Manfred Sapper, Jens Bisky | Interview |

Die Armee einer remilitarisierten Gesellschaft

Manfred Sapper im Gespräch mit Jens Bisky

Seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine bringen Expert:innen immer wieder ihre Überraschung über die politischen Entwicklungen und das Kriegsgeschehen zum Ausdruck. Warum wissen wir anscheinend so wenig über die russische Armee und ihre Stellung in der Gesellschaft?

Der Krieg ist ein Lehrmeister für jede Gesellschaft. Uns in Deutschland belehrt er gegenwärtig unter anderem über die große Diskrepanz zwischen dem Anspruch, in einer globalisierten Welt und in Interdependenz gerade auch mit den Ländern im Osten Europas zu leben, und dem Mangel an analytischem Rüstzeug, auf den Begriff zu bringen, was da geschieht. Es fehlt vielfach an Expertise. Das hat mehrere Gründe. Erstens haben wir nach dem Ende des Ost-West-Konflikts in Deutschland einen Schwund der gegenwartsbezogenen wissenschaftlichen Beschäftigung mit Osteuropa erlebt. Entsprechende Forschungsinstitute wurden geschlossen, Lehrstühle gestrichen oder umgewidmet. Die Vermutung war, ein „Ende der Geschichte“ (Fukuyama) sei erreicht, die Staaten des ehemaligen ,Ostblocks‘ würden jetzt alle zu liberalen Demokratien, in denen Marktwirtschaft herrscht und der Rechtsstaat Meinungsfreiheit und Menschenrechte garantiert. Lehrstühle an deutschen Universitäten, an denen Wissen über die Sowjetunion, internationale Beziehungen und Sicherheitspolitik erarbeitet und vermittelt worden war, wurden eingespart oder anderweitig ausgerichtet. Zweitens ging auch regionalwissenschaftliche Expertise, die an außeruniversitären Forschungseinrichtungen existiert hatte, etwa am Hamburger Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik oder an der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung in Frankfurt, im Laufe der Zeit verloren. Die betreffenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die empirisch geforscht und sich mit der sowjetischen Armee beschäftigt hatten, waren während des Ost-West-Konflikts sozialisiert worden. Inzwischen sind sie alle pensioniert. An deutschen Universitäten gibt es in der Politikwissenschaft nur noch ,Einzelkämpfer‘, die sich substanziell mit zivil-militärischen Beziehungen im Allgemeinen und jenen in Russland im Besonderen beschäftigen. Auch deswegen sehen wir im Fernsehen ehemalige Generäle vom Schlage eines Harald Kujat als Interpreten der militärischen Lage.

Als Ex-General weiß Harald Kujat doch wohl einiges von Truppen, Waffen, Taktik, Strategie und Kriegsführung …

Aber er hat nicht den Hauch einer Ahnung von der Binnenstruktur Russlands oder der Ukraine! Auf der anderen Seite sehen wir Leute, die einen sehr breiten historischen Zugang zum Thema haben, etwa den verdienstvollen Historiker Karl Schlögel, der sehr viel weiß, aber kein Militärexperte ist. Experten wie Sönke Neitzel, der einen der wenigen Lehrstühle für Militärgeschichte hat, sind die Ausnahme. In England und den USA sieht es besser aus, aber die dortigen Debatten werden kaum rezipiert. Wenn in der Bundeswehr oder den NATO-Stäben die russische Armee unter die Lupe genommen wird, geht es vor allem um Technik, Bewaffnung, militärisches Personal, Stationierungsorte, Potenziale. Nur selten und nachgeordnet fragt man nach den zivil-militärischen Beziehungen, dem Verhältnis von Armee und Gesellschaft.

War das nicht immer so?

Ja und nein. Die Sowjetunion war eine geschlossene Gesellschaft, und die Armee ist traditionell ein Hort der Geheimniskrämerei. Aber während des Ost-West-Konflikts entstanden durch die detaillierte Auswertung offener Quellen und durch Zuarbeit der Geheimdienste und der militärischen Aufklärung auch substanzielle Arbeiten zum Verhältnis von Gesellschaft und Militär. 1985 erschien beispielsweise Ellen Jones’ Buch Red Army and Society, aus dem man viel über die Funktionsbedingungen und die gesellschaftlichen Strukturprobleme der sowjetischen Armee erfuhr.[1] Derart qualitätvolle Studien zu den zivil-militärischen Beziehungen in Russland haben wir heute nicht mehr. Die Annahme lautete, dass wir derlei nicht mehr brauchen würden. Aber die wissenschaftliche Beschäftigung mit den Gegenstandsbereichen Armee und Krieg lohnt sich, weil darin Strukturen des politischen Systems, der Entscheidungsprozesse, der Wirtschaft, der gesellschaftlichen Werte oder der Haltung zu Gewalt als sozialer Praxis in Reinform zum Ausdruck kommen. Der Krieg wirkt wie eine große Lupe.

Was verrät uns der Krieg über Politik und Gesellschaft in Russland und der Ukraine?

