Thomas Hoebel, Jo Reichertz | Interview | 10.12.2020
Dialog mit dem Drachen
Jo Reichertz im Gespräch mit Thomas Hoebel
Herr Reichertz, wir sprechen über wissenschaftliches Schreiben. Sie sind ja schon etwas länger im Geschäft. Sehen Sie in den letzten Jahren gravierende Veränderungen, wie wissenschaftliche Texte entstehen?
Das Thema bewegt ja alle Generationen von Wissenschaftler*innen. Alle sind fortlaufend damit beschäftigt, den richtigen Stil zu finden. Implizite Theorien dazu gibt es viele, aber in der Regel werden die Praktiken des ‚richtigen‘ Schreibens vor allem praktisch weitergegeben – und zwar meist durch die jeweiligen Doktormütter und Doktorväter. Seit etwa zehn, fünfzehn Jahren nehme ich jedoch einen ‚turn‘ wahr, insbesondere befördert durch die Wissenschaftssoziologie und die Science and Technology Studies (STS). Diese Wende besteht darin, dass wir uns immer mehr klarmachen, mit welchen Praktiken wir Wissen produzieren – und das heißt im Kern: wie wir Daten erheben, wie wir die Daten interpretieren, wie wir schreiben, aber auch: wie wir lesen. Ich denke da zum Beispiel an den Textmarker. Dieses Ding hat das Leseverhalten gegenüber wissenschaftlichen Texten ziemlich verändert.
Was haben Sie da konkret vor Augen?
Der Textmarker kann ohne Zweifel etwas, was mein Finger nicht kann – nämlich etwas farbig markieren. Ohne ihn müsste ich mit dem Bleistift oder dem Kugelschreiber das Gewünschte unterstreichen. Aber der highlighter unterstreicht nicht nur, sondern er lässt das ansonsten Unterstrichene zudem leuchten. Es macht sehr viel aufmerksamer auf etwas, als wenn man es nur unterstrichen hätte. Highlighten bedeutet, etwas zum Leuchten zu bringen, und das berührt mich mehr und anders als der Bleistiftunterstrich. Insofern hinterlässt der Marker eine Spur und er produziert einen Unterschied, der einen Unterschied macht. Indem ich den Textmarker benutze, interpretiere ich den vorliegenden Text und schaffe zugleich einen neuen Textkörper, der später auf mich in seiner neuen Form wirkt.
Außerdem gibt mir der Textmarker die Möglichkeit, etwas besonders zu betonen; und ich kann mit unterschiedlichen Farben betonen – was etwas ganz anderes ist, weil ich so etwas thematisch zuzuordnen kann. Mit verschiedenen Farben zu arbeiten, ist eine simple Form des Codierens nach bestimmten Relevanzen. Ich kann mich noch gut daran erinnern, als wir bei einer Inhaltsanalyse in den Zeiten vor Atlas.Ti und MAXQDA erst einmal die zu analysierenden Interviews mit verschiedenen Markern durchgegangen sind. Jeder Markerfarbe war dann eine Art Kategorie zugeordnet. Allgemein gilt: Ich lese anders, wenn ich mit einem Textmarker lese, als wenn ich mit einem Bleistift oder ganz ohne Hilfsmittel lese.
Verstehe ich Sie richtig, dass der Textmarker aus Ihrer Sicht für ein grobes und schnelles Lesen steht, der Bleistift für ein feines?
Genau. Textmarkern ist so eine Art basales Codieren vor dem Hintergrund der eigenen Relevanzen. Mit dem Bleistift zu lesen, gibt dem Text mehr Gewicht, es nimmt den Text ernster, auch als Dialogpartner. Denn nur mit dem Bleistift kann man beginnen, sich Notizen zu machen. Im Unterschied zum Textmarker bringt uns der Bleistift zudem viel leichter dazu, direkt selbst mit dem Schreiben zu beginnen, auf das Gelesene zu reagieren, darauf zu antworten.
Ein gutes Stichwort. Wie verknüpfen Sie Lesen und Schreiben in Ihrer eigenen Praxis?
