Stefan Hirschauer | Essay | 01.11.2018
Der Quexit. Das Mannemer Milieu im Abseits der Soziologie
Eine Entgegnung auf Hartmut Esser
Die im Juli 2017 erfolgte Gründung der Akademie für Soziologie hat innerhalb der deutschsprachigen Soziologie lebhafte Diskussionen hervorgerufen. Die in den Grundsätzen der Akademie formulierte empirisch-analytische Ausrichtung sowie die inhaltliche Zielsetzung der neuen Organisation bedeuten nach Ansicht vieler Soziologinnen und Soziologen nicht nur eine Herausforderung für die bestehende wissenschaftliche Fachvertretung der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, sondern auch für das methodische und theoretische Selbstverständnis der gesamten Disziplin. Auf die erste der beiden Herausforderungen hat die DGS im Frühjahr 2018 mit einer Stellungnahme öffentlich reagiert. Die offen geführte Auseinandersetzung mit der zweiten Herausforderung stand bislang noch aus. Auf Initiative und Einladung der Zeitschrift für Theoretische Soziologie (ZTS) haben sich nun Hartmut Esser und Stefan Hirschauer der Aufgabe gestellt, die fällige fachinterne Debatte zu eröffnen. Esser hat einen Beitrag verfasst, zu dem Hirschauer eine Entgegnung formuliert hat. Beide Texte sind im Heft 1/2018 der ZTS erschienen. Auf Hirschauers Entgegnung hat Esser inzwischen mit einer Replik reagiert, die zusammen mit weiteren Kommentaren und Stellungnahmen im nächsten Heft der ZTS erscheinen wird. Um der Debatte möglichst breite Aufmerksamkeit zu sichern und weitere Autorinnen und Autoren einzuladen, sich an ihrer geplanten Fortsetzung in der ZTS zu beteiligen (Zuschriften bitte an zts(at)wwu.de; die eingesandten Beiträge werden vorbehaltlich einer redaktionellen Prüfung in einer der nächsten Ausgaben der Zeitschrift für Theoretische Soziologie erscheinen), dokumentiert Soziopolis die Beiträge von Esser und Hirschauer. Den beiden Autoren und den Kollegen der ZTS sei dafür an dieser Stelle herzlich gedankt. – Die Red.
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Der Essay von Hartmut Esser ist eine Art wissenschaftlicher Stellungnahme zur Gründung der sog. »Akademie für Soziologie«. Der Beitrag hat ein für eine Fachzeitschrift ungewöhnliches Diskursniveau, ist sein Referenzpunkt doch eine Art Kamingespräch dreier Fachkollegen in der Nachbarschaft von Essers Alterskohorte, das – wohl zur Erbauung der Leser – in einem professionspolitischen Organ publiziert wurde. Hartmut Esser kommentiert diese Plauderei, mal bissig, mal launig-scherzhaft, so dass man beim Lesen den Eindruck gewinnt, er wäre vielleicht gern dabei gewesen. Dieser Diskussionsbeitrag versucht, vier Gründe zu bestimmen, warum er nicht ›dabei‹ war – soll heißen: warum die quantifizierende, individualistische Soziologie, die Esser exemplarisch verkörpert, sich so sehr an den Rand ihres Faches manövriert hat, dass sie nun begonnen hat, ihren organisatorischen Rückzug aus diesem anzutreten, der sich – je nach Entwicklung – als bloße Etablierung einer Wohlfühlnische zur Stärkung des Selbstbildes oder als Anfang des Auszugs der quantitativen Sozialforschung aus der Soziologie darstellt: als Quexit.
Essers Text taugt dabei seinerseits kaum als Referenzpunkt, nicht nur, weil es ihm (wie schon der Plauderei) an Ernsthaftigkeit fehlt, sondern weil sein Denkstil auf Prämissen beruht, die wie Nachrichten aus einer untergegangenen Welt der Soziologie erscheinen: einer bipolaren Welt voller Dualismen (Natur/Geist, Erklären/Verstehen, Individuum/ Gesellschaft usw.), deren gesamtes Koordinatensystem an die Orientierungen der großen Mehrheit der Esser folgenden Generation von Soziologen nicht mehr anschlussfähig ist. Die Frage ist nicht einfach, ob seine Angebote zum Übernehmen der eigenen Prämissen die proklamierte Konsensfähigkeit beanspruchen können (Essers Tonfall lässt offen, ob das noch ernst gemeint ist), sondern ob dieser Diskurs überhaupt noch über eine Sprache verfügt, in der er sich fachuniversell verständlich machen kann. Diese Frage ist – so humoristisch und dialogisch-jovial Essers Essay daherkommt – bitterernst, denn sein Autor kann durchaus beanspruchen, ein spiritus rector hinter der Gründung der sog. ›Akademie‹ zu sein, die ihrerseits eine tiefe Entfremdung der standardisierten Sozialforschung von ihrer Herkunftsdisziplin indiziert.
Dass es sich bei der nun ›empirisch-analytisch‹ genannten Soziologie um eben dieses Segment unseres Faches handelt, ließ schon die Rhetorik des ›Gründungsaufrufes‹ (2017) erkennen, der exakt feigenblattgroße Nischen für qualitative Sozialforschung (»methodisch kontrolliert«) und theoretische Soziologie (»klar und präzise«) ließ. Entsprechend fiel die Liste der Unterzeichner aus. Von den 112 Personen sind – mit drei Ausnahmen – alle Vertreter einer exklusiv quantitativen Sozialforschung, und es ist wohl die hochgradige Schließung dieses Milieus, die der gravierenden Fehleinschätzung der Attraktivität des Programms der standardisierten Sozialforschung zugrunde liegt. Der Gründungsaufruf der sog. ›Akademie‹ sowie Stellungnahmen einiger Proponenten (etwa von Jürgen Gerhards) haben hinreichend deutlich gemacht, welches schmeichelhafte Selbstbild dieses Segment des Faches hat – und welches Bild es von der Soziologie hat: eine in großen Teilen kaum wissenschaftliche, überpolitisierte, maximal semiprofessionelle Disziplin, von deren Auswüchsen es Abstand zu gewinnen gilt. Sowohl die acht Wochen später formulierten ›Grundsätze‹ der Akademie (Grundsätze 2017) als nun auch Essers Beitrag können als instruktiv misslingende Reparaturversuche dieser anmaßenden Selbstdarstellung verstanden werden.