Zunächst, dass Russlands Führung ein Opfer ihrer eigenen Propaganda geworden ist. Das Narrativ dieser Propaganda lautete: „2014 hat sich eine faschistische Junta in der Ukraine an die Macht geputscht. Russland muss diese Junta stürzen.“ Russlands politische Elite war der festen Überzeugung, dass in dem Moment, in dem Russland diese Junta stürzte, die ukrainische Bevölkerung die russischen Truppen mit Brot und Salz als Befreier begrüßen würde. Die Verantwortlichen für diesen Krieg haben sich schlicht nicht vorstellen können, dass die ukrainische Gesellschaft tatsächlich eine autonome Kraft ist und die Maidan-Bewegung 2013/2014 nicht von den Amerikanern ferngesteuert worden war, sondern dass schon damals ukrainische Bürgerinnen und Bürger für ihre Selbstbestimmung auf die Straße gegangen waren. In der Ukraine hat sich die Gesellschaft über mehrere Etappen emanzipiert: Am Beginn stand die von der nationalen Unabhängigkeitsbewegung errungene Loslösung aus der Umklammerung des Obrigkeitsstaats; ihr folgte der erfolgreiche Widerstand der Orangen Revolution gegen die Bestrebungen zur neuerlichen Errichtung eines autoritären Regimes, der dann schließlich im Euromaidan kulminierte. Das dabei erlangte Bewusstsein von Autonomie und Handlungsfähigkeit wirkt sich heute natürlich auch auf den Verteidigungswillen und die Widerstandsbereitschaft aus.

Ist Putin nicht einfach von den Geheimdiensten falsch informiert worden?

Nein, Lageberichte und Handlungsempfehlungen der Dienste oder der Armee leisten einer Fehlperzeption allenfalls Vorschub, sind aber nicht deren Ursache. Von zentraler Bedeutung sind vielmehr das politische System, die politische Kultur und die herrschenden Weltbilder, die der Entscheidung zum Krieg zugrunde liegen. Der Krieg ist der vorläufige Höhepunkt eines Prozesses, der mit Vladimir Putins Amtsantritt zum Jahreswechsel 1999/2000 begann. Seitdem ist ein beständiges Zurückfallen hinter die wichtigsten Errungenschaften der Perestroika zu beobachten.

Welche Errungenschaften meinen Sie konkret?

Am schwerwiegendsten wiegt die seither betriebene Remilitarisierung Russlands. Während der Phase der von Michail Gorbatschow angestoßenen Perestroika wurde der militarisierte Sozialismus der Sowjetunion hinterfragt. Das erklärte Ziel der damaligen Reformen war es, Russlands Wirtschaft und Gesellschaft von dem Zwang zu befreien, alle Handlungsabläufe nach militärischen Interessen auszurichten. Die Geheimniskrämerei wurde zurückgedrängt, Debatten wurden pluralisiert, Entscheidungsprozesse transparenter gestaltet und Kompetenzen dezentralisiert. „Glasnost“ war das Zauberwort. Unter Putin wurden diese Errungenschaften, die von 1986 bis 1999 in Russland erreicht worden waren, Schritt für Schritt wieder beseitigt.

Womit fing diese Rückabwicklung an?

Mit der Übertragung militärischer Organisationsprinzipien auf die zivile Politik. Erstens machte Putin die zentralisierte Befehlskette als vermeintlich schnelle, effiziente Form des Regierens von oben nach unten zum Modell seiner Herrschaft. Zweitens veränderte er den Charakter der Russländischen Föderation. Per Dekret schuf Putin sieben Präsidialbezirke und stülpte sie der bestehenden Föderation über. Als Vorbild dienten ihm dabei die sowjetischen Militärbezirke. An die Spitze der neu errichteten Präsidialbezirke setzte er Uniformierte: fünf von sieben waren Generäle aus der Armee und dem Geheimdienst. Deren Aufgabe war es, die Föderalen Subjekte – also die nationalen Republiken wie Tatarstan, Baschkortostan oder Burjatien – sowie die Gebiete und Regionen zu überwachen und jegliche Autonomiebestrebungen einzuhegen und zurückdrängen. Putin sicherte sich auf diese Weise die Unterstützung der Armee und der Geheimdienste, ohne dafür auch nur einen einzigen Rubel ausgeben zu müssen. Das Ganze lief unter dem Motto: „Wir müssen die ,Vertikale der Macht‘ stärken, um den Staat zu retten.“ Widerstand gegen diese Form der Rezentralisierung regte sich kaum, denn die Polittechnologen und PR-Berater des Kreml verkauften sie als Beitrag zur Wiederherstellung von Sicherheit und Ordnung. Danach sehnte sich die Mehrheit der Bevölkerung, die nach der Auflösung der Sowjetunion mit „Demokratie“ vor allem kriminelle Privatisierung, Hyperinflation, Verarmung und existenzielle Unsicherheit in Verbindung brachte. Zudem war die Bevölkerung kurz zuvor massiv verunsichert worden durch nächtliche Bombenattentate auf Wohnhäuser in Moskau und anderen Städten Russlands, die Tschetschenen in die Schuhe geschoben wurden, auch wenn es Spuren gab, die auf eine Verantwortung der Geheimdienste hindeuteten. Entsprechende Verdachtsmomente konnten nie vollständig ausgeräumt werden.

Welche Rolle spielte in diesem Zusammenhang der zweite Tschetschenienkrieg, der vom August 1999 bis zum April 2009 dauerte?

