Stephan Fichtner, Frank Meyhöfer | Veranstaltungsbericht | 22.11.2023
Die Dauer im Wandel
Bericht von der Jahrestagung des Arbeitskreises Historische Soziologie der DGS-Sektion Kultursoziologie am 5. und 6. Oktober 2023 in Berlin
Ein Diskussionszusammenhang beginnt mit seiner Ankündigung. Die auf dem Veranstaltungsflyer zur ersten Jahrestagung des Arbeitskreises Historische Soziologie „Kontinuität und Permanenz: Phänomene sozialer Dauer in Zeiten proklamierten Wandels“ abgebildete Karte des Mississippi River deutete bereits einige der roten Fäden an, die sich durch die beiden Veranstaltungstage ziehen sollten, und die DANIELA RUSS (Leipzig) in ihrem Einführungsvortrag explizierte: Die 1944 vom Kartographen und Geologen Harold N. Fisk angefertigte Karte bilde den Zustand des Flusses zu unterschiedlichen Zeitpunkten ab, versuche also, den kontinuierlichen Wandel des Flussbetts über die Jahrhunderte darzustellen. So wurde die unterschiedliche Bedeutung von Kontinuität und Permanenz deutlich: An der Kartierung des Flusses ließ sich plastisch nachvollziehen, wie Zeitschichten nicht nur auseinandergezogen und ihre Sedimente abgetragen, sondern auch nebeneinandergelegt werden, um die vom Wandel verdeckte Kontinuität an die Oberfläche zu bringen. Fisks Annahme, dass die Arme des Flusses sich irgendwann auf einen verstetigten, idealen Verlauf einpendeln würden, sei hingegen eine Unterstellung von Permanenz.
Vor diesem Hintergrund leuchteten die Fragen, die Russ aus dem Verhältnis von Kontinuität und Permanenz für die Forschungspraxis von historischen Soziolog:innen ableitete, unmittelbar ein: Wie lässt sich die Beharrungskraft des Sozialen theoretisieren und wie lassen sich die, trotz Wandels vorhandenen, Kontinuitäten begrifflich fassen? Wie lässt sich dies methodisch erforschen und an welcher Empirie wird soziale Dauer sichtbar? Wie lassen sich Kontinuität und Permanenz darstellen und welche Art von Narrativen eignet sich (nicht), um ein Bild historischer Prozesse zu zeichnen, in dem diachron aneinander anschließende Kontinuitäten ebenso ihren Platz haben wie sich synchron überlagernde Diskontinuitäten?
Theoretische Sondierungsbewegungen
Diesen Fragen ging SIMEON J. NEWMAN (Heidelberg) nach, indem er sondierte, welche Temporalitäten historischen Soziolog:innen beim Erforschen von Strukturwandel und sozialer Dauer begegnen. Wenn es der historischen Soziologie nicht nur um die Beschreibung, sondern auch um die Erklärung von Wandel gehe, müsse man, so Newman, in Erwägung ziehen, den reflexhaften Teleologie-Verdacht gegenüber bestimmten begrifflichen Instrumenten zurückzustellen und endogenen Wandel als Denkmöglichkeit zu rehabilitieren. Mit seiner Typology of narrative forms brachte er Ordnung ins Dickicht historisch-soziologischer Erzählstrategien: Beobachtbarer Wandel ließe sich auf der Strukturebene auf Ereignisse und Prozesse endogenen Wandels zurückführen, auf der Handlungsebene müsse gefragt werden, ob die beteiligten Akteur:innen sich ihres Mitwirkens am Wandel bewusst gewesen seien oder nicht. Entgegen der Eindeutigkeit einer solchen Typologie sei in der Empirie jedoch mit zeitlichen Überlappungen zu rechnen. Um diesen gerecht zu werden reiche es nicht, sich lediglich auf einen Zugang zur Geschichtlichkeit sozialer Wirklichkeit zu kaprizieren. Wenn die durch sich kreuzende Temporalitäten aufgerichteten Erkenntnishürden am höchsten seien, lohne sich deren Überwindung am meisten.