Das Fremdstereotyp, das Hartmut Esser seinerseits evoziert – die in der ›Akademie‹ versammelte Forschung sei »eine eng geführt szientistische, aufklärerisch nur verkleidete, seelenlos-technokratische, geschichtsvergessen-reflexionsunfähige, zahlenbesessene und die Welt nur vermessende, neo-liberalistische Sozialstatistik« (Esser, S. 139)[1] – soll in diesem Diskussionsbeitrag sachlich präziser entwickelt werden. Ich werde vier Bruchlinien explizieren, an denen sachlicher Dissens in Sprachlosigkeit und Kontaktabbruch umschlagen musste: an Fragen der Methoden und des Empiriebegriffes (1.), an theoretischen Engführungen und Fragen disziplinärer Nachbarschaft (2.) an epistemologischer Realitätsverweigerung (3.) und am Verhältnis der Soziologie zur Politik (4.).
1 Methodendualismus und Empiriebegriffe
Der Methodendualismus wird sowohl von Esser als auch in der externen Wahrnehmung der Gründung der ›Akademie‹ deutlich überschätzt, er spielt aber eine gewisse Rolle. Das Dual quantitativ/qualitativ war dabei immer schon eine ›quantizentrische‹ Konstruktion: Die sog. qualitative Sozialforschung ist – wie die Heiden für das Christentum, die Barbaren für die Griechen – eher ein riesiges heterogenes ›Anderes‹, das im selbstdefinierten ›Zentrum‹ zwar inzwischen als irgendwie doch relevante Forschung wahrgenommen wird, dem man aber mit notorisch hegemonialer Geste einerseits das Prädikat »empirische Sozialforschung« verweigert, andererseits mit seinen »Vorgaben« (Esser, S. 150) diktieren möchte, welches Segment von ihm als »methodisch kontrolliert« wissenschaftliche Dignität beanspruchen darf und welches als explorative Hilfswissenschaft zu gelten hat.
Diese Frontstellung ist nicht nur wegen ihres kooperationsfeindlichen Anerkennungsgefälles seit Jahrzehnten völlig fruchtlos geblieben, sie ist auch insofern kurios, als die Besetzung des Labels ›empirische Sozialforschung‹ durch quantitative Verfahren verdeckt, dass genau im weiten Feld der qualitativen Forschung die Bedeutung des ›Empirischen‹ ausgelotet und latent kontrovers verhandelt wird. In einem emphatischen – d.h. über flüchtige visuelle oder mündliche Kontakte hinausgehenden – Sinne ›empirisch‹ kann hier etwa heißen: zum Erleben eines sinnstiftenden Subjektes hin geöffnet (das Ethos der Narrationsforschung), minutiös in Echtzeit aufgezeichnet (das Ethos der situationistischen Mikrosoziologie), oder durch Teilnahme an Praxis selbst miterlebt (das Ethos der Ethnografie). Wenn also die qualitative Forschung ihren Kritikern als ein Einzelfallfetischismus erscheint, erscheinen quantitative Sozialforscher der anderen Seite eher als Secondhand- und Schmalspurempiriker, jedenfalls keineswegs als jener Inbegriff ›empirischer‹ Forschung als die sie sich selbst imaginieren. Eine monatelange, geduldige ethnografische Analyse von Praktiken oder die Konversationsanalyse eines Kommunikationstyps haben strengere Begriffe von Präzision und von Analyse als eine ›empirischanalytische‹ Soziologie, die sich auf das oberflächliche Abschöpfen von Eckdaten eines sozialen Phänomens beschränkt.
Der tiefste Dissens zwischen qualitativer und quantitativer Sozialforschung liegt aber gar nicht im Datentyp und methodischen Vorgehen, er liegt im Verhältnis zur soziologischen Theorie. Während zwischen soziologischer Theorie und qualitativer Forschung enge Verbindungen oder ein Verhältnis wechselseitiger Neugier besteht, geht, wie eine quantitative Lesererhebung feststellte (Diekmann/Vieth 2004), die Schnittmenge der Interessenten an Theorie und standardisierter Sozialforschung gegen Null. Die ›theoretische Empirie‹ (Kalthoff u.a. 2008) der qualitativen Forschung testet nicht Hypothesen, also aus axiomatischen Setzungen abgeleitete Teilsätze von beschränktem Informationsgehalt, sie ist auch nicht nur selbstverständlich theoriegeleitet (wie Esser meint, betonen zu müssen), sie zielt vielmehr auf die empirisch angeregte Entwicklung theoretischer Konzepte und soll die Theoriebildung voranbringen.
Hinzu kommen am Rande auch kulturelle Differenzen. An der Universität Bielefeld wurden in den achtziger Jahren (während meines Studiums) die quantitativen Methoden noch als »harte« im Gegensatz zu den »weiblichen« gelehrt. Dies erscheint heute auf den ersten Blick als eine eher oberflächliche Genderisierung – so wie die von mathematischen Kurven oder Tiefdruckgebieten – auf den zweiten könnte sie aber doch (so wie die der MINT-Fächer) tiefer gehen. Einen ersten Anhaltspunkt für diesen Verdacht bietet der Frauenanteil der Unterzeichner des Gründungsaufrufes für die Akademie. Er beträgt 25%, im Gegensatz zu den 44% unter den DGS-Mitgliedern. Auch die bereits von vielen Kommentatoren beobachtete Selbstüberschätzung der ›empirischen Analytiker‹ hat mit ihrem mannhaften Objektivitätsethos Züge eines genderisierten Sozialcharakters. Richtige Wissenschaft wird in diesem Diskurs irgendwie auch von richtigen Männern gemacht: rational und zielstrebig an Erkenntnis orientiert, unerschrocken den Tatsachen ins Auge blickend, redlich und aufrecht zu ihnen stehend, allen affektiven Anfechtungen trotzend wie Odysseus den Sirenen, und dabei ohne falsche Scheu vor der (anderen peinlichen) Kumulation von Dominanzgesten. Gefeit ist dieser Sozialcharakter auch vor der leidenschaftlichen Fallverliebtheit der ›Qualos‹, die dazu neigen, sich stets in »Dackelblicken« zu verlieren, so wie es sich richtige Sozialwissenschaftler nur ganz gelegentlich bei einem wirklich emotionalen Thema erlauben – wie Fußball: Esser 1991.