Eine große! Putins Aufstieg zum starken Mann Russlands ist ohne diesen Krieg nicht zu verstehen. Die Übertragung militärischer Organisations- und Machtprinzipien auf die zivile Politik und der lange Krieg gegen Tschetschenien sind die zwei entscheidenden Wegzeichen für die Remilitarisierung Russlands. Die Brutalität der Soldateska, ihr Vernichtungswille und die Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung, all das, was heute Teil der russischen Kriegsführung in der Ukraine ist, ließ sich bereits in Tschetschenien beobachten. Der Vorläufer von Butscha war das Massaker von Alchan-Jurt, und dem Urbizid von Mariupol ging der von Grosny voraus. Wer wissen wollte, was in Tschetschenien passiert, konnte es wissen. Aber als der für all das Verantwortliche, Präsident Putin, am 25. September 2001 im Deutschen Bundestag über Demokratie und gemeinsame Sicherheit in Europa sprach, bekam er stehende Ovationen – nicht zuletzt, weil er seine Rede in der Sprache Goethes und Schillers vorgetragen hatte.

Die Tschetschenen galten seinerzeit als Terroristen, das rechtfertigte fast alles …

Ja, nach dem 11. September 2001 herrschte darüber vorübergehend ein breiter Konsens. Russische Menschenrechtsorganisationen wie Memorial äußerten dennoch weiterhin harte Kritik, konnten damit aber nicht durchdringen. Der zweite Tschetschenienkrieg wirkte als Katalysator der Remilitarisierung des Landes. Fernsehsender, die kritisch über den Krieg berichteten, gerieten ins Visier des Putin-Regimes. Die Besitzer wurden gezwungen, ihre Sender zu verkaufen, und dann wurden sie aus dem Land getrieben. Das Putin-System gewann die Hoheit über das Fernsehen, das bis heute die wichtigste Informationsquelle in Russland ist. Damit begann die systematische Kontrolle der öffentlichen Meinung. In dieser Phase grenzte sich das Putin-System wieder stärker vom Westen ab, die Staatspropaganda zeichnete das Bild von Russland als belagerter Festung. Im Zuge dieser Militarisierung des Bewusstseins wurde fortan nicht nur die Außen- und Sicherheitspolitik in Freund-Feind-Kategorien eingeordnet, sondern auch alle innenpolitischen Entwicklungen. In dieser Phase begann das Putin-Regime, jede Form des öffentlichen Dissenses oder des Protestes als feindliche Handlung zu interpretieren. Im Rückblick ist es frappierend zu sehen, wie systematisch das Putin-System alle checks & balances, die so etwas wie Gewaltenteilung und pluralistische Meinungsbildung garantiert hatten, nacheinander zerschlug und eine autoritäre politische Ordnung durchsetzte. Repräsentiert wurde diese Ordnung wie zuvor in der Sowjetunion: nach innen von den Geheimdiensten, nach außen von der Armee als gewissermaßen sakraler Institution.

Das müssen Sie bitte erläutern. Inwiefern ist Russlands Armee eine sakrale Institution?

Der Sieg über den Nationalsozialismus im Zweiten Weltkrieg, also im Großen Vaterländischen Krieg von 1941–1945, ist bis heute das wichtigste Identifikationssymbol in Russland. Er ist die einzige positive Stütze für das nationale Selbstbewusstsein. Der russische Soziologe Lew Gudkow brachte diesen Sachverhalt einmal so auf den Punkt: „Der Sieg ragt heute wie eine nach der Verwitterung eines Felsens zurückgebliebene Säule in der Wüste hervor.“ Dass die Russen in Zeiten des Krieges und des Ausnahmezustands ihren „Nationalcharakter“ offenbarten, ist zur Norm der symbolischen Identität geworden. Seit der Breschnew-Periode wird die Erinnerung an diesen Sieg nicht nur am Tag des Sieges am 9. Mai inszeniert, sondern über das ganze Jahr hinweg institutionalisiert, heroisiert, kanonisiert und sakralisiert! Und wer hat den Sieg errungen? Die Armee!

Aber ist die Sowjetunion nicht längst Geschichte?

Ja, aber es wäre ein Fehler, sie als ein abgeschlossenes Kapitel der Vergangenheit zu betrachten, wie es manche Politikwissenschaftler oder Transformationsforscher tun, die von einer Zäsur ausgehen. Richtig ist, dass die Sowjetunion am 31. Dezember 1991 ihre völkerrechtliche Existenz beendet hat. Doch die damit bei vielen verbundene Vorstellung von einer „Stunde Null“ ist ein Mythos. Weder in der Wirtschaft noch in der Politik und schon gar nicht in den Köpfen der Menschen hat es einen solchen Neuanfang gegeben. Fragt man, warum die Demokratisierung in Russland gescheitert ist und wie unter Putin zuerst ein autoritäres Regime und nun eine Militärdiktatur errichtet werden konnten, dann gibt es eine ganz einfache Erklärung: Die Kontinuität war stärker als der Wandel! Nur die Kommunistische Partei und die Planwirtschaft sind seinerzeit verschwunden. Aber das Rückgrat des sowjetischen Staates und seiner Gewalt- und Terrorherrschaft, die Geheimdienste und die Armee, haben das Ende der Sowjetunion weitgehend unreformiert überdauert. Putin nutzt den Mythos vom Sieg im Großen Vaterländischen Krieg, dessen Strahlkraft das ganze Elend aller späteren Militäroperationen überdeckt, zur Legitimation seiner Herrschaft. Außerdem rekrutiert er einen erheblichen Teil seines Führungspersonals aus den Geheimdiensten. Wirtschaftsliberale Kräfte im Zentrum der Macht wie etwa der Ex-Finanzminister Alexei Kudrin verloren zunehmend an Einfluss oder wurden abgelöst, ein international renommierter Ökonom wie Sergei Guriev, der als Berater und Redenschreiber gewirkt hatte, wurde in die Emigration getrieben. An den Schlüsselstellen der Macht sitzen heute „Tschekisten“ oder Angehörige anderer Gewaltorganisationen. Dazu zählen etwa die Grenztruppen, bewaffnete Truppen der Geheimdienste oder die 2016 neu gegründete Nationalgarde.

