Samir Sellami | Veranstaltungsbericht |

Die Apokalypse überzeugt

Bericht von der Tagung „Die Apokalypse enttäuscht“ am 5. und 6. Mai 2022 an der Universität der Künste Berlin

Whatever ends, of whatever times, we must confront. (Catherine Keller)

„Die Apokalypse enttäuscht“ lautete der ungewöhnliche Titel einer ungewöhnlichen Rezension des französischen Schriftstellers, Philosophen und Literaturtheoretikers Maurice Blanchot (1907–2003). Veröffentlicht wurde sie 1964, das rezensierte, noch heute geläufige, wenn auch wahrscheinlich nicht mehr breit rezipierte Buch erschien im deutschsprachigen Original bereits sechs Jahre zuvor, 1958. Es trug den alarmierenden Titel Die Atombombe und die Zukunft des Menschen und beruhte auf einem wiederum zwei Jahre zuvor gesendeten Radiovortrag des zum damaligen Zeitpunkt schon fast 80-jährigen Autors Karl Jaspers. Die Problemstellung seines Buches fasste Blanchot im Auftakt seiner Rezension bündig zusammen:

„Ein Philosoph oder vielmehr, wie er es selbst bescheiden und stolz nannte, ein Philosophieprofessor beschließt, sich diese Frage zu stellen: Heute gibt es die Atombombe; die Menschheit kann sich selbst vernichten; diese Vernichtung würde total sein; diese Möglichkeit einer totalen Vernichtung der Menschheit durch sich selbst leitet einen Beginn in der Geschichte ein; was auch geschieht, welche Vorsichtsmaßnahmen man auch ergreift, man wird nicht in die Vergangenheit zurückkehren. Die Wissenschaft hat uns zu Herren der Vernichtung gemacht; diese Möglichkeit wird uns nicht mehr genommen.“[1]

Erscheint eine solche Problemskizze aus heutiger Sicht trivial, überholt oder auf einen Schlag wieder aktuell? Für die Frühphase des Kalten Krieges kann nichts davon gelten, jedenfalls waren zum damaligen Zeitpunkt Befürchtungen, die atomare Aufrüstung der Großmächte könnte in einem Kollektivsuizid der Menschheit enden, alles andere als common sense, trotz Hiroshima und Nagasaki. In Politik und Öffentlichkeit konnte man den Einsatz von Kernwaffen in Stellvertreterkriegen noch weithin als realistische Option der Kriegsführung diskutieren, erst später wurde das damit verbundene apokalyptische Bedrohungsszenario zunehmend handlungsleitend für die geopolitischen Strategien der Großmächte. Alles andere als selbstverständlich ist vor diesem Hintergrund Jaspers’ Gespür für die grundstürzenden gesellschaftspolitischen Verschiebungen im heraufziehenden nuklearen Zeitalter. Noch erstaunlicher jedoch erscheint aus der Rückschau Blanchots rezensentische Klugheit, die sich von Jaspers’ prophetischen Fähigkeiten nicht allzu sehr beeindrucken ließ und stattdessen die tieferliegenden ideologischen, politischen wie ästhetischen Problemgehalte seines Buches adressierte.

Blanchots Hauptkritik an Jaspers lautet wie folgt: Wenn die Behauptung stimmt, dass die einzig mögliche Rettung des Menschen vor sich selbst in seiner radikalen „Umkehr“ liege,[2] in der grundlegenden Wandlung seines gesamten Existenzstils also, warum wählt Jaspers dann für die Ausarbeitung der philosophisch-existenziellen Grundzüge dieser Konversion keine radikal neue Sprache, sondern artikuliert sie im Rückgriff auf anthropologische, politische und begriffliche Normen, die genau diejenige Fundamentalkrise mit zu verantworten haben, aus der nun ein dringender Ausweg nötig ist? Diese „alte Sprache“ ist die subjektzentrierte Existenzphilosophie, die angesichts der atomaren Bedrohung nichts anderes als einen „befremdliche[n] Diskurs“ zu bieten habe, „der die voneinander getrennten Milliarden Menschen auf kindische Weise in der Gestalt eines Einzigen vertritt […].“[3] Innerhalb dieses Diskurses, der schon bald zur dominanten Nachkriegsideologie des Westens werden sollte, enttäusche die Apokalypse, weil sie nicht über den „kindischen“ Reflex hinausgehe, der individuel-vereinzeltes Freiheitsempfinden ohne Umschweife auf die gesellschaftliche und sogar planetarische Makroebene projiziert. Blanchot fasst zusammen:

