaum dreißig Jahre gedauert hat, macht hierfür aber die Kaste der Globalisten verantwortlich, die aus merito- beziehungsweise technokratischen Gründen dem globalen Kapitalismus den Weg ebneten. Damit räumt er den Wortführern des Kapitals allerdings mehr Macht ein als ihnen gebührt. Tatsächlich bedurfte es eines massiven Lobbyismus auf innerstaatlicher wie europäischer Ebene, geschürt durch innen- und außenpolitische Konflikte (68er, Ölkrise, Terrorismus, Inflation, NATO-Aufrüstung, Ende des kalten Krieges etc.), um den Staat zu animieren, das noch einmal zu tun, was er Polanyi zufolge schon einmal getan hatte: Den Selbstschutz der Gesellschaften aufzubrechen, um dem Kapital auf diese Weise neue Ressourcen zu verschaffen. Letztlich ist ‚der Staat‘ kein autonomer Akteur, sondern spiegelt gesellschaftliche und wirtschaftliche Machtverhältnisse wider. Dabei stellte sich wieder einmal heraus, dass Machtverschiebungen im Inneren am besten von außen eingeleitet werden (auch bei Polanyi waren es die Fernhändler und ihre Märkte außerhalb der Stadtmauern).
Wolfgang Streeck hat ein Bild der politischen Ökonomie des ausgehenden Neoliberalismus gezeichnet, das – so wie der Umschlag seines Buches – ganz in schwarz-weiß gehalten ist. Ideen und Systeme scheitern. Es gibt nur eine Lösung. Staaten sind so und nicht anders …
Wenn meine Ausführungen auch nur im Ansatz richtig sind, so hätte dies wichtige Folgen für die Strategie, die Streeck mit Blick auf die nötige Änderung des bestehenden Systems vorschlägt. Aus der Krise des neoliberalen Globalismus werden die Nationalstaaten der Nachkriegszeit keineswegs wieder hervortauchen wie Phönix aus der Asche. Derartige Staaten existieren nicht mehr, denn ihr wesentliches Substrat, ihre Rechtsordnungen, wurden neu codiert, wodurch neue Machtkonstellationen realisierbar und instituiert wurden. Selbst wenn es möglich wäre, den Phönix wieder erstehen zu lassen, würde seine Rückkehr im Zweifelsfall nur einen neuen Zyklus der Arbitrage einleiten, des Aushebelns von Koalitionen durch geschicktes Ausspielen ihrer Differenzen im Lichte einer reformulierten, wie immer gearteten sozialen Utopie.
Wolfgang Streeck hat ein Bild der politischen Ökonomie des ausgehenden Neoliberalismus gezeichnet, das – so wie der Umschlag seines Buches – ganz in schwarz-weiß gehalten ist. Ideen und Systeme scheitern. Es gibt nur eine Lösung. Staaten sind so und nicht anders … In Streecks Darstellung kommt eine Hoffnung auf Harmonie zu Wort, die dem Gleichgewichtsstreben der Ökonomen ähnelt. Und tatsächlich diskutiert der Kölner Soziologe wohlwollend „Dani Rodriks Trilemma“ (S. 258), demzufolge es unmöglich sei, Nationalstaat, Demokratie und „tiefe wirtschaftliche Integration“ oder Hyperglobalisierung auf einen Nenner zu bringen. Es bedarf einer Entscheidung für zwei von drei Zielen und zur Rettung der Demokratie muss die Hyperglobalisierung zurückgeschraubt werden. Dem würde ich allerdings entgegenhalten, dass es für das Kapital keinen besseren Nährboden gibt als die Innenfläche des Trilemma-Dreiecks – als unversöhnliche Widersprüche, die für stets neue Arbitragemöglichkeiten sorgen. Der Kern des Problems ist ein Kapitalismus, der ohne Staatsgewalt, Recht, vielleicht auch Demokratie nicht operieren kann, sich ihrer in seinem blinden Überlebenskampf aber eher entledigen wird als unterordnen. Am Ende seines Buches stellt Streeck eine Transformation des Kapitalismus in Aussicht. Wer eine solche Metamorphose wirklich will, muss freilich mehr tun als auf harmonische Zeiten nach der Krise zu hoffen.
Fußnoten
- Jonathan Levy, Book Three: The Age of Control, 1932–1980, in: ders., Ages of American Capitalism, A History of the United States, New York 2021, S. 391–585.
- Ira Katznelson, The Politics of Power. A Critical Introduction to American Government [1975], New York 2011.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Martin Bauer.
Kategorien: Demokratie Globalisierung / Weltgesellschaft Internationale Politik Recht Staat / Nation Wirtschaft
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