Unterscheidet sich das Selbstverständnis dieser bewaffneten Truppen von dem der Armee? Was sind das für Leute?

Es sind verschiedene Gewaltapparate, die unterschiedliche Eigeninteressen verfolgen, um Ressourcen konkurrieren und sich gegenseitig kontrollieren. Aber im Kern haben die Angehörigen dieser Apparate dieselbe Sozialisation hinter sich und teilen ein autoritäres, militarisiertes, antiliberales und antidemokratisches Weltbild.

Es gibt also, wenn ich Sie richtig verstehe, eine Kontinuität zur Sowjetunion und der Bezug auf die sowjetische Geschichte dient nach wie vor als Legitimationsressource. Insofern können die Berichte nicht überraschen, dass jetzt in besetzen ukrainischen Städten und Dörfern von russischen Soldaten Sowjetfahnen aufgehängt werden.

Das würde ich nicht überbewerten. Es gibt keine kohärente Ideologie mehr, wie sie im Marxismus-Leninismus existiert hatte. Das ist vorbei. Zum einen ist für Putin & Co. die Idee der Großmacht, der „Derschawa“, des Imperiums von zentraler Bedeutung. Putin ist ein grobschlächtiger Imperialist, ein Vertreter des russländischen Großmachtanspruchs, aber er ist kein Kommunist. Wenn Sie Putins im Sommer 2021 veröffentlichten Text über die historische Einheit von Russen und Ukrainern lesen[2] oder seine Reden vom 21. und 24. Februar 2022,[3] dann stellen Sie fest, dass er sich explizit von Lenin abgrenzt. Er wirft Lenin und der bolschewistischen Nationalitätenpolitik vor, die Ukraine künstlich geschaffen zu haben. Zum anderen gehört Russlands politische Führung einer Generationskohorte an und teilt dieselben Prägungen: Putin, Lawrow und all die anderen, die heute an den Schalthebeln der Macht sitzen, sind zwischen Ende der 1940er- und Mitte der 1950er-Jahre geboren worden. Sie wurden auf dem Höhepunkt der sowjetischen Machtentfaltung, also Ende der 1960er- bis Mitte der 1970er-Jahre, politisch sozialisiert. Die Zeit war geprägt von der globalen militärstrategischen Parität zwischen den USA und der Sowjetunion, von der wechselseitigen Anerkennung der mutual assured destruction. Damit gingen der Anspruch und die Fähigkeit einher, die eigene Hegemonie in Stellvertreterkriegen durchzusetzen. Der damalige Eindruck, dass der Ost-West-Konflikt mit seinen Stellvertreterkriegen ein Nullsummenspiel war, prägt bis heute nicht nur das militärpolitische Denken Putins, sondern auch der militärischen Elite und der Geheimdienste. Da hieß es: Wir verlieren zwar Somalia, aber gewinnen Äthiopien. Oder: Wir verlieren Israel, sind dafür aber in Syrien. Das ist der Kern der außen- und sicherheitspolitischen Weltwahrnehmung. Daher verstehen diese Leute gesellschaftliche Bewegungen wie die im Winter 2011 in Russland abgehaltenen Massendemonstrationen gegen die massiven Wahlfälschungen bei der Präsidentschaftswahl nicht als Form gesellschaftlicher Opposition. Für sie sind sie Ausdruck feindlicher geheimdienstlicher Tätigkeit – eben weil sie es in den 1970er-Jahren so gelernt haben und sie selbst im Ausland mit solchen Methoden operiert haben. So gesehen bedeutete dann der Euromaidan in der Ukraine 2013/2014 eine sicherheitspolitische Bedrohung für Russland, auf die das Putin-Regime meinte, mit der Annexion der Krim reagieren zu müssen – ohne auch nur ansatzweise die damit verbundenen außenpolitischen Folgen zu bedenken.

Hat Russlands Führung nach 1991 so wenig gelernt?

Was als soziales Lernen während der Perestroika von brillanten Köpfen der Kommunistischen Partei – wie etwa Alexander Jakowlew – initiiert wurde, ist wieder verlernt worden. Unter Gorbatschow wurde eine Kosten-Nutzen-Analyse angestellt und gefragt, was die außen- und rüstungspolitische Konfrontation mit dem Westen die Sowjetunion an wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungschancen im Inneren gekostet hat. Man fragte: Was hat uns der Krieg seit 1979 in Afghanistan gebracht, was hat der Einsatz der Armee zur Niederschlagung von Demonstrationen in Baku oder in Tiflis gekostet, wo friedliche Demonstranten mit Klappspaten erschlagen wurden? Diese rationalen Überlegungen aus der Perestroika, die darauf abzielten, dass sich die Sowjetunion aus der außen- und militärpolitischen Überdehnung zurückziehen müsse, um Kapital für die Modernisierung der strukturell nicht wettbewerbsfähigen Wirtschaft freizusetzen und sich Entwicklungsperspektiven im Inneren zu eröffnen, wurden in der Putin-Periode als selbstzerstörerisch verunglimpft und zurückgewiesen.