„Die Apokalypse enttäuscht. Die zerstörerische Macht, mit der uns die Wissenschaft ausgestattet hat, ist noch sehr schwach. Im äußersten Fall könnten wir das irdische Leben vernichten, wir haben keinerlei Macht über das Universum. Diese Schwäche sollte uns Geduld lehren. Und es ist nicht einmal wahr, dass die vollständige Vernichtung der Menschheit möglich wäre; damit es dazu kommt, müssten die Voraussetzungen einer solchen Möglichkeit vereint sein: tatsächliche Freiheit, die Verwirklichung der menschlichen Gemeinschaft, die Vernunft als einheitliches Prinzip, mit anderen Worten, jene Totalität, die man – in einem vollgültigen Sinn – kommunistisch nennen muss.“[4]

Die Apokalypse als Denkfigur und literarische Gattung

Jaspers, Blanchot, die Atombombe, die Apokalypse, die Rettung der kommunistischen Idee vor der Hölle des real existierenden Stalinismus, die Jahre 1956 bis 1964. Diese Konstellation nahmen MARCUS QUENT und ALEXANDER GARCÍA DÜTTMANN (beide Berlin) zum Ausganspunkt für eine Tagung, die am 5. und 6. Mai 2022 in der gut gefüllten Aula der Berliner Universität der Künste stattfand. Vor die Wahl gestellt, ob sie eine Konferenz, sagen wir, „Das Kapital lesen“ oder einfach nur „Das Kapital“ nennen sollten, würden sich die meisten Veranstalter wohl für die erstgenannte Variante entscheiden. Quent und Düttmann wählten glücklicherweise die riskantere Option und zitierten den Titel des Blanchot-Aufsatzes Wort für Wort, anstatt schon im Vorfeld auf sichere Distanz zu ihm zu gehen. Das verpflichtete die eingeladenen „Kollegen und Freunde“ (Düttmann) einerseits auf die genaue Lektüre einer überschaubaren Textgrundlage, ließ ihnen aber zugleich genügend Freiraum, sich von dieser zu lösen, um assoziativer, allgemeiner, abstrakter über Apokalypse nachzudenken.

Auf drei grundlegend verschiedene Weisen wurde die Apokalypse im Rahmen dieser Konferenz thematisiert: erstens als philosophische Denkfigur, zweitens als literarische Gattung und drittens, eher beiläufig, als politische Metapher im Dienst der Bewusstseinsschärfung und Mobilisierung.

In die erste Kerbe schlugen die Vorträge von DIRK QUADFLIEG (Leipzig), CECILIA SJÖHOLM (Stockholm) und Alexander García Düttmann. Quadflieg, dessen Vortrag die Konferenz nach Marcus Quents kurzer Einleitung eröffnete, ging gleich in die Vollen und stellte die Frage, ob mit der von Blanchot angesprochenen Apokalypse nicht vielleicht untergründig die Apokalypse der Philosophie als solcher gemeint sein könnte. Anders als bei Jaspers also, bei dem die atomare Bedrohung eine Kulisse bereitstelle, vor der sich endlich die beherzte Selbstbesinnung freiheitlich gesinnter Individuen auf sich selbst abspielen könne, gehe es Blanchot darum, im Angesicht der Apokalypse radikal neue Möglichkeiten sowohl des Denkens als auch des Gemeinwesens aufzuzeigen, was auch die Möglichkeit von deren endgültigem Ende nicht a priori ausschließen dürfe. Kurzum: Bei Jaspers gehe es um die Bestärkung und Bestätigung längst formulierter philosophischer Normen, bei Blanchot um deren radikale Infragestellung. Gerade in dieser Existenzkrise der Philosophie entstehe aber die radikale Möglichkeit einer neuen Ganzheit oder Totalität, eines neuen Gemeinwesens. Quadflieg deutete das wahlweise als versteckten oder offenen Bezug auf Marx und dessen Bestimmung des Menschen, allen voran des Arbeiters, im 19. Jahrhundert als eines sich seiner selbst noch nicht vollständig bewussten Gattungswesens. Die Atombombe trage das Vermögen in sich, als Katalysator einer Besinnung des Menschen auf sich selbst zu wirken und appelliere an die Schaffung eines neuen Gemeinwesens, das trotz der hochproblematischen Assoziationen zum Stalinismus wohl nicht anders als kommunistisch genannt werden könne.