2 Theoriedualismen und transdisziplinärer Horizont
Ein zweiter Dualismus im Esserschen Koordinatensystem ist der Gegensatz von Rational Choice und Hermeneutik, von erklärender und verstehender Soziologie. Irreführend hieran ist, dass die eigentliche Konkurrenz für den methodologischen Individualismus nicht der Humanismus der Phänomenologie und Hermeneutik ist, auf die Esser fokussiert, sondern alle das Individuum dezentrierenden Ansätze vom Interaktionismus über Rahmenanalyse, Praxis- und Systemtheorie bis hin zum Poststrukturalismus. Humanistische Geisteswissenschaft und individualistische Naturwissenschaft des Sozialen treffen sich dagegen in der Zentralstellung des individuellen Menschen – sei es als Entscheider oder als Sinnstifter. Die Geistes- und Sozialwissenschaften haben sich aber zu großen Teilen auf den Weg von Kulturwissenschaften gemacht, die den Handelnden und seinen ›subjektiv gemeinten‹ Sinn dezentriert haben (Reckwitz 2000). Im methodologischen Individualismus kreist – allen natur- und kulturwissenschaftlichen und auch allen soziologischen Dezentrierungen des Homo sapiens zum Trotz – die Sonne immer noch um das irdische Ego.
In Essers Denkstil ist das Individuum nicht mehr – wie die Gründer der Soziologie nahelegten – eine (historisch variable) Institution der modernen Gesellschaft, die über eine Geschichte und zahlreiche instabile Voraussetzungen verfügt, sondern einfach nur ein ›natürlicher‹ Ausgangspunkt. Dies ist es aber nur für einige andere Fächer als die Soziologie (darunter Sozialpsychologie und Ökonomie) und für den Common Sense. Das handelnde und entscheidende Individuum, dem man seine Handlungen selbst zurechnet, gehört zur folk theory der Gesellschaft (Barnes 2001). Kann man auf dieser Basis effiziente und nützliche Sozialforschung treiben: definitiv! Hat man damit professionelle Distanz zur Ethnosemantik der eigenen Gesellschaft? Nicht im mindesten. Man steckt inmitten ihrer Alltagstheorien, auf Du und Du mit den Kategorien ihrer Alltagssprache.
Zum Versuch, die Soziologie zu einer monoparadigmatischen Spezialwissenschaft zu verkleinern, ist schon viel gesagt worden – etwa zum Hegemonialanspruch theoretischer Homogenisierung (Rehberg 2009) – und es gab auch die eine oder andere nicht völlig fruchtlose Debatte. Schwächer beleuchtet ist der Umstand, dass der methodologische und konzeptuelle Individualismus auch in der Wahl der transdisziplinären Nachbarn begründet ist. Dies ist auch durchaus lokalistisch zu verstehen. Betrachtet man das wesentlich von Esser mitgestaltete Mannemer Milieu einmal mit Mannheimschem, nämlich wissenssoziologischem Blick, wird erkennbar, wie der organisatorische Rückzug der ›Akademie‹ in eine intellektuelle Monokultur institutionell vorbereitet war. Die Gründungsversammlung der ›Akademie‹ hat nicht von ungefähr in Mannheim stattgefunden. Dort ist auch der Vereinssitz und von den Unterzeichnern des Gründungsaufrufs hat fast die Hälfte (47%) entweder in Mannheim studiert, ist dort aktuell beschäftigt oder war es im Verlauf seiner/ihrer Vita.[2] Der dortige Fachbereich für Soziologie verfügt über stattliche 14 Professuren, konzentriert aber jeweils drei von ihnen auf die (Sozial)psychologie, die quantitativen Methoden und den Wohlfahrtsstaat. Theorien- und Methodenpluralismus suchen Studierende in Mannheim schon lange vergeblich.
Eine noch stärkere Rolle als die institutionell einverleibte Sozialpsychologie dürfte aber der starke Nachbar und Kooperationspartner Wirtschaftswissenschaft spielen. Dies nicht nur wegen des geteilten Individualismus, sondern auch als Modell eines nahezu monoparadigmatischen Faches, das – wie Michael Buroway (2012: 36) feststellte – als Wissenschaft des freien Marktes intellektuell aufgestellt ist wie eine kommunistische Partei und daher auch mangels interner theoretischer Konkurrenz (also von Checks and Balances) ratlos wie der Zauberlehrling vor den Trümmern der letzten Finanzkrise stand.
Die Idealisierung der Wirtschaftswissenschaften durch die Mannemer Soziologie (und auch wieder in Essers Essay) hat aber noch einen weiteren Grund im Rahmen der normativ-philosophischen Wissenschaftstheorie des Kritischen Rationalismus. Sie ist Ausdruck der Selbstpositionierung von Soziologen in einer Art Verachtungskaskade in der Emergenzhierarchie von Fächern: Physiker blicken milde lächelnd auf Chemiker, die auf Biologen, diese auf Psychologen usw. und so wird in jeder Disziplin ebenso schwärmerisch nach ›oben‹ geschielt wie respektlos nach ›unten‹ getreten. Die rückhaltlose Abstützung der ›empirisch-analytischen Soziologie‹ auf den normativ-präskriptiven Rahmen der Wissenschaftsphilosophie hat dabei eine seit fast 40 Jahren laufende dezidiert empirische Wissenschaftsforschung über die Arbeit, die Begriffsbildung, den Technikeinsatz, die sozialen Formen und die Diskursgeschichte tatsächlich praktizierender Wissenschaften verschlafen (Maasen u.a. 2012). Man hängt stattdessen lieber einem normativen Ideal an, weil es die eigene Arbeit in der Soziologie (auf Kosten anderer Ansätze) schmeichelhaft, nämlich als ›immerhin noch halbwegs wahrhaft wissenschaftlich‹ erscheinen lässt. Diese von Minderwertigkeitsgefühlen getriebene Hybris war ein paar Jahrzehnte lang ärgerlich, heute ist sie nur mehr peinlich, weil sie auf so profunder empirischer Unkenntnis der Vielheit, eine Wissenschaft zu sein, beruht und – in diametralem Gegensatz zum eigenen Empirizitätspathos – so hartnäckig anti-empirisch auftritt, als positivistische Doxa von der Einheitswissenschaft: »(es) gibt für die Soziologie – aller Schattierungen – eine einheitliche, für alle Wissenschaften gültige Methodologie« (Esser, S. 133).