Ist auch der von 1979 bis 1989 dauernde Afghanistankrieg vergessen? Der längste Krieg, den die Sowjetunion geführt hat, und das Debakel, in dem er endete?

Der Afghanistankrieg hat den Untergang der Sowjetunion entscheidend befördert, das war einer der Sargnägel für den militarisierten Sozialismus. Am Afghanistankrieg wurden die Dysfunktionalität des politischen Systems, die Hohlheit der Ideologie, die Versorgungsmängel der Wirtschaft besonders deutlich. Eine Handvoll Leute – nicht einmal das Politbüro – hatte die Truppenentsendung beschlossen, zudem die außenpolitischen Folgen völlig falsch kalkuliert. In der Perestroika war es dann ausgerechnet die Armeeführung, die forderte, dass man sich ehrlich machen müsse. Es könne nicht sein, hieß es, dass wir junge Soldaten nach Afghanistan schicken, damit sie dort ihre angebliche „internationalistische Pflicht“ erfüllen, aber den Hinterbliebenen verboten wird, ihre gefallenen Soldaten öffentlich zu beerdigen. Jene, die buchstäblich ihren Kopf für die Politik der sowjetischen Führung hinhalten mussten, verlangten Wertschätzung. Auf dem Höhepunkt der Perestroika wurde der Krieg – maßgeblich auf Betreiben des ehemaligen Dissidenten und Friedensnobelpreisträgers Andrei Sacharow – vom Volksdeputiertenkongress der Sowjetunion sogar als Verbrechen verurteilt.

Diese Verurteilung hatte allerdings keine nachhaltige Wirkung. Das zeigte sich fünf Jahre später, vor dem ersten Tschetschenienkrieg, bei dem es zu einer Wiederholung des Afghanistandebakels kam. Wieder hatte eine kleine Gruppe von Leuten die Entscheidung zum Truppeneinsatz getroffen. Verteidigungsminister Pawel Gratschow machte 1994 die gleichen Fehler wie Dmitri Ustinow 1979: beide schätzten die Lage vor Ort falsch ein und überschätzten die militärische Stärke der eigenen Truppen. Gratschow ging davon aus, dass der „Tschetschenien-Einsatz“ zur Unterbindung des tschetschenischen Separatismus binnen 24 Stunden erledigt wäre. Daraus wurden zehn Jahre! Und wieder hatte man keinen Gedanken an die sozialen und menschlichen Kosten für die russländische Gesellschaft und die außenpolitischen Konsequenzen verschwendet.

Und heute?

Heute wiederholt sich das wieder. Wir haben kein gesichertes Wissen darüber, wer außer Putin an der Entscheidung, einen Krieg gegen die Ukraine zu führen, beteiligt war. Es spricht allerdings einiges dafür, dass nur zwei, drei weitere Personen, vermutlich Verteidigungsminister Sergei Shoigu, Generalstabschef Waleri Gerassimow sowie der Sekretär des Sicherheitsrats, der aus dem FSB stammende Nikolai Patruschew, in den Entscheidungsprozess involviert waren. Aber dieser eigentümlichen Show nach zu urteilen, die ein paar Tage vor dem Kriegsbeginn im Fernsehen als öffentliche Sitzung des Sicherheitsrats inszeniert wurde, waren nicht einmal alle Mitglieder dieses vermeintlich höchsten Entscheidungsgremiums des Putinschen Russlands vollständig in den Gang der Ereignisse eingeweiht. Inhaltliche Diskussionen in der Duma oder im Föderationsrat gab es nicht. Diese sind in den zurückliegenden Jahren ohnehin zu Unterabteilungen der Präsidialverwaltung degradiert worden. Das alles gleicht einem Rückfall in die Vor-Perestroika-Periode. Mit der Remilitarisierung des Landes, der Heroisierung des Krieges und der Reinterpretation der russischen und sowjetischen Geschichte als einer imperialen Erfolgsgeschichte ist auch eine Neuinterpretation des Afghanistankrieges verbunden. Er wird als ein Kapitel des epochenübergreifenden Heldenepos der sowjetischen beziehungsweise russischen Militärgroßmacht stilisiert.

Wie wird die russische Armee in der Gesellschaft wahrgenommen?

Das ist total widersprüchlich. Einerseits funktioniert die propagandistische Sakralisierung des Sieges im Krieg. In der öffentlichen Meinung erfreut sich die Armee seit Jahren größter Wertschätzung. Das zeigen die repräsentativen Untersuchungen des Lewada-Zentrums, des letzten unabhängigen Meinungsforschungsinstituts in Russland. Bei den Antworten auf die Frage, welchen Institutionen die Bürgerinnen und Bürger besonders vertrauen, liegt die Armee immer an der Spitze.[4] Andererseits haftet der Armee auch der Ruf an, eine „Schule der Grausamkeit“ zu sein. Fälle von exzessiver Kadettenschinderei werfen weite Schatten, so dass im Fall einer drohenden Einberufung viele Wehrpflichtige und ihre Eltern alles daransetzen, den Armeedienst zu umgehen.

