Jeanne Lazarus | Interview | 20.10.2022
„Der Soziologe ist weder Connaisseur noch edler Ritter, er ist ein Entdecker“
Drei Fragen zum Werk von Bruno Latour
Welches Buch von Bruno Latour war für Sie besonders wichtig? Was war sein wichtigster Beitrag zur Soziologie (und was charakterisiert, wenn man so will, seine Art, über Soziologie nachzudenken und sie zu praktizieren)?
Meine Antworten auf die zwei Fragen knüpfen aneinander an, weshalb ich sie nicht voneinander trenne.
Da eines von Bruno Latours Büchern ausgewählt werden muss, werde ich hier La Fabrique du droit anführen, sein Buch über den französischen Staatsrat – den Conseil d’État –, das 2002 erschienen ist. In diesem wie immer hervorragend geschriebenen Buch öffnet Bruno Latour die „Black Box“ des Rechts und greift dabei die so berühmte Formulierung auf, die seine Herangehensweise an die Wissenschaft als Forschungsgenstand beschreibt. Er zeigt, dass das Recht, wie in einem Laboratorium, durch aufeinander folgende Operationen entsteht, zu denen auch Diskussionen, Zögern und sogar Stottern gehören. Dieser Umstand beeinträchtigt jedoch keineswegs die Beständigkeit des Rechts, nachdem es einmal in Kraft getreten ist.
Das war für mich immer das Spannendste an Bruno Latour: der Kontrast zwischen einer Untersuchung und ihrem Ergebnis. Die Forschungsphasen sind, ebenso wie ein juristisches Verfahren, stets von Fragen, manchmal auch Irrtümern und Zweifeln, bestimmt. Nach und nach werden Belege und Erkenntnisse gesammelt, um schließlich zu einem plausiblen Ergebnis zu kommen. In der Rechtsprechung des Conseil d’État sowie in der soziologischen Forschung bezieht das Resultat seine Autorität zum einen aus den jeweiligen Institutionen des Rechts beziehungsweise der Wissenschaft, und zum anderen aus all der Arbeit, die ihm voraus ging. In der finalen Form, in der das Resultat öffentlich gemacht wird, verschwindet die Erzählung über seine Entstehung, was sowohl für seine Verbreitung als auch für seine Autorität unerlässlich ist. In der Einleitung zu La Fabrique du droit berichtet Latour übrigens, dass die französischen Staatsräte nicht die Enthüllung ihrer Produktionsgeheimnisse fürchten, sondern das Geheimnis selbst: die Tatsache, dass das Recht hergestellt wird.
Doch während Bruno Latour dieses Geheimnis aufdeckt, lobt er die Staatsräte unentwegt für ihre intellektuelle Schärfe, ihr vollendetes Benehmen und ihre diskrete Arbeitsweise. Dieser Respekt vor den Menschen, die er beforscht, ist eine weitere große Stärke der Soziologie Bruno Latours: Der Anthropologe ist, ebenso wie der Soziologe, weder ein edler Ritter noch ein Connaisseur, er ist ein Entdecker.
Welches Konzept beziehungsweise welche Intervention von Bruno Latour sollten wir weiterdenken?
Bislang bin ich nicht auf den wichtigen Beitrag zur öffentlichen Debatte über die Umweltfrage eingegangen, den Bruno Latour in den letzten Jahrzehnten geleistet hat. Die Aufgabe, mit der er die Sozialwissenschaften betraut hat, besteht darin, ein theoretisches Gerüst für die unvermeidliche Neugestaltung der Lebensweisen zu bauen. Es besteht die dringende Notwendigkeit, ein mobilisierendes Narrativ zu entwickeln, mit dem er begonnen hat und das wir fortschreiben müssen.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Nikolas Kill, Hannah Schmidt-Ott.
Kategorien: Lebensformen Methoden / Forschung Ökologie / Nachhaltigkeit Recht Wissenschaft
Zur PDF-Datei dieses Artikels im Social Science Open Access Repository (SSOAR) der GESIS – Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften gelangen Sie hier.
Teil von Dossier
Erinnerungen an Bruno Latour
Vorheriger Artikel aus Dossier:
Der Fall vom Himmel
Nächster Artikel aus Dossier:
„Eine Praxis, die das soziologische Denken offenhält“
Empfehlungen
Bleibt der Erde treu!
Rezension zu „Geosoziologie. Die Erde als Raum des Lebens“ von Markus Schroer
Umwelt denken, Umwelt gestalten
Rezension zu „Über Maurice Halbwachs“ von Georges Canguilhem und Henning Schmidgen