Im Hinblick auf die Idealisierung der Ökonomie (z.T. auch der Sozialpsychologie) ist es z.B. kurios, dass im Koordinatensystem der sog. empirisch-analytischen Soziologie die beiden anderen Gesellschaftswissenschaften neben der Soziologie kaum auftauchen: die Wissenschaft der vergangenen Gesellschaften, aus der sich die gegenwärtige entwickelt hat (die Geschichtswissenschaft) und die Wissenschaft der nicht-westlichen Gesellschaften, in Relation zu denen sich die westliche entwickelt(e) (die Ethnologie). Genau die beiden Kulturwissenschaften, die auf ähnlich unspezialisierte Weise wie die Soziologie allgemeine Wissenschaften der Gesellschaft sind, werden deshalb nicht als die wichtigsten Nachbarn wahrgenommen, weil die Mannemer Soziologie epistemologisch gar nicht in der Lage ist, deren Wissensproduktion überhaupt als Wissenschaft zu respektieren. Die Geringschätzung für ethnografische, sprachanalytische oder historische Methoden in der Soziologie ist eine Geringschätzung für benachbarte Gesellschaftswissenschaften, von denen die eine übrigens deutlich größer ist als die Soziologie. Während die an speziellen Sozialwissenschaften (wie Ökonomie und Demografie) orientierte standardisierte Sozialforschung Denkstile importiert und empirische Daten an staatliche Stellen exportiert (siehe Punkt 4), ist der ›Rest‹ des Faches im Zuge seines Austauschs mit den anderen beiden Gesellschaftswissenschaften viel stärker durch den Import empirischen Wissens und durch einen gewaltigen Exportüberschuss von Theorie- und Methodenkompetenz (jeglicher Provenienz) bestimmt.
Eigentlich ist die Soziologie im Konzert ihrer Nachbarfächer als ausgeprägt multiparadigmatische Wissenschaft eine enorm integrationsfähige Disziplin. Sie hat starke Verbindungen nicht nur zur Politik-, Wirtschafts- und Erziehungswissenschaft, sondern vor allem zur Geschichtswissenschaft und Ethnologie, aber auch zu den Sprach-, Literaturund Medienwissenschaften. Dabei gilt aber, was für Deutschland im Kontext der EU gilt: Wer hier (epistemologisch) dominant auftritt, desavouiert die wichtigsten Nachbardisziplinen der Soziologie und führt das Fach in die Isolation. Außerdem verzichtet die Fixierung auf die spezialisierten Sozialwissenschaften (der Wirtschaft, der Politik, der Kleingruppe) auf eine kulturwissenschaftliche Öffnung, denen sich fast alle Sozial- und Geisteswissenschaften in den letzten Jahrzehnten ausgesetzt haben. Sie impliziert die Einsicht in eine durch kulturelle Wissensordnungen bestimmte, immer auch perspektivisch verzerrte Wissensproduktion. Die standardisierte Sozialforschung hat hier ein gewaltiges Reflexivitätsdefizit kumuliert.
Was den Stil des Auftretens betrifft, sei die EU-Analogie noch etwas präzisiert: Wenn die Soziologie tatsächlich nur so groß ist wie Italien (weil die Geschichtswissenschaft über mehr Professuren verfügt), wird dominantes Auftreten als Großspurigkeit erlebt. Wenn ein Forschungsfeld aber nur die Größe Kataloniens hat und nicht bloß unabhängig sein will, sondern »Neu-Spanien« heißen[3], dann muss man ihm Realitätsverlust vorhalten.
3 Epistemologische Dualismen und Realitätsverweigerung
Vor dem Hintergrund dieser einseitigen Nachbarschaftsbeachtung der Soziologie drängt Esser epistemologisch auf einen Minimalkonsens, der wie er schreibt »als – einzige! – Voraussetzung« – fachübergreifend gelten soll und in einem langen Satz (Esser, S. 150) in der Sprache der ›empirisch-analytischen‹ Soziologie formuliert wird. Er enthält bekannte Elemente wie »theoretische Präzision«, »empirische Prüfung«, »Kausalerklärung«, »kumulative Forschung« und »Wahrheitsannäherung«. In den ›Grundsätzen‹ (2017) finden sich ferner Beschwörungen der Soziologie als »Realwissenschaft«, die »die soziale Realität« untersuche, als gäbe es da eben auch noch eine ›Irrealwissenschaft‹ des Sozialen, von der sich so distinguieren ließe.
Essers Text wird (wie schon der ›Gründungsaufruf ‹) von einem Dualismus von »Realismus vs. Konstruktivismus« beherrscht, und er triumphiert darüber, dass der für letzteren bemühte Kronzeuge, Thomas Luckmann, das Etikett im Kamingespräch zurückweist. Aber wer hat es ihm untergeschoben? Nun das waren zum einen einige seiner Schüler, die bis heute mit einer zahmen Variante des »Konstruktivismus« (im Englischen spricht man hier eher von ›Constructionism‹) auftreten wie mit einem brandneuen Label, zum anderen jene Positivisten, denen es im Gründungsaufruf zur ›Akademie‹ unterlief, dass sie den Begriff »soziale Konstruktion« aus einem »fachlichen Weltbestseller« (Rehberg 2009: 216) in die Nähe von »Fake News« rückten – als sei in ihrem Grundstudium etwas ernsthaft schief gelaufen. Esser gehört nicht zu diesen Radikalen, die sich so eilig aus der Soziologie verabschieden, er bestätigt vielmehr Berger/Luckmanns vieldeutig- weiche wissenssoziologische Begriffsprägung als eine Art soziologischen Common Sense von der kulturellen Codierung ausnahmslos aller sozialen Phänomene. Damit ist aber über Epistemologie noch nicht viel gesagt.