Lesen ist neben der empirischen Forschung elementar für mein eigenes Schreiben. Ich bin davon überzeugt, dass der, der viel gelesen hat, viel mehr Lesarten in Texten aller Art entdecken kann – sei es bei der Interpretation von empirischen Daten, sei es, wenn man vor allem theoretisch unterwegs ist. Oder im Anschluss an Heidegger: Wer nur einen Hammer hat, für den wird die Welt schnell zum Nagel. Wer nur Durkheim gelesen hat, der sieht überall Durkheim. Wer aber Durkheim und Tarde und Weber und Simmel und wie sie alle heißen gelesen hat, der sieht auf einmal ein Dickicht von Lesarten, die möglich sind. Dann muss man auf einmal begründete Entscheidungen treffen und beginnt, die eigene Position zu entdecken und sich im Geflecht der verschiedenen Theorien zu verorten.
Selbst lese ich zumeist mehrere Texte parallel. Dazu zählt auch immer ein Buch, das mit meiner Zunft, also mit Soziologie und Kommunikationswissenschaft, vermeintlich nichts zu tun hat, meistens ein Buch zu geschichtlichen und kunsttheoretischen Themen, zum Beispiel über die Verfolgung der Christen in Ägypten oder die Bedeutung des Tafelbildes oder des Selbstportraits. Doch oft ist das Gegenteil der Fall. Das scheinbar Unpassende bringt mich auf oft Ideen, die passen! Man sieht das, was einen gerade bewegt, aus einer anderen Perspektive.
Nun, ob fachlich oder fachfremd, Lesen führt bei mir letztlich immer dazu, dass ich Textpassagen selbst laut ausspreche, also diktiere und dadurch für mich und die Weiterverarbeitung sichere. Sie kennen vielleicht diese Spracherkennungssoftware mit dem Drachen? Diese Software hat meine Schreibpraxis, wenn man so will, deutlich geändert. Wenn ich nämlich etwas lese, von dem ich denke, dass das wichtig ist oder ein schönes Zitat sein könnte, dann schreibe ich das nicht mehr per Hand auf eine Karteikarte wie früher, sondern diktiere es in den Rechner und mache eine Datei „Neues zum Thema xy“. Da sammeln sich dann nach und nach verschiedene Zitate und Bemerkungen von mir an, also alles, was mir beim Lesen eben so in den Sinn kommt – Ideen, die mir einfallen im Zusammenhang mit Themen, zu denen ich gerade schreibe. Allerdings ist das Ergebnis in meinem Fall kein alphabetisch geordneter Zettelkasten, sondern es sind thematisch nur lose gekoppelte Sammlung von Ideen, die ich dann irgendwann benutze und dann lösche.
Lesen ist für mich somit (neben der empirischen Forschung) ein ganz großer Generator, um Texte zu produzieren. Dazu gehört auch, dass ich das Gelesene für gewöhnlich noch länger im Kopf mit mir herumtrage und keimen lasse. Dann kommt es immer wieder vor – selbst an ungewöhnlichen Orten wie der Sauna oder zu ungewöhnlichen Zeiten wie nachts um 4:30 Uhr –, dass sich fast wie von selbst neue Gedankenverbindungen oder Ideen ergeben. Sie sind nur leider sehr flüchtig. Daher habe ich an fast allen Orten, an denen ich mich länger aufhalte, ein kleines Heft deponiert, in das ich meine Gedanken eintrage, wenn sie kommen. Sobald ich dann am Schreibtisch bin, formuliere ich mit dem Drachen ein oder zwei Seiten dazu. Auf diese Weise kommen viele Textbausteine zusammen, die dann später in dieser oder anderer Form in Texte einfließen.
Haben Sie eigentlich einen bestimmten Kniff, wie Sie ins Schreiben kommen?