Alexander García Düttmanns Beitrag nahm diesen Faden in den Diskussionen und später ausführlicher in seinem eigenen Beitrag auf. Den „radikalsten, übertriebensten Gedanken“ Blanchots sah auch er darin, dass dem Menschen erst aus der realen Möglichkeit, sich selbst zu vernichten, überhaupt die Chance erwachse, sein (besseres) Überleben zu organisieren. Es gehe hier – und an der Stelle sieht man exemplarisch, wie wichtig bei dieser Veranstaltung Nuancen und feine Unterschiede waren – nicht um die Revitalisierung des menschlichen Selbsterhaltungstriebs angesichts einer aus dem Ruder gelaufenen geopolitischen Eskalationsdynamik. Die Aufgabe liege vielmehr darin, die Selbstbehauptung menschlichen Lebens ohne die anthropozentrische Insistenz auf Selbsterhaltung zu denken. Ohne einen (heute alles anderen als salonfähigen) positiven und universalen Bezug auf „Menschheit“, so Düttmann, sei dieser „übertriebene Gedanke“ kaum denkbar.

Auch Cecilia Sjöholm argumentierte klassisch philosophisch und hatte offenkundig nicht nur Blanchots Rezension, sondern auch Jaspers Buch gründlich gelesen. Ihr Beitrag schien im Rückgriff auf Hannah Arendt Jaspers stärker entgegenzukommen als die der meisten anderen Teilnehmer:innen. Dabei traten mit der Figur des Opfers, die sich durch Jaspers’ Argumentation ziehe, zum ersten Mal auch religionsgeschichtliche und religionsästhetische Aspekte in den Vordergrund, die in der Konferenz insgesamt (siehe unten) ein klein wenig zu kurz kamen.

Zweifel und Historisierungen

Der Literaturwissenschaftlerin EVA HORN (Wien) gebührt das Verdienst, während der gesamten Konferenz tapfer dagegen gehalten zu haben. Während sich fast alle anderen Teilnehmer:innen auf weitgehend subtile Weise bemühten, Blanchots Beitrag alle möglichen Subtilitäten zu entlocken, verpasste Horn, die Einschlägiges sowohl zum Anthropozän als auch zur Apokalypse veröffentlicht hat,[5] kaum eine Gelegenheit, gegen Blanchots Text und seinen vermeintlichen Aktualitätsgehalt zu wettern. Unter Rückbezug auf die Erdsystemwissenschaften wollte Horn ihrem Publikum nahebringen, dass die Atombombe in Bezug auf eine „Technosphäre“ zu denken sei, die nicht mit Heidegger als „Gestell“ oder mit McLuhan als prothetische Verlängerung menschlicher Organe und Fähigkeiten aufzufassen sei, sondern ähnlich wie Bio- und Atmosphäre als ein weitgehend autonom (mit Luhmann ließe sich vielleicht präziser sagen: autopoietisch) operierendes Subsystem des Planeten Erde.