Die Wirklichkeit ist und bleibt das Wunschobjekt aller Epistemologien. Sie unterscheiden sich vorrangig darin, wie nahe sie sich dem Wunschobjekt wähnen, wie emphatisch oder skeptisch sie es also für sich beanspruchen. Positivistische und realistische Positionen besetzen es vergleichsweise hemmungslos (epistemologische Skeptiker würden sagen: sie betreiben ›Realitätsvöllerei‹), kritische Rationalisten sind hier mit ihrem Fallibilismus schon etwas vorsichtiger, und die Konstruktivismen unterschiedlicher Spielart überbieten sich geradezu mit ihren wohlbegründeten Vorbehalten gegenüber unmittelbaren Zugriffen auf das Wirkliche, sie halten strikte Realitätsdiät (was Positivisten als Lizenz zum ›Erfinden‹ von Tatsachen auf ganzer Linie missverstehen).
Mit dieser groben Sortierung ist das Spektrum epistemologischer Positionen natürlich nicht ausgeschöpft. Die Attribution von »Konstruktivismus« auf »Luhmann« evoziert nur ein Feindbild, auf das sich Esser und die Teilnehmer des Kamingesprächs leicht einigen können, und verkürzt schon die naturwissenschaftlichen Grundlagen des kognitionstheoretischen Konstruktivismus von Maturana/Varela. Ganz anders angelegt ist da der diskurstheoretische Konstruktivismus Foucaults und seiner Schüler, und wieder anders argumentiert der empirische Konstruktivismus (Knorr 1989) in der Wissenschaftsforschung. Daneben entstanden seit der Milleniumswende eine Reihe von postkonstruktivistischen Positionen, die nicht ›die Realität‹ für eine schon bestimmte (und leicht bestimmbare) Sache halten, aber das Reale mitspielen sehen bei der Herstellung wissenschaftlicher Tatsachen (Hirschauer/Hofmann 2012, s.a. Kneer 2009).
Der Konstruktivismus ist eine hochgradig reflexive und skeptizistische Epistemologie: Die Wirklichkeit nimmt uns keine Verantwortung ab für die zahllosen Kategorien, Entscheidungen und Prämissen, die in unserer Forschung stecken. Sie gehören historisch und kulturell kontingenten Wissensordnungen an, durch die hindurch wir Realität definieren. Der Realismus ist dagegen eine vergleichsweise bequeme Lehnstuhl-Epistemologie, er folgt einem kontemplativen Wahrheitsbegriff, den schon Karl Mannheim monierte (Mannheim 1995: 256). Er verspricht seinen Anhängern eine komfortable Sprecherposition: Wenn du dich brav an eine Reihe strenger methodischer Regeln gehalten hast, entkommst du der skrupulösen epistemologischen Reflexion, und darfst etwas guten Gewissens mit der Autorität des ›Experten‹ als real behaupten.
Gegen dieses Selbstverständnis gibt es viele Einwände, nur drei seien genannt. Aus der Perspektive der empirischen Wissenschaftsforschung beruht die Leistungsfähigkeit der standardisierten Sozialforschung – genau wie die der Laborwissenschaften der ›Natur‹ – nicht auf der Realitätsnähe, sondern auf der Maximierung von Artifizialität, der erfolgreichen Distanzierung vom Realen. Eben deshalb hat die sog. ›empirische Sozialforschung‹ in der DGS eine eigene Sektion ›Modellbildung und Simulation‹ hervorgebracht, betreibt viele ihrer Studien mit kontrafaktischen As-if-Hypothesen und stützt sich stärker auf durch und durch mentalistische (also geisteswissenschaftliche) Modelle von Erwartungen, Einstellungen und Präferenzordnungen als auf tatsächliches Verhalten. Dass »der Wille W und der Glaube G« (Esser, S. 140) die Ursachen menschlichen Verhaltens seien, ist von der analytischen Philosophie schon vor bald 70 Jahren als mentalistischer Mythos kritisiert worden (Ryle 1949). Die Rede von der Realität enthält in diesem Forschungszweig daher immer einen Phantomschmerz: Sie wird umso mehr beschworen, je mehr sie den Forschungsdesigns abhandenkommt – so wie die verschwundenen einfachen Gesellschaften der Ethnologie.
Auf der anderen Seite liegt die Stärke dieser Forschung aber auch in der technischkonstruktiven Durchdringung der von ihr beschriebenen Realität. Ihre modelltheoretischen Annahmen formatieren die Wirklichkeit mit, die sie mit ihren theoretischen Mitteln reduktiv beschreibt. Der besondere ›Konstruktivismus‹ der standardisierten Sozialforschung ist damit – ganz ähnlich wie der der Wirtschaftswissenschaft gegenüber der Wirtschaft (Callon 1998) – nicht reflexiv-skrupulös, sondern nonchalant produktiv: Die Sozialforschung im staatlichen Auftrag und mithilfe bürokratischer Kategorisierungen des Menschen (siehe Punkt 4) beschränkt sich nicht auf Analyse, sie baut fleißig mit an einer bestimmten gesellschaftlichen Wirklichkeit.
Aus soziologischer Sicht ist schließlich der einfältige Singular »die Realität« anstößig. Zu fragen ist: Wessen Realität? die der Medien? der Politik? der Verwaltung? der Wirtschaft? die einer sozialen Bewegung? Und die Realität welcher Sinnschicht? die der Einstellungen und Annahmen? die der Verhaltensweisen? die der rechtlichen und wissenschaftlichen Diskurse? die der Ressourcenverteilung? Fragen wir doch einmal präzise: Was von welcher Wirklichkeit fangen standardisierte Erhebungen genau ein? Da ist, wenn sie gelingen, nicht nichts. Aber zu reklamieren, das sei nun ›die Realität‹, ist soziologisch einfach nur bizarr.