Indem ich ‚schreibend bleibe‘. Meine selbst auferlegte Verpflichtung ist, jeden Tag drei Seiten zu schreiben. Diese Verpflichtung resultiert aus einer langjährigen Erfahrung mit meiner Faulheit. Denn wenn man drei Monate mit dem Schreiben aussetzt, dann braucht man eine Woche oder mehr, um wieder das Gefühl dafür zu haben. Alles, was man dann in dieser Woche geschrieben hat, kann man im Grunde wegwerfen, weil Stil und Inhalt noch so unbeholfen sind. Aber wenn man ständig im Schreiben bleibt, auch an unterschiedlichen Themen, dann ist es viel einfacher, die richtigen Worte zu finden. Ebenso ist es leichter, den inneren Schweinehund zu überwinden. Das war bei mir anfangs die größte Schwierigkeit. Früher habe ich mir dann oft gesagt: „Kein Problem: Dann schreibe ich morgen einfach doppelt so viel.“ Doch morgen fällt einem dann auf, dass das Auto zur Reparatur muss, die Eltern besucht werden müssen und ein Telefonanruf bei meinem Freund unabdingbar ist. Und so geht es immer weiter. Nach einem Monat hat man dann alles Mögliche gemacht, nur noch keine Zeile geschrieben. Dann kommt leicht diese eigentümliche Fantasie auf: „Ich mach’ das dann einfach, indem ich die ganzen Nächte durchschreibe.“ Das ist dann tatsächlich so, irgendwann macht man das. Ich kenne das auch. Nur, da kriegt man recht schnell einen Tunnelblick und sieht nur noch das Naheliegende, nicht das Anspruchsvolle, das dem Phänomen, für das man sich interessiert, einigermaßen gerecht wird. Deswegen habe ich irgendwann begonnen, mich zu überlisten und zu sagen, „Du setzt dich jetzt an den Schreibtisch und stehst erst auf, wenn du drei Seiten geschrieben hast. Aber wenn du drei Seiten geschrieben hast, dann kannst du machen, was du willst.“
Erinnern Sie sich noch daran, wann dieser Wendepunkt war?
Das war nach der Magisterarbeit. Als ich mit der Dissertation begann, da wusste ich, dass das ein langes Stück Arbeit wird. Wir sprechen von fünfhundert Seiten, die dieser Text schließlich lang geworden ist – und fünfhundert Seiten kann man nicht mehr schreiben, indem man sich zwei Monate hinsetzt und schreibt, das ist unmöglich. So habe ich mir nach der Magisterarbeit vorgenommen, meinen Körper/Leib zu nutzen, ihm zu sagen, „Wenn du drei Seiten geschrieben hast, kannst du machen, was du willst, dann kannst du saugen, putzen, du kannst aber auch in die Kneipe gehen, kannst was auch immer tun, aber drei Seiten schreibst du vorher.“ Das Interessante ist, dass der Körper/Leib das dann auch macht. Und wenn er sich nach einiger Zeit daran gewöhnt hat, dann schreibt er dann die drei Seiten, weil er weiß, dass er danach frei hat. Wenn der oder besser: mein Körper/Leib dagegen nicht weiß, wann er aufhören soll, sondern glaubt, er müsse noch zehn Seiten schreiben, dann verliert er bald die Lust und dann die Konzentration.
Das klingt danach, als ob dieser Wendepunkt in Ihrer Schreibpraxis maßgeblich auf Introspektion und Selbstreflektion beruht. Gibt es auch eine soziale Seite an der Sache – Menschen und soziale Beziehungen, die Ihnen dabei geholfen haben, Schreiben zu lernen?
Ja, viele! Erst einmal habe ich mit vielen Freund*innen und Kollegen*innen gesprochen, das war zu einer bestimmten Zeit, also um die Erstellung der Dissertation herum, ein Dauerthema. Viel habe ich auch dadurch gelernt, dass ich mit anderen Menschen Texte zusammen geschrieben habe – was sicherlich nicht einfach ist, weil jeder anders schreibt und anderes benötigt, um schreiben zu können. Mein Rezept gilt nur für mich, andere brauchen in der Regel ihre eigene Praxis. Manchmal gelingt die Zusammenarbeit mit anderen nicht. Ich erinnere mich an eine Zusammenarbeit mit einer Person: Wir hatten den Plan, zusammen ganz dicke Bücher zu schreiben, haben aber letztlich nur einen wissenschaftlichen Aufsatz zustande gebracht. Unsere Zusammenarbeit sah so aus: Einer hat jeweils dem anderen einen Satz von sich in Kopräsenz vorgelesen, den wir dann zwei Stunden diskutiert haben. Das war interessant und fruchtbar, aber der Satz stand am Ende immer noch unverändert da.
Meistens waren solche Zusammenarbeiten aber klasse. In der Regel handelt es sich um eine Arbeitsweise, bei denen ich mich mit jemandem zusammensetze und es entsteht vorab eine gemeinsame Idee für eine Argumentation. Einer von uns sagt dann, „Ich schreib’ das schon mal.“ Meistens bin ich das. Ich gebe den Text dann zurück und dann überarbeitet die andere Person den Text massiv, dann ich wieder, bis wir irgendwann zufrieden sind. Dabei finden natürlich immer wieder vertiefende Diskussionen statt. „Kann man das so sagen?“ – „Kann man hier in der ersten Person von sich schreiben?“ – „Ist das der richtige Ton?“ – „Ist das der richtige Anschluss?“ – „Müssen wir noch genauer werden?“ Durch diese Gespräche entwickelt sich der eigene Stil und letztlich auch eine Art Tradition, mit welcher Theorie man schreibt, die selbst mit bestimmten Schreibtraditionen verknüpft sind.