Da ,der Mensch‘ höchstens als ein weiteres Subsystem, vermutlich aber eher noch als unwahrscheinliches Nebenprodukt aus Bio- und Soziosphäre zu betrachten sei, lasse sich aus der Apokalypsegefahr keine plausible Figur einer ,Menschheit‘ ableiten, die durch Prozesse kollektiver Bewusstwerdung Kontrolle über die Technosphäre „zurückgewinnen“ könne. Die „Apokalypse“ sei daher vor allen anderen Dingen eine „schlechte Fiktion“, die gerade im Zeitalter der Atombombe (und a fortiori im Zeitalter des Klimawandels?) zu neuen Formen der Totalisierung und Instrumentalisierung der Massen einlade. Eine neue (demokratische) Mobilisierungsperspektive für ein neues (demokratisches) politisches Gemeinwesen läge demnach nicht in der Beschwörung einer vernunftbasierten Rettung, die aus planetarisch geteilter Gefahr erwachse, sondern im Versuch, bestehende und noch zu erfindende Initiativen der Schonung möglichst geschickt miteinander zu koordinieren. Das Warten auf die Ankunft eines Kollektivsubjekts, das für die Apokalypsegefahr bewusst Verantwortung übernehme, könne man sich schlicht nicht leisten.

Horns Referat wirkte einerseits als wohltuendes Korrektiv zur allgemeinen Blanchot-Begeisterung, glich in seinem Gestus aber zuweilen auch einer Erziehungsmaßnahme. Ihren „historisierenden“ Vorwurf jedenfalls, Blanchot hätte es bereits zum damaligen Zeitpunkt, sprich: 1964, besser wissen müssen und verkläre mit der positiven Referenz auf einen noch zu realisierenden Kommunismus dessen real existierende Variante, konnte DANILO SCHOLZ (Essen/Wien) mit seinerseits historisierenden Argumenten überzeugend entkräften. In seinem eigenen Beitrag, der einem Parforceritt durch die geistig-politische Landschaft der Trente Glorieuses in Frankreich glich, rekonstruierte er den ideen- und militärgeschichtlichen Kontext von Blanchots Rezension und förderte dabei eine Fülle bemerkenswerter Archivfundstücke zutage. Dass etwa Albert Camus in der Zeitschrift Combat Trumans Kernwaffeneinsatz in Japan scharf verurteilte, ist wenig überraschend, doch wer hätte schon vermutet, dass laut Umfragen kurz nach Kriegsende 85 Prozent der französischen Bevölkerung mit weiteren Nuklearschlägen einverstanden gewesen wäre, insofern es die Kapitulation der Achsenmächte beschleunigt hätte, oder dass die kommunistische Zeitung L'Humanité die Zerstörung Hiroshimas als wissenschaftliche Revolution feierte?

Weiter führte Scholz aus, wie die Atombombe im Übergang von der vierten zur fünften Republik ihre bloß symbolische Rolle als Wunder und Schrecken der Moderne verließ und zum bedeutenden politischen Faktor wurde – erstaunlicherweise in erster Linie zum innenpolitischen. Am Bespiel Frankreichs sei gut zu beobachten, wie sich die Atombombe auch ohne ihre Zündung[6] wirkungsvoll auf nationalem Boden einsetzen lasse: als Modernisierungsversprechen, als Garant der Friedenspolitik oder als Mittel gegen die vollständige militärische Abhängigkeit von den USA (Frankreich würde 1966 vorübergehend aus der Kommandostruktur der NATO austreten). Kurzum: als mächtiger Vorschuss für die politischen Versprechen des Gaullismus. Blanchots Jaspers-Rezension müsse daher ganz im Kontext seines Engagements gegen die in seinen Augen durch und durch rückständige Politik de Gaulles gelesen werden, von der die Atompolitik lediglich ein (wenn auch bedeutendes und hoch budgetiertes) Politikfeld in einem größeren Zusammenhang darstellt. Die Zeit zwischen Jaspers’ erstem Radiovortrag 1956 und Blanchots Rezension 1964, grob also zwischen Sputnik-Schock und Kubakrise, falle zusammen mit dem fundamentalen Wandel von der Doktrin der „massive retaliation“ zu einer vermeintlich rationaleren und vorsichtigeren Politik der „flexible response“. [7] Als Folge derartig gewaltiger diplomatischer Verschiebungen musste sich zwangsläufig auch das Denken über Atomtod und Apokalypse verändern.

Lässt sich die Apokalypse „beziffern“?