ANDREAS FOLKERS‘ (Gießen) Vortrag folgte der Aufforderung ‚Staying with the rubble!’ und eruierte, welche Beschreibungs- und Kritikkapazitäten eine Theorie residualer Reifizierung für die historische Soziologie der fossilen Moderne bereithalte. Die Gesellschaft, deren Entwicklung auf Kohlenwasserstoffen aufbaue, erzeuge ein Zeitverhältnis, in dem die in der Zukunft liegenden Konsequenzen menschlichen Handelns mit den in der Vergangenheit eingelagerten Realisierungspotenzialen konfrontiert würden. Um durch diese Gemengelage aus materieller Fest- und Freisetzung zu navigieren, führte Folkers im Anschluss an das Verdinglichungsdenken von Jean-Paul Sartre und Maurice Merlau-Ponty die Theoriefigur des Residuums ein: Intendierte wie unvorhergesehene, mitigierte wie unkontrollierbare Nebenfolgen und -kosten des Klimawandels entfalteten sich gegenwärtig nicht in einer einfach stofflich-verdinglichten Weise, sondern in „freischwebender Disruption”, die sich dadurch auszeichne, dass ihre Wurzeln in der Vergangenheit lägen und ihre Folgen sich in der Zukunft realisierten. Eine kritische historische Soziologie sei laut Folkers notwendig, um zu verhindern, dass noch mehr Zukunft verbaut werde: Wenn der Fluss der Veränderung versiege, müsse mittels eines kritischen Umgangs mit der Geschichte ergründet werden, wie man sich von der Vergangenheit befreien könne, um die Gegenwart zu reparieren.
Überlebende Diskurse und Überlebensdiskurse
In seinem Vortrag über Kulturanalyse als Rassenkunde betrachtete STEFAN BARGHEER (Erfurt) Die Propagandaforschung des Zweiten Weltkriegs und die Kontinuität biologischer Klassifikation in den Sozialwissenschaften. Während mit dem Rassebegriff arbeitende Typologien an der Schwelle zum 20. Jahrhundert keinesfalls ungewöhnlich waren, fand der Begriff „Rassismus“ erst ab den 1930er-Jahren Verbreitung. Das sei laut Bargheer darauf zurückzuführen, dass der Begriff geprägt wurde, um die Ideologie der nationalsozialistischen Rassenwissenschaft als pseudo- beziehungsweise unwissenschaftlich auszuweisen und eine klare Positionierung gegenüber Rassist:innen als (Feind-)Gruppe zu ermöglichen, mithin einzufordern. Gegen die zwei ‚Helden-Narrative‘ der Überwindung des wissenschaftlichen Rassismus, die sich jeweils in den Sozialwissenschaften sowie den Lebenswissenschaften ausmachen lassen, wandte Bargheer ein, dass sich hinter der scheinbaren Überwindung eine Kontinuität homogenisierend-essenzialisierender Klassifikationsbegriffe ausmachen lasse. Für die Sozialwissenschaft lasse sich die Motivverschiebung von ‚race into culture’ – konstitutive Momente des biologischen Rassenbegriffs werden auf den Begriff der Kultur übertragen – nicht zuletzt auf die interdisziplinäre Zusammenarbeit im Zuge der als Sozialtechnologie betriebenen Propagandamaschine des Zweiten Weltkriegs zurückführen. Die historisch-soziologische Analyse solcher Korrespondenzen zwischen der (un-)wissenschaftlichen Analyse (vermeintlich) homogener Gruppen einer- und der politischen Involviertheit der Analysierenden andererseits, stelle die Kontinuität essenzialistisch-homogenisierenden Denkens auch in den gesellschaftstheoretischen Großentwürfen der Nachkriegssoziologie heraus.