Was meinen Sie an dieser Stelle mit Traditionen?
Ich denke zum Beispiel daran, ob man eher bei der Produktion von Unverständlichkeit mitarbeitet und alles in einem Satz korrekt richtig wiedergeben möchte – und am Ende noch ein weiterer Nebensatz eingefügt werden muss, um sicherzugehen, dass das zuletzt genutzte Wort auch ja richtig verstanden wird. Oder ob man Mut zum Risiko hat, eher kleinere Sätze schreibt, auch mal missverstanden wird, jedoch damit leben kann, da es ja später klar wird.
Ob jemand diesen Mut zur Lücke hat, ist sicher auch davon abhängig, wie alt man gerade ist und in welcher Lebensphase. Vor der Dissertation muss jede Formulierung stimmen, da kann man wenig riskieren. Nach der Dissertation oder wenn man eine Professur hat, da schreibt es sich etwas leichter. Dann kann man aus einer Position des Ich-sage-das-einfach-mal-auf-diese-Weise schreiben. Die Frage ist, wo man sich als Autor*in selbst verortet und wie man Leserinnen und Leser kommunikativ adressiert. Bin ich unwissend und wage mich vorsichtig an den ersten Satz mit drei, vier Relativierungen? Oder platziere ich mich in der Art: „Ich hab’ die Weisheit mit Löffeln gefressen und lasse euch gnädigerweise daran teilhaben.“
Wenn man sich intensiv mit diesem Thema des Situierens und der Situiertheit von wissenschaftlichen Gesprächsbeiträgen und ihrer Autoren*innen befasst – und das habe ich als Kommunikationswissenschaftler gar nicht vermeiden können –, dann sensibilisiert man sich recht stark für den eigenen Schreibstil. Großen Einfluss hatte da vor allem die ganze Writing-Culture-Debatte, die ich mit großem Interesse rezipiert und mitgetragen habe. Die Reflektion hat mich glücklicherweise nicht paralysiert, wie den Tausendfüßer, der sich fragt, wie er seine tausend Füße in eine Reihe bringt, dann aber nie losläuft. Das Reflektieren hat bei mir eher dazu geführt, einen neuen Habitus und neuen Stil zu entwickeln, der um die Konstruiertheit und die Inszeniertheit des eigenen Schreibens weiß, der nicht glaubt, er würde die Weisheit produzieren, und der auch gar nicht vorgibt, die Wahrheit zu sagen, sondern immer darauf besteht, sichtbar zu machen, dass dieser Text einen Autor und dass dieser Autor eine Biografie hat. Dieser Autor wendet sich der kommunikativ geschaffenen Welt nicht aus einer göttlichen Perspektive zu. Er sieht sich die Welt aus einer kleinen, theoretisch gesättigten, individuellen Perspektive an und sagt aus dieser Perspektive etwas, das man, wenn alles gut geht, auch gut lesen kann.
Wenn Sie an die jungen Menschen denken, die damit beginnen, wissenschaftliches Schreiben zu lernen: Gibt es da einen Text, der Ihnen spontan einfällt, den Sie ihnen an die Hand geben würden?
Die künstlichen Wilden von Clifford Geertz! Das Buch macht einem klar, wie sehr wir in unserer Sprache und der daraus resultierenden Perspektive schreiben – und dass wir aus diesen Begrifflichkeiten gar nicht so leicht herauskommen. Geertz geht dann aber nicht hin und sagt: „Ich muss meine Ergebnisse jetzt als Theaterstück aufführen.“ Stattdessen macht er sich bewusst: „Ich bin weiterhin dabei, wissenschaftliche Texte zu verfassen. Dabei reflektiere ich meine Position und gebe dem Leser damit zugleich den Warnhinweis, ‚Vorsicht, das hier ist eine von vielen möglichen Perspektiven!‘.“ Er schreibt außerdem in einem Stil, der einfach wunderbar ist.
Gibt es noch einen zweiten Text, den Sie empfehlen?