Gutes Stichwort. Wie steht es um die Gesellschaft in der Armee? Was wissen wir über die einfachen Soldaten und das Offizierskorps?

Die Sozialstruktur der Armee repräsentiert nicht die der Gesellschaft. Die Armee hat eine soziale Schlagseite: Seit langer Zeit ist sie ein Ort für die „Verlierer“, die „Abgehängten“. Die Mannschaften rekrutieren sich aus den sozial marginalen Schichten Russlands und aus den peripheren Räumen des Landes. Die Wirtschaftsgeografin Natalja Subarewitsch unterscheidet das moderne Russland, das antimoderne Russland und das prämoderne Russland. Für das moderne Russland stehen Moskau, Petersburg und das andere Dutzend der Millionenstädte. Das antimoderne Russland umfasst die Regionen der sowjetischen Industrialisierung. Dabei handelt es sich in erster Linie um die Monostädte, die in den späten 1920er- und 1930-er Jahren rund um die großen Werke entstanden. Diese Städte leben häufig von international nicht wettbewerbsfähigen Industrien und sind auf staatliche Subventionen angewiesen. Dort leben viele Marginalisierte, schlecht Ausgebildete. Das prämoderne ist das ländliche Russland, geprägt von Dörfern im Niedergang, Mütterchen, die in Subsistenzwirtschaft leben. Die Armee rekrutiert ihre Mannschaften primär aus dem antimodernen und dem prämodernen Russland. Auch Männern aus nationalen Republiken wie Burjatien oder Dagestan bietet die Armee die Chance, der Perspektivlosigkeit des Daseins zu entfliehen. Angehörige russländischer ethnischer Minderheiten sind überproportional in der Armee vertreten. Aus diesen Schichten rekrutieren übrigens auch die Bereitschaftspolizei und andere bewaffnete Organe ihre Truppen. Sie lassen sich besonders gut zur Niederschlagung von Protesten einsetzen, weil viele ihrer Angehörigen Ressentiments gegen die Großstädter hegen.

Und die Offiziere?

Die Offizierskarriere verheißt bessere Bildungs- und Aufstiegschancen, das soziale Prestige einer Offizierslaufbahn ist gut. Der Anteil nichtrussischer Ethnien unter den Offizieren ist jedoch deutlich niedriger als in den Mannschaften. Die Tatsache, dass mit Verteidigungsminister Sergei Shoigu ein ethnischer Tuwine an der Spitze der Armee steht, sollte also nicht den Blick darauf verstellen, dass im Offizierskorps und insbesondere in der Generalität ethnische Russen dominieren.

Vor kurzem schrieb der Oligarch Oleg Tinkow, die russische Armee sei wie die russische Gesellschaft verkommen durch Vetternwirtschaft, Speichelleckerei und Unterwürfigkeit.[5] Teilen Sie diese Einschätzung?

Natürlich gibt es in Russland keine „Staatsbürger in Uniform“. Gegen eine zivile Kontrolle des Militärs hat sich die Armeeführung seit Jahrzehnten erfolgreich gewehrt. Als ihr 2007 mit Anatoli Serdjukow einmal ein Zivilist als Verteidigungsminister vor die Nase gesetzt wurde, der mit Vetternwirtschaft und Korruption in der Generalität aufräumen wollte, gab es heftige Konflikte. Und was passierte? 2012 musste Serdjukow gehen!

Unter Putin ist die Armee materiell besser ausgestattet worden, Offiziere und Soldaten erhalten mehr Sold. In den vergangenen Jahrzehnten ist der Personalbestand erheblich reduziert worden – von drei Millionen Mann auf 900 000 Mann heute. Nach wie vor gibt es eine Wehrpflicht, aber wer sie umgehen will, findet Wege, dies zu tun, auf legalem Wege durch die Rückstellung wegen pflegebedürftiger Eltern, eines Studiums oder Drogenabhängigkeit, oder auf illegalem Wege durch Bestechung.

Tinkows hartes Urteil fiel im Zusammenhang mit der Frage, warum Russlands Armee im Ukrainekrieg so hohe Verluste zu beklagen hat. In der Tat: Unter internationalen Beobachtern, Militärs, Kriegsforschungszentren und Diplomaten herrscht Konsens, dass die russische Armee in den ersten acht Wochen des Krieges mehr Tote zu beklagen hatte, als die sowjetische Armee im gesamten Afghanistankrieg. Dort waren am Ende 14 000 Mann ums Leben gekommen. Heute spricht die ukrainische Seite davon, dass Russlands Armee bis zum 27. April 2022 bereits 22 400 tote Soldaten zu beklagen hatte.

Da fällt mir sofort das Buch Zinkjungen von Swetlana Alexijewitsch ein, das von den Reaktionen auf Verstümmelte, Traumatisierte, Tote während des Afghanistankrieges erzählt. Wie reagiert die russische Gesellschaft heute auf die Verluste?