Während die Apokalypse für Eva Horn eine schlechte Fiktion war, trat sie bei ANSGAR MARTINS (Frankfurt/Jerusalem) als (überraschend offene) literarische Gattung in Erscheinung. Sein Vortrag untersuchte das in aller Apokalyptik virulente „seltsame Bündnis von Vernichtung und Verwirklichung“ und beugte sich dabei über die älteste erhaltene apokalyptische Schrift, das Äthiopische Buch Henoch. Es erzählt vom gleichnamigen Propheten, dem die Aufgabe zukommt, zwischen Gott und den gefallenen Engeln zu vermitteln; der Vermittlungsversuch scheitert jedoch, Gott jagt heilig erzürnt eine Sintflut über die Welt, rettet Henoch aber mittels Entrückung ins Paradies. Martins’ Vortrag machte neugierig auf den entlegenen Text und hinterließ dabei eine Reihe offener Fragen, die sich im Prinzip immer dann stellen, wenn apokalyptische Motive aus sakralen Ursprungskontexten in profane Register übertragen werden: Was sind die heutigen Katastrophen, deren Fluchtpunkt das Untergangsszenario der gesamten bekannten Welt darstellt? Lassen sich aus den modernen Apokalypsen überhaupt noch Offenbarungen und Lehren gewinnen, oder handelt es sich bei ihnen um gänzlich undialektische Vernichtungsvorgänge ohne Aussicht auf Offenbarung oder Prophetie? Wer sind die Subjekte und wer die Adressaten des Untergangs? Und was wird in säkularen Kontexten aus dem Schicksal der „Entrückung“, das Henoch widerfährt und das für die Fortentwicklung von Erlösungs- und Verklärungsnarrativen nicht nur des Christentums bekanntlich welthistorische Bedeutung erlangte? Wie auch immer man mit derlei Fragen umgehen mag, es lohnt sich, zwei Anstöße aus dem Vortrag im Hinterkopf zu behalten: Zum einen, das habe Martin Buber demonstriert, lasse sich auch religionshistorisch stringent zeigen, dass eben kein Gott existiere, der uns retten könne, sondern nur wir selbst. Zum anderen müsse man das Auferstehungsmotiv nicht notwendig narzisstisch verstehen, sondern könne es auch sozial und solidarisch wenden, gewissermaßen als „Auferstehung der Anderen“.

Will man der rundum gelungenen Konferenz überhaupt einen Vorwurf machen, dann vielleicht den, dass insgesamt ausgerechnet Aspekte aus dem Bereich der Religion zu kurz kamen. Jedenfalls stand Martins’ Vertiefung in einen religionshistorisch zwar bedeutsamen, aber zugleich auch esoterischn und exzentrischen Grundlagentext – das Henoch-Buch gehört zu den Apokryphen und Pseudepigraphen, folglich also nicht zum erlauchten Kreis der jüdisch-christlich kanonisierten Quellen des Alten Testaments – ein wenig einsam da im Gesamtbild der Konferenz. Dieses wurde komplettiert durch einen Vortrag von Marcus Quent, der Blanchots Text noch einmal andere Namen wie den bis dahin nur anzitierten Günther Anders und das brasilianische Autorenduo Eduardo Viveiros de Castro und Deborah Danowski an die Seite stellt. Über Anders’ Begriff der „potenzierten Sterblichkeit“ kam Quent auf den Gedanken, die Bombe lasse sich als weitere Etappe in der Kränkungsgeschichte des Menschen beschreiben, mit der apokalyptische Vorstellungen zum ersten Mal realistisch und zu einem gewissen Grad sogar „bezifferbar“ würden. Liegt in dieser Kränkung wie in denen Kränkungen durch Darwin, Freud etc. unter Umständen doch eine gewisse Chance auf die „Wiedergewinnung“ der Vernunft?