Wittgensteins Philosophische Untersuchungen.
Oh, das ist ja stilistisch etwas ganz anderes!
Ja, das ist etwas ganz anderes. Es ist, wenn Sie mich fragen, eine Art von wissenschaftlicher Poesie, die nur zwei Meinungen zulässt. Wenn man das liest, sagt man sich entweder: „Der hat sie doch nicht alle, wieso soll das Wissenschaft sein?“ Oder man feiert diesen Text als großartige Wissenschaft, weil er einem zeigt, wie sich wissenschaftliche Texte, die etwas zu sagen haben, auch anders schreiben lassen als in Form seitenlanger Bleiwüsten. Diese Bleiwüsten sind ja oftmals auch Verweisungswüsten, die nichts enthalten außer den Referenzen auf Leute, die man vorher gelesen hat. Der eigene Gedanke verschwindet jedoch.
Die Philosophischen Untersuchungen sind dagegen ein Text, der uns neben den vielen inhaltlichen Einsichten die Frage stellt, ob wir beim eigenen Schreiben die Dinge eigentlich auf den Punkt gebracht haben. Keinesfalls will ich sagen, dass ich so wie der späte Wittgenstein schreiben könnte, aber seine Art des Schreibens hat mich dazu motiviert, leserorientiert und pointiert zu schreiben. Ebenso übrigens wie die Lektüre von Ernest Hemingway und Dashiell Hammett, von denen ich viel gelernt habe – so zum Beispiel dass ein Text, auch ein wissenschaftlicher, immer eine Geschichte erzählen sollte. Beide schreiben eher kurze Sätze, bleiben beim Detail, bei der Beobachtung; sie versuchen, Szenen zu entwerfen, die verständlich sind und damit auch die Leser*innen ansprechen und berühren. Es ist sicher übertrieben zu sagen, dass meine Texte immer eine Pointe haben, aber ich bemühe mich zumindest darum.
Was raten Sie jungen Kolleginnen und Kollegen, um ins Schreiben zu kommen?
Das Gleiche, das ich allen rate, die Lampenfieber haben. Wer Lampenfieber hat, muss drei Dinge tun: Auftreten, auftreten, auftreten. Es gibt schließlich niemanden, der wissenschaftliches Schreiben im Kindergarten gelernt hat oder in der Schule oder in der Uni. Wie man gerade richtig schreibt, das muss immer neu ausprobiert und auskalibriert werden.
Als ich in den 1970er-Jahren angefangen habe, wissenschaftlich zu schreiben, da hat man noch einen ganz anderen Stil bedient, da tauchte noch so ein Ich auf und es musste eine Geschichte kommen, die mich zum Thema geführt hat, also auch biografisch-persönlich. Ein Beispiel wäre „Ich lese gerne Krimis, weil mich das Böse fasziniert. Und weil das so ist, beschäftige ich mich in meiner Dissertation mit dem Bösen in der Gesellschaft – auch um mich besser zu verstehen.“ Das wäre heute ziemlich übel, oder?
Interessant, dass Sie das sagen. Meine Beobachtung ist eher, dass das majestätische Wir und die Neigung zu Passivkonstruktionen noch bis in die 1980er-Jahre vorherrschten und dass Autorinnen und Autoren erst in den letzten Jahren mutiger geworden sind, tatsächlich mal „Ich denke, dass…“ oder „Meine These ist…“ zu schreiben.
Ja, aber der Umbruch kam bereits in den späten 1960er-Jahren. Da wurde auf einmal das Ich eingeführt und es gab eine bestimmte Zeit, eben Anfang der 1970er-Jahre, in der es dann sehr biografisch wurde. Meiner Meinung nach darf man jedoch nicht den Fehler begehen, seine Forschungsinteressen und Interpretationen rein biografisch herzuleiten oder zu begründen. Ich denke, dass man den Schreibprozess nur soweit individualisieren sollte, dass sichtbar wird, dass es hier eine bestimmte Perspektive zu lesen gibt, die nicht für sich beansprucht, allgemein verbindlich zu sein. Es handelt sich vielmehr um einen Beitrag zum wissenschaftlichen Gespräch, der auf möglichst kluge Anschlüsse hofft.