Wie schon bei den Methoden und Theorien geht es auch in der Epistemologie nicht so dualistisch zu, wie Essers Unterscheidung vernünftiger Realisten und versponnener Konstruktivisten es will. Auch hier herrscht Vielfalt. Die Wissenschaftsforschung hat wie gesagt seit den 70er Jahren aufgehört, Wissenschaften danach zu bewerten, ob sie mit den normativen Setzungen der Wissenschaftsphilosophie konformgehen oder nicht. Sie hat stattdessen empirisch untersucht, wie verschiedene Wissenschaften tatsächlich, in ihrer sozialen Praxis und in ihren Diskursen Wissen erzeugen (etwa Knorr 2002), und Behauptungen als Tatsachen historisch durchgesetzt haben. Dies nicht nachvollzogen zu haben, lässt in den erkenntnistheoretischen Grundlagen der quantitativen Sozialforschung eine gehörige Portion Realitätsverweigerung schlummern.
Die in der Selbstwahrnehmung wie in der interdisziplinären Verortung der Soziologie nötige Anerkennung von Vielfalt ist auch eine Anforderung bei der Prämierung epistemischer Leistungen. Die von Esser favorisierte Kausalerklärung[4] stiftet ohne jeden Zweifel leistungsfähige Vereinfachungen der Welt: Sie sequenziert und gewichtet Phänomene als grundlegend oder abgeleitet, ausschlaggebend oder peripher, und sie korrigiert öffentliche Fehlattributionen auf falsche Ursachen. Aber sie verlangt auch eine ganz artifizielle Zurichtung sozialer Phänomene zu isolierbaren, mit sich identischen ›Faktoren‹. Dies ist ein begrenztes und oft scheiterndes Unterfangen, so wie schon Prognosen oft gescheitert sind. Gut also, dass es in allen Sozial- und Kulturwissenschaften völlig ebenbürtige Alternativen gibt. Und dies sind keineswegs nur die explorativen Beschreibungen, die Esser (anders als der ›Gründungsaufruf‹) nun auch irgendwie gelten lassen will. Es gibt viele Gegenstände und Fragestellungen, die überhaupt nicht nach kausaler Ordnung und Simplifikation, sondern nach ganz anderen Erkenntnisleistungen verlangen: etwa nach historisch-genetischer Erklärung über Herkünfte und Pfadabhängigkeiten, nach funktionaler Erklärung über Bezugsprobleme, nach rekonstruktivem Fallverstehen im Sinne der Hermeneutik, nach analytischer Beschreibung (dem Äquivalent des naturwissenschaftlichen Zeigens) wie in der Ethnomethodologie, nach verfremdender oder dichter Beschreibung wie in der Ethnografie oder nach kulturanalytischem Erklären im Sinne von Explizieren: klarmachen, erläutern, erhellen – einschließlich des kulturellen Sinnes, den ›Kausalerklärungen‹ als sinnstiftende Erklärungsgesten im mundane reasoning der Gesellschaft haben.
4 Das Verhältnis von Wissenschaft und Politik
Das letzte in Essers Essay angesprochene und in der Gründung der ›Akademie‹ enthaltene Motiv ist das Verhältnis von Wissenschaft und Politik. Die Soziologie befindet sich hier in einer besonderen Lage – die Politik gehört zu ihren Gegenständen, die politische Dimension der Gesellschaft zu ihrer zivilgesellschaftlichen Einbettung – und im Fach wird auf verschiedene Weise damit umgegangen. Die von der ›Akademie‹ bevorzugte Variante könnte man die treuherzige nennen: Ihr ›Leitbild‹ »Making the world a better place to live by strict analytical reasoning and solid empirical research« (Grundsätze 2017) besteht aus einer bestürzend schlichten, freimütig normativen Rahmung der gesamten eigenen Forschungsarbeit. Sie versteht sich gar nicht primär als Grundlagenforschung (so wie sie etwa die Deutsche Forschungsgemeinschaft fördert), sondern soll auf Politikberatung abzielen, bietet sich also als eine Art wissenschaftlicher Assistenz für Ministerien und Parteien an, denen »verlässliche Informationen und praktische Handlungsempfehlungen« (Gründungsaufruf 2017) angeboten werden. So eine brave Wissenschaft spiegelt sich selbst im Klischee des politischen Systems von der Wissenschaft als ›objektiver Expertise‹, die für die politische Legitimation gebraucht wird. In dieser politischwissenschaftlichen Symbiose sind, wie Thomas Scheffer neulich feststellte, die Grundlagenfragen und die Uneinigkeit, die die Soziologie kennzeichnen, tatsächlich »hinderlich, unproduktiv und zeitraubend« (Scheffer 2017).
Die ›empirisch-analytische‹ Soziologie versteht sich selbst offenbar im engen Kontakt mit Bürokratien, deren administrative Kategorien (die andere Sozial- und Kulturwissenschaften beständig infrage stellen) sie bruchlos zur Anwendung bringen (ibid.).[5] Dies ist nicht nur in Bezug auf den Common Sense (siehe Punkt 2) eine erstaunlich populistische Soziologie. Bemerkenswert ist auch das »Ziel« der ›Akademie‹: »verständliche Analysen gesellschaftlicher Prozesse« (Startseite der ›Akademie‹). Abgesehen davon, dass es eine merkwürdig unentschlossene Auffassung von Wissenschaftlichkeit ist, wenn ein Fach nicht dasselbe Recht auf Unverständlichkeit haben soll wie jede Naturwissenschaft (Luhmann 1981), ist das Fehlen jeden Hinweises bemerkenswert, wem man sich »verständlich« machen möchte. Man ist erinnert an die ›leichte Sprache‹ zur Erklärung politischer Prozesse, nur dass die Adressaten hier nicht Lernbehinderte, sondern Auftraggeber mit beschränkter Lernwilligkeit sind, die für ihre vorgefassten bürokratischen Kategorien des Staatsvolkes nur ›einfache Soziologie‹ rezipieren können.[6] Dieser Nachfrage bieten sich die wissenschaftlichen Angestellten der ›Akademie‹ an. Die staatswissenschaftliche Soziologie der ›Akademie‹ ist eine auf das kulturelle Alltagswissen ihrer Gesellschaft gestützte, an bürokratische Kategorisierungen der Staatsbürger angelehnte und epistemisch an der Wirtschaftswissenschaft orientierte Spezialdisziplin.