Erst nach diesem Vortrag wurde die Frage ausführlicher diskutiert, was sich für die Bedingungen des Denkens der Apokalypse vor und nach dem Klimawandel grundsätzlich verändere. Für die Gesamtdynamik der Veranstaltung kam das etwas spät. Im Rückgriff auf Quents Formulierung der „Bezifferbarkeit“ der Apokalypse ließe sich wenig kontrovers behaupten, dass diese im Übergang von der nuklearen Ära zum Zeitalter des Klimawandels um ein Vielfaches gesteigert sei. Seltsamerweise unausgesprochen blieb dabei ein naheliegender Gedanke, der auch im schwelenden Grundkonflikt Apokalypse als schlechte Fiktion vs. Apokalypse als radikale Denkfigur hätte vermitteln können, und zwar der Folgende: Das grundsätzlich Neue an der Apokalypse im Anthropozän hängt mit den grundsätzlich neuen Möglichkeiten ihrer Datierbarkeit zusammen, lassen sich doch ohne jeglichen Alarmismus, sondern im Rückgriff auf konkrete Daten, Ereignisse und Erfahrungen zahlreiche (Teil-)Apokalypsen benennen, deren zerstörerische Folgen schon jetzt als irreversibel anzuerkennen sind. Damit wäre dem Vorwurf entgegnet, dass die Rede von der Apokalypse notgedrungen die Pluralität des Lebens und der Phänomene zugunsten gefährlicher Totalisierungsdynamiken aufheben müsse. Dabei darf man sich aber nicht der positivistischen Illusion hingeben, dass es für diese negativen Singularitäten gewissermaßen eine Datenbank gebe, deren Rohdaten sich jederzeit mühelos abrufen ließen. Was als eine solche Teilapokalypse Geltung beanspruchen darf und was nicht, bleibt eine Frage des Kontextes, des theoretischen Framings, der politischen Haltung, der Machtverhältnisse und der Aufmerksamkeitsökonomien. Um das zentrale Beispiel von Viveiros de Castro und Danowski aufzugreifen: Für die indigenen Gemeinschaften des heute als Amerika bezeichneten Territoriums hat die Apokalypse, in deren irrealer Folgezeit sie leben müssen, schon längst stattgefunden. Ihr Datum fällt zusammen mit der Ankunft des „weißen Mannes“ und der gewaltsamen Zerstörung ihrer Lebensräume, ihrer natürlichen, geistigen und spirituellen Ökologien.[8]

Aufschub oder Verzug?

SAMO TOMŠIČ (Hamburg) schien mit den in den letzten Jahren heftig in Mode gekommenen Anthropozän-Theorien nur wenig anfangen zu können, wodurch er noch einmal Eva Horns zuverlässigen, wenn auch nicht immer ganz gerechten Zorn auf sich zog. Sein Beitrag verschob den Schwerpunkt elegant von der Bühne der Großmachtpolitik auf die Hinterzimmer der sozialen Bindungen, die durch den Liberalismus als dominante philosophische, ökonomische und politische Ordnung permanent auf dem Spiel stünden. Originell war in diesem Zusammenhang der Verweis auf Francis Fukuyama. Tomšič porträtierte den Exponenten der These vom ,Ende der Geschichte‘ nach dem Zerfall der Sowjetunion als die „perfekte Inversion“ von Karl Jaspers. Während Jaspers den Liberalismus triumphieren ließ, indem er ihn als einzig mögliche Waffe gegen die „politische Atombombe Kommunismus“ (Scholz) in Stellung brachte, führe bei Fukuyama der historische Triumph des Marktliberalismus nach 1990 zu einer vermeintlichen Überwindung und „Verwerfung des Katastrophenzeitalters“. „Ohne Geschichte keine Apokalypse“ wäre der passende Slogan, der sich aus Fukuyamas geschichtsphilosophischer Abschaffung der Geschichtsphilosophie herausschält. Ziemlich raffiniert ließen sich damit auch die antisozialen Affekte rechtfertigen, auf denen die kapitalistische Mehrwertproduktion aufbaue: Wo es gemäß der Thatcher-Doktrin „die Gesellschaft“ nicht gebe, vielleicht sogar nicht geben dürfe, wie Tomšič nicht ganz originalgetreu extrapolierte, könne sie sich schwerlich selbst vernichten.[9]