Howard S. Becker erzählt seinen Studierenden, dass er seine Manuskripte für gewöhnlich (und mithilfe diverser Feedbackschleifen, die er mit Freundinnen dreht) acht- bis zehnmal umschreibt, bevor er sie veröffentlicht. Wie viele Fassungen haben Ihre Texte im Durchschnitt, bevor Sie sie publizieren?
Auf den ersten Blick scheint es mir, als hätte es früher mehr Vorfassungen gegeben als heute. Denn zunächst habe ich alles mit Bleistift geschrieben, dann mit Hand überarbeitet und danach abgetippt. Bei der Überarbeitung des Getippten konkurrierte stets das Bedürfnis, etwas verbessern zu wollen, mit der Unlust, es danach komplett neu tippen zu müssen – was manchmal auch dazu führte, eine Fünf mal gerade sein zu lassen. Zwischenzeitlich kam der Computer, der das Ganze einfacher machte – vor allem die Korrekturen: Man musste nicht mehr das ganze Manuskript neu tippen, sondern konnte einfach kleinere Teile verbessern, ersetzen oder hinzufügen. Jedes neue Lesen erbrachte so eine neue Version. Auf einmal musste ich jede Version mit Datum versehen und oft kam ich durcheinander – was dazu führte, dass ich falsche die Version überarbeitete. Es dauerte einige Zeit, bis ich die Vielzahl der Versionen im Griff hatte. Auf den zweiten Blick trifft also zu, dass der Computer dazu führte, dass es mehr Vorfassungen gibt als früher. In meinem Fall kann ich sogar sagen, dass er dazu führte, dass es oft keine richtige Endversion mehr gibt, sondern immer nur vorläufige Versionen, die ständig in Bearbeitung sind.
Mit dem Drachen hat sich bei mir noch einmal so einiges geändert: Einerseits mein Schreibstil – er ist oraler geworden, andererseits mein Schreibtempo, das früher wegen meines Adler-such-Systems sehr langwierig war. Das Tippen, auch mit dem Computer dauerte bei mir einfach lange und war auch voller Rechtschreib- und Tippfehler. Der Drachen bietet mir eine neue Schreibmöglichkeit: Wenn ich mich heute hinsetze und anfange zu schreiben, dann habe ich eine Idee im Kopf, die ich dann schon mehrfach durchformuliert und oft auch mit anderen diskutiert habe. Wenn ich glaube, ich habe eine gute Fassung der Gedanken, beginne ich zu diktieren – meist ein, zwei Seiten, manchmal auch drei. Der so zustande gekommene Text hat, weil er auf Sprechen basiert, einen eher oralen Charakter – ganz einfach, weil ich beim Sprechen nicht so vielen Nebensätze produzieren kann, ohne den Faden zu verlieren. Dann enthält dieser Text für gewöhnlich einige Bedeutungsfehler, weshalb ich den Text zwei, drei Mal überarbeite. Dabei kommen mir aber immer wieder neue Einfälle, manchmal auch durch verrückte Formulierungen, die der Drachen von sich aus hineingeschrieben hat. Es entstehen dann teilweise ganz neue Ideen, wie der Text weitergehen könnte. Meist sind dann nach der Korrekturphase meine täglichen drei Seiten (also die Schreibarbeit) fertig und ich kann mich anderen Dingen zuwenden.
Kaum geändert hat sich allerdings, dass ich am anderen Morgen zunächst die drei Seiten lese, die ich am Tag zuvor formuliert habe. Die überarbeite ich noch einmal und schreibe dann die nächsten drei Seiten (siehe oben). So überarbeite ich im Grunde jeden Tag den Text aufs Neue – bis er dann als Ganzer steht.
Ich habe den Eindruck, dass Sie insgesamt sehr dialogisch arbeiten und dass Sie diese Arbeitsweise im Dialog mit dem Drachen zuletzt auch noch einmal verfeinert haben. Hat das etwas mit Ihren theoretischen Vorlieben zu tun?