Weite Bereiche der Soziologie verstehen sich politisch viel distanzierter, nämlich als kühle Grundlagenforschung. Andere Bereiche sind dagegen stärker politisch ›aufgeheizt‹, nämlich einerseits von politischem Engagement getragen, andererseits von sozialen Bewegungen distanziert. Es gibt aber auch Teile des Faches, die sich tatsächlich mit dem Standbein aus der Wissenschaft herausbewegen und ihre Kommunikation anders codieren. Ihre primäre Beschäftigung ist die politische Einflussnahme und das Agenda- Setting, sie betreiben Politik mit wissenschaftlichen Mitteln.[7] Solche Entwicklungen in Teilen des Faches sind durchaus ein Problem für eine Fachgesellschaft wie die DGS, aber sie sind kein Grund, politischem Dogmatismus mit szientistischem zu begegnen und eine ganze Wissenschaft in den Dienst einer ›neutral‹ auftretenden treuherzigen Weltverbesserung zu stellen. Weder die Politik mit wissenschaftlichen Mitteln noch eine Staatswissenschaft für politisch-administrative Zwecke sollten die grundlegenden Fragen soziologischer Forschung übermäßig bestimmen.
5 Schluss
Der Essay von Hartmut Esser bewegt sich weitgehend auf Nebenschauplätzen der Gründung der sog. ›Akademie‹, dies aber in einer milieugebundenen Selbstgewissheit, die es versäumt, ihre vier zentralen Prämissen zu explizieren: dass die Soziologie epistemologisch den (älteren) Naturwissenschaften folgen soll, dass die dem methodologischen Individualismus implizierte Handlungstheorie ein fachuniversell attraktives Theorieangebot stifte, dass die standardisierte Sozialforschung über die Methodizität empirischer Sozialforschung richten, und dass die Sozialforschung vor allem im Dienste an Politik und Verwaltung ihre gesellschaftlichen Leistungen erbringen soll. Diese Prämissen sind in einer Badener Mittelstadt nicht explikationsbedürftig, sie verstehen sich von selbst, und sie funktionieren auch an einigen kleineren Standorten der Soziologie. Auf Kongressen der Deutschen Gesellschaft für Soziologie aber dürften sie alle mehrheitlich auf Ablehnung stoßen.
In dieser Ablehnung liegt die Erklärung dafür, warum die empirisch-analytische Soziologie kaum noch Repräsentation in der DGS findet. Ihre Entfremdung vom Fach geht über Verständigungsprobleme im Zuge unvermeidlicher theoretischer und methodischer Spezialisierung hinaus. Zu konstatieren sind vielmehr theoretische Diversitätsmängel, epistemische Intoleranz, zu enger transdisziplinärer Horizont, und eine Abwendung von fachlich kontroversen Grundlagenfragen zugunsten staatlich nachgefragter ›Daten‹. Auf dieser Basis hat sich das staatswissenschaftliche Viertel der Soziologie mit hegemonialem Gehabe dialogunfähig gemacht.
Selbstverständlich weisen andere Segmente des Faches ebenfalls Defizite auf: Mängel der Kumulation von Wissen in der qualitativen Sozialforschung, empirische Sterilität in der Theoriebildung, und in einigen Bereichen auch überpolitisiertes Rollenverständnis und milieu- statt marktorientiertes Publikationsverhalten. Aber die Segmente des Faches sind eben auch wechselseitiger Beobachtung ausgesetzt. Man kann – und muss – also über allseitige Professionalitätsdefizite reden. Denn die zeitgenössische Soziologie ist ein multipolares Fach, sie ist – wie die Gesellschaft – polyzentrisch geworden. Die großen alten Dualismen, wie sie Essers Essay beherrschen, können sie nicht mehr beschreiben. Sie haben sich zerstreut und wurden kleingemahlen – in ihrem jeweiligen Disput, aber auch durch kommunikative Mitwirkung vieler dritter und vierter Parteien, die sie transformiert und hybridisiert haben. Seitdem lässt sich die Soziologie aus keinem ihrer Milieus mehr für alle verbindlich beschreiben.
Die Gründung eines ›Vereins für empirisch-analytische Sozialforschung‹ wäre zur Selbstverständigung eines Milieus sicher keine schlechte Sache gewesen – eine Wohlfühlnische so wie sie sich auch die Sektion Wissenssoziologie mit ihrem zweijährigen Kongress gegönnt hat.Die Gründung einer »Akademie für Soziologie« aber intendierte die Distinktion einer wissenschaftlichen Soziologie von der großen Masse derer, die sie für halb- oder unwissenschaftlich hält. Sie erhob einen Anspruch auf den Titel des Faches, der gleich zweifach verfehlt ist: Dass es sich nicht um eine Akademie für die ganze Soziologie handelt, sondern für ein hochspezifisches Segment des Faches ist bereits oft festgestellt worden. Infrage steht aber auch, wieviel Soziologie eigentlich noch in dieser Forschung steckt.