„Immer kommt etwas dazwischen“ hätte der Vortrag von ANTONIA BIRNBAUM (Paris/Wien) geheißen, der genau deshalb entfallen musste. Bei aller Verschiedenheit der Zugänge, Vortrags- und Diskussionsstile sowie dem breiten Spektrum an Auffassungen hinsichtlich der Brauchbarkeit der „Apokalypse“ für die gegenwärtige „Menschheit“ – auf wenigstens eine gemeinsam geteilte Grundannahme könnte man vielleicht alle Beteiligten dieser Konferenz festlegen. Sie besagt, dass sich das Überleben der Spezies Mensch auf diesem Planeten nicht darauf verlassen darf, immer nur weiter Zeit zu gewinnen, im Glauben an einen ewigen Aufschub oder Verzug der Apokalypse, der am Ende ja doch immer etwas dazwischenkommt. Um einen berühmten Satz Walter Benjamins leicht, aber signifikant abzuwandeln: Das Immer-so-Weiter ist vielleicht nicht gleich für alle die Katastrophe von heute, bereitet aber den Boden für die Katastrophen von morgen und übermorgen, die sich unter den Bedingungen des Anthropozäns möglicherweise doch sehr viel schneller als befürchtet zu dem addieren, was man spätestens seit der Johannes-Offenbarung Apokalypse nennt.

Ob Maurice Blanchot dabei die Ehre gebührt, als weit und breit Erster das Szenario radikal durchdacht zu haben, dass das vollumfängliche Ausmaß menschlicher Freiheit erst mit der Möglichkeit zur Selbstvernichtung konkret erfahrbar wird, wie etwa Alexander García Düttmann wiederholt insinuierte, müssten ideengeschichtliche Forschungen beweisen oder widerlegen. Dass Blanchot vermutlich nicht ganz alleine mit dieser Intuition war, lässt sich exemplarisch aus einem zeitgenössischen Text einer für apokalyptische Zwischentöne besonders empfänglichen Autorin heraushören. In ihrer Erzählung Das dreißigste Jahr von 1961 macht Ingeborg Bachmann ein Gattungswesen zum anonymen Helden und lässt ihn mit Blick auf seine „eisige Zeit“ die folgenden Sätze sagen:

„Ich bin zornig, von einem Zorn, der nicht Anfang noch Ende hat. Mein Zorn, der von einer frühen Eiszeit herrührt und sich gegen die eisige Zeit jetzt wendet… Denn wenn die Welt zu Ende geht – und alle sagen’s, die Gläubigen und die Abergläubischen, die Wissenschaftler und die Propheten, einmal wird sie zu Ende gehen –, warum dann nicht vor dem Ausrotieren oder vor dem Knall oder vor dem Jüngsten Gericht? Warum dann nicht aus Einsicht und Zorn? Warum sollte sich dieses Geschlecht nicht sittlich verhalten können und ein Ende setzen? Das Ende der Heiligen, der unfruchtbar Fruchtbaren, der wahrhaft Liebenden.“[10]

Handelt es sich bei diesem aus „Einsicht und Zorn“ beschlossenen Kollektivsuizid der Menschheit um ein kühnes außermoralisches Gedankenexperiment oder um zynischen Nihilismus? Diese Frage muss nach philosophischer Manier nicht final beantwortet werden. Besser ist es, sie dialogisch und multiperspektivisch „durchzuarbeiten“, was der Tagung von Marcus Quent und Alexander García Düttmann geradezu meisterhaft gelungen ist. Wer sich damit noch nicht zufriedengeben will, findet im Werk der ökofeministischen Theologin Catherine Keller eine vierte Dimension der Apokalypse, neben ihrer Funktion als philosophische Denkfigur, literarische Gattung und politische Metapher. Es ist die einigermaßen beängstigende Möglichkeit, dass das vom Christentum institutionalisierte Endzeitszenario zur „self-fulfilling prophecy“ wird, die am Ende Wirklichkeit werden lässt, was Jahrhunderte lang nur eine schreckliche Fantasie im Dienste einer allzu weltlichen Ausbreitung der Macht bleiben sollte.[11]

Tagungsprogramm und Blanchots Rezension (Pdf)