Ja, das liegt sicher auch an meiner Präferenz fürs Interaktionistische. Es gibt bei mir allerdings theoretische Brüche. Zu Beginn meiner Forschungsbiografie war ich Marxist mit strukturalistischer Denkweise, dann schien mir vom interaktionistischen Denken alles Heil zu kommen, wenig später habe ich dann wieder die Prämissen strukturtheoretischen Denkens bevorzugt. Dann gab es eine Phase, in der mir die Phänomenologie verlockend erschien. Von dort führte der Weg zum Interaktionismus und Sozialkonstruktivismus und letztlich zum kommunikativen Konstruktivismus, der aus meiner Sicht in der Lage ist, zugleich Ordnungsbildung und die Schaffung von Neuem zu erklären. Aufmerksame Leser*innen können an meinen Texten immer erkennen, in welcher Phase ich gerade war oder bin. Während ich in einem Artikel mehr das Interaktionistische, das Situative und das Hier-kann-alles-passieren betone, gibt es andere Artikel, in denen ich das Rennbahnartige des Sozialen hervorhebe: Die Beteiligten können zwar ein bisschen hin- und herlaufen, aber sie bleiben in ihrer Rennbahn. Manchmal enthält ein Text von mir auch beide Perspektiven, sie brechen sich gegenseitig, weil ich mich für keine der beiden entscheiden konnte.
Verstehe ich Sie richtig, dass Sie beim Schreiben immer wieder merken, dass strukturalistische und interaktionistische Perspektiven nicht allzu gut miteinander vereinbar sind?
Sagen wir es mal so: Je älter ich werde, desto mehr bin ich der Meinung, dass das eine das andere voraussetzt oder ergänzt. In den frühen Jahren, in denen ich eine ganz klar strukturalistisch-marxistische Phase hatte, da war ich mir vollkommen sicher, dass das Sein das Bewusstsein beeinflusst – und wir haben Strukturen, die uns determinieren. Dann kam mein Saulus-Paulus-Erlebnis, da entwickelte ich die Vorstellung, alles Soziale sei ein Aushandeln, alles sei möglich. Symbolischer Interaktionismus. Ich brauchte eine lange Zeit des Hin- und Herschwankens, um zu sehen, dass beides gut vereinbar ist, wenn man davon ausgeht, dass Strukturen gleichsam einen Möglichkeits- und Begrenzungsraum eröffnen, der individuell in der Situation mit und gegen andere interpretiert, angeeignet und gefüllt werden muss. Dieser Raum kann ganz unterschiedlich ausgefüllt werden – und zwar nicht nur in kleinen Nuancen, sondern auch revolutionär. Selbst ein Schmetterlingsschlag kann eine Struktur aushebeln.
Ein letztes Thema, über das ich gerne mit Ihnen sprechen möchte, betrifft die Schreibdidaktik, die seit einigen Jahren die These verfolgt, dass es starke disziplinäre Unterschiede des wissenschaftlichen Schreibens gibt – und somit auch im Lehren und Lernen wissenschaftlichen Schreibens. Physikerinnen schreiben anders als Biologen, Biologen schreiben anders als Pädagogen und Pädagogen schreiben anders als Soziologinnen. Teilen Sie diese These?
Im Grunde schon. Ich denke aber auch, dass Amerikaner anders schreiben als Engländer oder wir Deutschen. Ich denke sogar, dass Schreiben schulenabhängig ist.
Was meinen Sie damit?
Nehmen wir mal beispielhaft Systemtheoretiker, Wissenssoziologen und Rational Choicer. Der Duktus zwischen diesen Gruppen variiert mitunter enorm. Der Punkt ist, dass mit bestimmten Denktraditionen oder Denkschulen auch bestimmte Formen der Selbstthematisierung bis hin zur Selbsteinkleidung einhergehen. Damit geht dann auch einher, wie sie schreiben. Beispiel Wissenssoziologie: Nicht umsonst wird hier oft (also nicht nur) eher essayistisch geschrieben. Arbeiten, in denen man Blei- und Verweisungswüsten produziert und in denen akademisch geackert wird, bis das letzte Komma stimmt, finden sich oft bis zur Dissertation. Danach fängt man an, nicht nur daran zu denken, was man Schwergewichtiges sagen möchte, sondern auch daran, wie man das am besten aufschreiben kann. Es geht dann mehr darum, welches Wort, welche Formulierung, welche Metapher trifft den Gedanken, den ich zum Ausdruck bringen will, am besten. Man wird bei der Art des Schreibens skrupulöser: Die wissenschaftliche Alltagsrhetorik reicht dann nicht mehr, so wie: „Meine These ist…“ oder „Desiderat der Auseinandersetzung mit der Literatur ist…“ oder „Wie ich zeigen konnte...“. Oder besser: Man erkennt, dass die Alltagsrhetorik auf ihre Art zu ungenau ist, um etwas auf den Punkt zu bringen. Dann kann man auch anfangen, mit der Sprache zu spielen – auch gegen den normalen Gebrauch.