Denn zur Soziologie als allgemeiner Wissenschaft des Sozialen gehört eben, dass sie für ihren unbescheidenen Verzicht auf Spezialisierung ein dezidiert multiparadigmatisches Fach sein muss. Das ist ihre Schwäche und ihre Stärke. Angesichts aller Verlautbarungen der ›Akademie‹ (vom Gründungsaufruf über die ›Grundsätze‹ bis zu Essers Artikel) bleibt es deshalb eine groteske Fehleinschätzung der eigenen Möglichkeiten, dass in diesem Verein »die ganze Vielfalt der Soziologie« (Grundsätze 2017) Platz fände und auch, dass in einem solchen Rahmen ernsthaft »kontroverse Debatten« (Hinz 2017: 49) geführt werden könnten. Denn genau solchen Debatten entziehen sich die Akademie- Mitglieder in eine Art Sektion außerhalb der DGS – wo sie noch dem Risiko ausgesetzt sind, dass ihre Forschungen als theoretisch uninspiriert, epistemologisch antiquiert oder empirisch langweilig gelten könnten.
Dieser Rückzug ist bedauerlich. Denn es steht ganz außer Frage: Was an der Gesellschaft quantifizierbar ist, soll gemessen werden! Die sorgfältige Tatsachenkonstruktion der quantitativen Sozialforschung bringt in mancher gesellschaftlichen Debatte große Versachlichungsleistungen. Sie hat in ihrer Professionalität und disziplinierten Arbeitsteiligkeit viel Vertrauen verdient, aber dieses Vertrauen muss ihr entzogen werden, wenn sie sich auf ein Selbstgespräch zurückzieht und aufhört, auf die artifizielle Eigenlogik ihrer Faktenherstellung, die sozialtheoretischen Prämissen ihrer Arbeit und ihre engen intellektuellen Grenzen zu reflektieren.
Es steht zu fürchten, dass Hartmut Esser, ganz im Sinne seines leicht nostalgischen Tonfalls, eine Art letzte Brückenfigur der quantitativen Sozialforschung zur soziologischen Theorie ist. Er gehört zu den wenigen, die sich um sozialtheoretische Anreicherung der dünnen Axiomatik des RC-Ansatzes bemüht haben und daher in der Lage ist, noch dialogische Brückenschläge zu seiner Herkunftsdisziplin zu vollziehen. Viele ›Akademisten‹, die nach ihm kommen, sind aber solche, die er selbst ausgebildet hat. Bezeichnend in diesem Zusammenhang sind die Ergebnisse einer schönen standardisierten Studie über die Theoriekenntnisse von Soziologiestudierenden in Deutschland (Lenger u.a. 2014). Sie zeigt in ihrem Anhang eine Tabelle zum Grad der Kenntnis von 26 Theoretikern an 19 Standorten der Soziologieausbildung. Diese Tabelle befindet sich auf der nächsten Seite – bearbeitet durch ein Ranking der Theoretiker nach studentischer Kenntnisnahme (von Weber 1,7 bis Mauss 5,5 auf einer Sechserskala) und von Standorten nach Theorienpluralismus. Das Ergebnis der Mannemer Theorieausbildung, die auch für viele der Unterzeichner des ›Gründungsaufrufes‹ maßgeblich war, ist dieses: In Mannheim wird, abweichend von fast allen anderen Standorten mit weitem Abstand vor allen Klassikern des Faches und fast konkurrenzlos »Esser« gelesen; und im Hinblick auf Theorienpluralismus bildet der Standort mit deutlichem Abstand das Ende der Liste. Insofern verwundert es nicht, dass die vielen Dialekte des Faches Mannemer Absolventen schon lange nicht mehr als »verständliche« Soziologie erscheinen.
Literatur
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Anschrift:
Prof. Dr. Stefan Hirschauer
Institut für Soziologie
Johannes Gutenberg-Universität Mainz
Jakob-Welder-Weg 12
55128 Mainz
Fußnoten
- Anmerkung der Redaktion: Die Seitenzahlen (ohne weitere Angaben) beziehen sich auf den Beitrag von Esser in Heft 1/2018 der Zeitschrift für Theoretische Soziologie
- 18% sind aktuell am Mannheimer Fachbereich und seinen Nachbareinrichtungen (GESIS und MZES) beschäftigt, 29% haben eine Zeit ihrer wissenschaftlichen Biografie dort verbracht. Ein Dank an Laura Völkle für die Erhebung dieser Daten.
- So erklärte der amtierende Sprecher der ›Akademie‹, Thomas Hinz, öffentlich, der neue Verein liefere »im Unterschied zur traditionellen Soziologie möglichst präzise und empirisch belastbare wissenschaftliche Analysen zu gesellschaftlichen Problemen« (Hinz 2017).
- Es ist allerdings, wie Rehberg (2009: 217) feststellt, ein in den Naturwissenschaften antiquiertes, Newtonsches Ideal von Kausalität, das in der Physik seit Einsteins und Heisenbergs Relativitätsbewusstsein passé ist.
- So lautet das Kapitel 54.2.1 des »Handbuchs Methoden der empirischen Sozialforschung« (Baur/Blasius 2014: 734) kurz und bündig, und tapfer gegen den Ungeist der ›Konstruktion: »Das ›Geschlecht‹ der Zielperson wird definiert über deren primäre Geschlechtsmerkmale. Die Operationalisierung von ›Geschlecht‹ findet in einer Unterteilung in ›männlich‹ und ›weiblich‹ statt.«
- Diese theoretisch einfache Sprache ist auch (neben der Mathematisierung) einer der Gründe, warum der quantitativen Sozialforschung die Internationalisierung leichter fällt als einer qualitativen Forschung mit sprachförmigem Datenmaterial oder der Entwicklung anspruchsvoller Theoriesprachen.
- Ein solcher Fall sind die Gender Studies, die ihre Herkunft aus den sozialen Bewegungen der Frauen und Queers weder in ihrer Personalrekrutierung, noch in ihrer Themenwahl und in ihren klientelistisch tendenziösen Aussagen je vollständig hinter sich lassen konnten. Zu den Resultaten gehören Denktabus, Empörungsrituale, politische Fraktionenbildung und andere unerfreuliche Begleiterscheinungen.
Zuerst erschienen in Zeitschrift für Theoretische Soziologie.
Kategorien: Methoden / Forschung Universität Wissenschaft
Zur PDF-Datei dieses Artikels im Social Science Open Access Repository (SSOAR) der GESIS – Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften gelangen Sie hier.
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