  1. Maurice Blanchot, Die Apokalypse enttäuscht, in: ders., Die Freundschaft, übers. von Uli Menke und Ulrich Kunzmann, Berlin 2011, S. 131–139, hier S. 131.
  2. Karl Jaspers, Die Atombombe und die Zukunft des Menschen. Politisches Bewußtsein in unserer Zeit [1958], München 1960, S. 49.
  3. Blanchot, Die Apokalypse enttäuscht, S. 138.
  4. Ebd., S. 139.
  5. Vgl. Eva Horn, Zukunft als Katastrophe. Fiktion und Prävention, Frankfurt am Main 2014; dies. / Hannes Bergthaller, Anthropozän zur Einführung, Hamburg 2019.
  6. Dabei sollte nicht unerwähnt bleiben, dass Frankreich die Bombe in mindestens einem Fall tatsächlich zündete, und zwar auf „eigenem“ Boden – in der Sahara, 1960, Algerien.
  7. Hierzu Standardlektüre: John Lewis Gaddis, Strategies of Containment. A Critical Appraisal of American National Policy During the Cold War, aktual. und erw. Auflage, Oxford u. a. 2005.
  8. Vgl. Eduardo Viveiros de Castro / Deborah Danowski, In welcher Welt leben?, übers. von Ulrich und Clemens van Loyen, Berlin 2019. Das Motiv der Apokalypse der indigenen Welt bei Ankunft der Europäer findet sich bereits bei Claude Lévi-Strauss, Tristes Tropiques, Paris 1955. Der portugiesische Soziologie Boaventura de Sousa Santos spricht im Zusammenhang dessen, was man als geistige Apokalypse bezeichnen könnte, von „Epistemizid“, vgl. Boaventura de Sousa Santos, Epistemologies of the South. Justice Against Epistemicide, London 2013.
  9. In dem viel zitierten Interview jedenfalls behauptet Thatcher nicht, dass es keine Gesellschaft geben dürfe, sondern zunächst einmal nur, dass es keine gebe. Dennoch lässt sich aus dem Originalzitat leicht heraushören, welch geringer Stellenwert sozialen Bindungskräften in Thatchers Theorie des Regierens zukommt: „I think we have gone through a period when too many children and people have been given to understand ,I have a problem, it is the Government’s job to cope with it!‘ or ,I have a problem, I will go and get a grant to cope with it!‘ ,I am homeless, the Government must house me!‘ and so they are casting their problems on society and who is society? There is no such thing! There are individual men and women and there are families and no government can do anything except through people and people look to themselves first.“ (Douglas Keay, Interview mit Margaret Thatcher für Woman’s Own, 23.9.1987).
  10. Ingeborg Bachmann, Das dreißigste Jahr, in: dies., Meistererzählungen, München 1961, S. 18–67, hier S. 29.
  11. Catherine Keller, Facing Apocalypse. Climate, Democracy and Other Last Chances, New York 2021, S. 8.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Jens Bisky.

Kategorien: Kultur Kunst / Ästhetik Ökologie / Nachhaltigkeit Philosophie Zeit / Zukunft

Samir Sellami

Dr. Samir Sellami, Literaturwissenschaftler und Literaturkritiker, arbeitet am Hamburger Institut für Sozialforschung in der Redaktion der Zeitschrift Mittelweg 36 sowie des Internetportals Soziopolis.

Alle Artikel

PDF

Zur PDF-Datei dieses Artikels im Social Science Open Access Repository (SSOAR) der GESIS – Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften gelangen Sie hier.

Empfehlungen

Juliane Rebentisch

Zeit im Überfluss

Rezension zu „Bleibefreiheit“ von Eva von Redecker

Artikel lesen

Daniela Russ

Ein Strohmann wird lebendig

Rezension zu „Toward a Critical Theory of Nature. Capital, Ecology, and Dialectics“ von Carl Cassegård

Artikel lesen

Peter Wagner

Über die Zukünftigkeit unserer Gegenwart

Rezension zu „Futurity Report“ von Eric C. H. de Bruyn und Sven Lüttiken (Hg.)

Artikel lesen

Newsletter