Es ist das Gute an der Sprache, dass man mit ihr spielen kann, dass sie uns so vielfältige Möglichkeiten bietet, um etwas, was einem klar ist, stilistisch auf den Punkt zu bringen. Meiner Meinung nach gibt es Formulierungen und Metaphern, die besser geeignet sind, etwas klar auszudrücken. Dazu traut man sich vielleicht aber erst, wenn man jenseits der Emeritierung ist…
Sie haben jetzt vor allem die Differenzen von Schreibtraditionen und Kleidungsstilen in der Soziologie betont. Gibt es aus Ihrer Sicht auch etwas, das wissenschaftliche Texte zu soziologischen Texten macht und von anderen Texten unterscheidet?
Schwierig. Also wenn ich an Max Weber oder Émile Durkheim, an Pierre Bourdieu oder Harold Garfinkel denke, die alle recht akademisch schreiben, dann tue ich mich schwer, Gemeinsamkeiten zu sehen. Oder nehmen wir Rainer Paris, den ich sehr schätze. Der schreibt wunderschöne und klare Bücher, die sind klug und auf den Punkt. Seine Sprache ist wunderbar. Ich könnte mir aber gut vorstellen, dass einige meiner Kolleginnen und Kollegen Probleme mit dieser Art zu schreiben haben, die aus meiner Sicht in der Tradition von Georg Simmel steht. Sicher, viele loben Simmel, aber wenn es dann um Texte geht, die in Anlage und Stil ähnlich sind, dann hört das Lob oft auf. Dann wird gern mit dem Totschlagargument ‚unwissenschaftlich‘ gekeult. Wolfgang Sofsky ist ein weiteres Beispiel. Ich weiß, dass sein Stil nicht allen akademischen Kolleginnen und Kollegen gefällt.
Welche Probleme meinen Sie?
Sofsky versucht, seine Gedanken klar zum Ausdruck zu bringen. Dazu benötigt er nicht die Verneigung vor dem akademischen Vokabular. Stattdessen versucht er, die Phänomene, über die er schreibt, klar auszudrücken, meist ohne relativierende Nebensätze und Einschübe. Das macht er manchmal mit Formulierungen, die riskant sind und möglicherweise nicht mehr durch die verfügbaren empirischen Untersuchungen gedeckt sind – aber immer durch die Sache. Er drückt das aus, was Simmel ja auch immer macht: Das Wissen einer Interaktionsgemeinschaft über bestimmte symbolische Formen und Kulturbedeutungen. Er bringt ein Phänomen auf den Punkt, wohlwissend, dass solche Pointierungen bestimmte Aspekte, die auch noch eine Rolle spielen, erst einmal ignorieren. Idealtypen halt. Diese Verklarung eines Gedankens provoziert manche. Aber vielleicht lag die Kritik auch an seinem Alter. Er war damals einfach zu jung, um so etwas sagen zu können. Wenn er seine Texte mit siebzig geschrieben hätte und nicht mit dreißig oder vierzig, dann hätte man das vermutlich anders gewertet.
Worin liegt der Unterschied?
Im akademischen ‚Jugendalter‘ ist das anders, da soll man der scientific community nicht demonstrieren, dass man eine eigene und interessante Persönlichkeit hat, sondern dass man in der Lage ist, wissenschaftlichen Normen anderer zu folgen. Bevor man anfängt, eine eigene Erzählung zu entwickeln, muss man in Akademia (immer noch) erst einmal kleine Brötchen backen. Es gibt auch in Akademia die implizite Norm, dass der junge Spund den Meistern nicht im gleichen Ton kommen darf. Oder wie es im alten Rom hieß, immerhin eine veritable Klassengesellschaft: Quod licet jovi, non licet bovi – Was dem Jupiter erlaubt ist, ist dem Ochsen nicht erlaubt. Ein Spruch, den ich in der Schule sehr oft zu hören bekam und wahrscheinlich deshalb immer noch hasse. Wer wie im Diskurs etwas äußern darf, das Beachtung findet, hängt also nicht nur von der sozialen Stellung des Sprechenden ab, sondern auch von dessen Alter (und dessen beziehungsweise deren Geschlecht und ethnischer Herkunft etc.) und auch vom richtigen Zeitpunkt.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Martin Bauer, Stephanie Kappacher.
Kategorien: Universität
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