Im September 2021 veröffentlichte der Geheimdienst FSB einen Erlass, mit dem es Organisationen von nun an verboten war, Material über Verbrechen und Rechtsverstöße in der Armee zu sammeln und zu veröffentlichen. Dieser Erlass richtete sich natürlich in erster Linie gegen die verdienstvollen Soldatenmütter. Neben der Menschenrechtsorganisation Memorial waren die Soldatenmütter die wichtigste NGO in Russland. Die ersten Gruppen hatten sich in der späten Perestroika gebildet. Anlass waren die traumatischen Erfahrungen mit der vorhin bereits kurz angesprochenen Dedowschtschina, der brutalen Schikane der Rekruten durch Dienstältere und die Traumatisierung durch den Afghanistankrieg.

Nun sollen derartige Vorfälle wieder tabuisiert und verschwiegen werden. Wer im heutigen Russland den Krieg einen Krieg nennt, Machtmissbrauch durch Offiziere beklagt oder über Gewaltexzesse wie das Massaker in Butscha berichtet, dem droht eine Anzeige wegen Hochverrats; und bei einer Verurteilung bis zu 15 Jahre Lagerhaft.

Doch selbst diese massive Abschreckung funktioniert nicht vollständig. Wer an einem Zinksarg mit den sterblichen Überresten seines Sohnes steht, hat nicht nur das Liebste und Wichtigste seines Lebens verloren, sondern auch seine Angst. In den letzten Tagen und Wochen sind auf Vkontakte, dem russischen Pendant zu Facebook, mehrere Posts erschienen, in denen Väter und Mütter ihre ganze Verzweiflung und Wut hinausschreien und fragen, wer für dieses Verbrechen die Verantwortung trägt. Sie durchschauen die Propagandalüge, der zufolge Russland sich nicht in einem Krieg befinde, sondern nur eine „militärische Spezialoperation“ durchführe. Auch wenn die örtlichen Militärchefs das zu unterdrücken versuchen, berichten Lokalmedien wie Ljudi Bajkala, dass seit Kriegsbeginn alleine in der burjatischen Hauptstadt Ulan-Ude über 110 Beerdigungen von gefallenen Soldaten stattgefunden hätten. Ähnliches hören wir aus anderen Teilen Russlands. Solche Berichte verfehlen ihre Wirkung nicht. Es mag hart und zynisch klingen, aber jeder tote Soldat, der in einem Zinksarg zurückkehrt, erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass die russische Gesellschaft aufwacht.

Wer genau soll aufwachen?

Alle. Die ersten Träger der Aufklärung in der Sowjetunion waren um 1989 die Betroffenen: die Veteranen des Afghanistankrieges, die als Versehrte, Traumatisierte, als kaputte Existenzen aus dem Krieg zurückkehrten und merkten, dass die Gesellschaft ihnen mit Abwehr und Hass begegnete. Der Gruppe der zurückgekehrten Überlebenden wird auch diesmal wieder eine wichtige Rolle zukommen. Die zweite Gruppe bilden deren Angehörige. Die dritte Gruppe sind Repräsentanten der Interessengruppen, die Einbußen durch die westlichen Sanktionen erleiden. Und es ist auch nicht ausgeschlossen, dass es unter den Vertretern der Armee und anderer Gewaltapparate wie der Nationalgarde, die ebenfalls in der Ukraine im Einsatz sind, zu Konflikten darüber kommt, wer die Verantwortung für den enorm hohen Blutzoll und die Selbstisolation des Landes trägt. Momentan haben wir keine Informationen über derartige Konflikte an der Machtspitze, aber aus der Vergangenheit wissen wir, dass es immer wieder institutionelle Spannungen zwischen diesen Apparaten gibt. Noch scheint die Kohäsion der Machtelite groß genug zu sein. Und noch gelingt es dem Regime auch, durch Propaganda und manipulierte Bilder die eigene Verantwortung für diesen verbrecherischen Angriffskrieg zu verschleiern. Doch die Macht der Lüge ist begrenzt. Auf Dauer lässt sie sich nicht durchhalten. Dieser Krieg wird der Anfang vom Ende von Putins Herrschaft sein. Wie lange sich dieser Prozess hinziehen wird, wissen wir nicht.

Lassen sie uns noch einmal auf die Ukraine zurückkommen, deren Menschen die Hauptopfer dieses Krieges sind. Auch in der Ukraine gibt es moderne Zentren, ehemalige sowjetische Industriestädte sowie einen ländlichen Raum. Dennoch hat sich das Land anders entwickelt als Russland. Warum?

Viele in Deutschland haben die Ukraine unterschätzt, weil sie durch die russische Linse auf das Land geblickt und die kulturelle Autonomie und politische Unabhängigkeit der Ukraine unterschätzt haben. Die Ukraine ist ein Europa im Kleinen: multikonfessionell, multilingual, multiethnisch. Schon im 19. Jahrhundert gab es Ansätze einer ukrainischen Nationalbewegung, nach dem Ersten Weltkrieg den kurzen Sommer eines unabhängigen ukrainischen Nationalstaats. All das wurde hierzulande nur von sehr wenigen wahrgenommen. Das gilt auch für den bewaffneten Widerstand gegen die Sowjetunion. Die Ukrainische Aufständische Armee, die UPA, kämpfte von 1944 bis 1949 gegen die sowjetische Herrschaft. Die gesamte Bevölkerung der Westukraine wurde in Sippenhaft genommen, Hunderttausende wurden deportiert und in Lager gesteckt, Zehntausende umgebracht. Diese schrecklichen Geschehnisse haben die meisten Deutschen – so sie überhaupt davon wussten – intellektuell entsorgt, indem sie dem Narrativ folgten, die Mitglieder der UPA seien verkappte Nazis gewesen. Das ist für die Gesamtheit so jedoch nicht zutreffend. Tatsächlich handelt es sich um eine grobschlächtige Gleichsetzung, die nicht der Realität entsprach. In der Ukraine spielte die UPA eine wichtige Rolle für die Herausbildung einer nationalen Identität. In den 1960er-Jahren kritisierte Iwan Dsjuba, einer der bedeutendsten ukrainischen Intellektuellen, aus einer linken Tradition heraus die sowjetische Nationalitätenpolitik, wobei er sich auf keinen Geringeren als Lenin berief. Er kam dafür ins Gefängnis. Dsjuba war einer der ersten, der den Brückenschlag zwischen der nationalukrainischen Dissidentenbewegung zur jüdischen Intelligenz in Kiew und Odessa versuchte. In der Folgezeit formulierten die Ukrainerinnen und Ukrainer immer wieder ihre Eigenständigkeit, grenzten ihre nationale Identität gegen Moskauer Hegemonialansprüche ab. Erinnern wir uns: Beim Referendum 1991 stimmten mehr als 92 Prozent der ukrainischen Bürgerinnen und Bürger für die nationale Unabhängigkeit des Landes. Der Pluralismus in der Ukraine wurde bei uns oft als chaotisch wahrgenommen. Es ist ein Pluralismus unterschiedlicher Regionen, rivalisierender Oligarchen und konkurrierender Netzwerke, aber es ist ein politischer Pluralismus.

Anders als in Russland ist es in der Ukraine nach 1991 nicht zu einem Wiedererstarken der Zentralmacht gekommen …

Nein. Trotz der gemeinsamen sowjetischen Vergangenheit und der christlichen Orthodoxie ist die politische Kultur in der Ukraine eine andere als in Russland. Hier hat sich eine zivile Gesellschaft herausgebildet, die über ein hohes Maß an Selbstorganisation und Selbstverantwortung verfügt und demokratische Grundprinzipien verteidigt. Dazu gehört zum Beispiel die Regel „Präsidentschaftskandidaten dürfen nicht vergiftet werden“. Als genau dies im September 2004 geschah und der damalige oppositionelle Kandidat Wiktor Juschtschenko mit Dioxin ausgeschaltet wurde, gingen Hunderttausende ukrainische Bürgerinnen und Bürger auf die Straße, um gegen diesen Akt der Gewalt und der äußeren Einmischung zu demonstrieren und eine Wiederholung der Wahlen durchzusetzen. Das war eine autonome Entscheidung, die sogenannte Orange Revolution wurde zu einem Erweckungserlebnis. Der Massenprotest speiste sich aus den Traditionen des ukrainischen Widerstandsgeistes und des Selbstbehauptungswillens der Nationalbewegung, die hinter dem Attentat den langen Arm Moskaus vermutete. Die Ukrainerinnen und Ukrainer haben über Jahrzehnte ihr Recht auf Selbstbestimmung verteidigt und dabei immer auch die mangelnde Fähigkeit des ,großen Bruders‘ in Moskau kritisiert, die nationale Eigenständigkeit der Ukraine zu akzeptieren. Manches in der Werchowna Rada, dem ukrainischen Parlament, mag in den zurückliegenden Jahren chaotisch gewirkt haben; aber im Vergleich zur Duma in Moskau stellt man fest: sie funktioniert, sie arbeitet. Und die Ukraine erfüllt die Minimalbedingung einer jeden Demokratie: „Das Staatsoberhaupt und die Regierung können abgewählt werden.“ Versuchen Sie das mal in Russland!

  1. Ellen Jones, Red Army and Society. A Sociology of the Soviet Military, London 1985.
  2. Vladimir Putin, Über die historische Einheit der Russen und der Ukrainer, in: Osteuropa 71 (2021), 7, S. 51–66.
  3. Die Reden sind dokumentiert auf der Website von Osteuropa: Vladimir Putin, Rede an die Nation vom 21.2.2022 sowie Kriegserklärung. Die Ansprache des russländischen Präsidenten am Morgen des 24.2.2022.
  4. Siehe hierzu etwa die Erhebungen des Lewada-Zentrums vom Oktober 2021 unter https://www.levada.ru/2021/10/06/doverie-obshhestvennym-institutam/print/ sowie unter https://www.levada.ru/cp/wp-content/uploads/2022/03/Lev_Gudkov_Book_Print-1.pdf, hier S. 216, Grafik 22.
  5. Vgl. Oleg Tinkow, Russischer Oligarch beschimpft Putins Armee, in: Zeit-Online vom 20.4.2022.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Martin Bauer, Karsten Malowitz.

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Porträt Manfred Sapper

Manfred Sapper

Der Politikwissenschaftler Manfred Sapper wurde mit einer Arbeit über „Die Auswirkungen des Afghanistan-Krieges auf die Sowjetgesellschaft“ promoviert. Seit 2002 leitet er die Zeitschrift „Osteuropa“.

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Jens Bisky

Dr. Jens Bisky ist Germanist und arbeitet am Hamburger Institut für Sozialforschung als Redakteur der Zeitschrift Mittelweg 36 sowie des Internetportals Soziopolis. (Foto: Bernhardt Link /Farbtonwerk)

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