In seiner Skizze einer Genealogie psychologischer Resilienz rekonstruierte OLE BOGNER (Frankfurt am Main) die verschiedenen Phasen des Resilienzdiskurses. Er zeigte, dass sich bereits vor dem meist auf die 1970er-Jahre datierten Durchbruch des psychologischen Resilienzbegriffs eine Prototheorie der Resilienz ausmachen lässt: In den 1930ern interpretierte der Neurologe und Psychiater Kurt Goldstein das – gemessen am Gebaren ‚gesunder’ Menschen – sonderbare Verhalten seiner kriegsgeschädigten Patienten als individuelle Anpassungsstrategie an situative Bedingungen ihres Milieus.[1] Später wurde der Begriff der psychologischen Resilienz nicht nur auf Individuen und Familien, sondern auch auf größere soziale Zusammenhänge angewandt und beschrieb vor allem die Anpassung an sich unvorhersehbar verändernde Umwelten. Vor dem Hintergrund der virulenten soziologischen Frage, wie unter zunehmend unsicheren Umweltbedingungen sozio-psychologische Kontinuität aufrechterhalten werden kann, machte Bogners Vortrag darauf aufmerksam, wie das Individuum in der jüngeren Resilienzforschung auf der Suche nach verallgemeinerbaren Merkmalen von Resilienz überblendet wird. Fraglos verfügten sowohl Individuen als auch Infrastrukturen über Resilienz; ebenso fraglos gelte aber, dass ein Mensch eben kein Schienennetz sei.
Den Lebenswissenschaften widmete sich auch LEON WOLFF (Marburg), der in seinem Vortrag Saatgutbanken als Medien sozialer (Dis-)Kontinuität betrachtete. Dem Ziel verschrieben, genetische Profile von Pflanzenarten dauerhaft zu sichern, stellten solche ‚Genbanken’ eine Konservierungsinstanz par excellence dar und verwiesen auf das typisch moderne Verhältnis von Permanenz und Diskontinuität: Um angesichts permanenten Wandels materielle Kontinuität sicherzustellen und Genprofile zu erhalten, werde durch Ex-situ-Konservierung das ökologische Band zwischen Pflanzen und Umwelt zerschnitten. Folgte die Pflanzenzüchtung im frühen 20. Jahrhundert einer Idee der ‚reinen Linie‘, nach der ‚defizitäre‘ Pflanzenlinien konserviert und die potenziell ertragreichsten ‚veredelt‘ werden sollten, war etwa die Gründung des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Züchtungsforschung (1928) Ausdruck davon, dass die Welt als ein zeitüberbrückendes Genreservoir begriffen wurde: Konservierte Pflanzen beherbergen einen genetischen Ursprung, auf den stets zurückgegriffen werden kann, und die darin angelegten Kombinationsmöglichkeiten halten zugleich Zukunftsoptionen offen. Die in den Konservierungsideen mitlaufende Kontinuitätsvorstellung wurde im Laufe der 1980er-Jahre prominent. Ihre bis heute anhaltende Wirkung sei, so Wolff, nicht zuletzt am Spitzbergener Svalbard Global Seed Vault abzulesen, das als ‚final backup’ aller Genbanken genetische Variationen dauerhaft aufbewahre.
Beharrliche (Dis-)Kontinuitäten
Die Prävalenz von Umbrüchen und Transformationen in der Berichterstattung über den Klimawandel nahm YOUSSEF IBRAHIM (Hamburg) zum Anlass, nach der Beharrungskraft unter Wandlungsdruck in der Entdeckung und Relativierung gesellschaftlicher Stabilität im Spiegel des Klimawandels zu fragen. Ibrahim rekonstruierte einen Perspektivwechsel in der klimawissenschaftlichen Forschung: Ende des 19. Jahrhunderts seien periodisch-zyklische Klimaschwankungen registriert, klimatische Zivilisationstheorien aufgestellt und die Geschichte in geochronologische Klimaepochen unterteilt worden. Es sei allerdings die Messung der emittierten Treibhausgase in den 1950er-Jahren gewesen, durch die die Gesellschaft als Auslöserin der Veränderungen ausgemacht wurde. Diese Verwicklung von Gesellschafts- und Klimageschichte sei mit zwei Verschiebungen einhergegangen: Zum einen sei die Gesellschaft selbst vom Spielball des Klimas zum Faktor seiner Veränderung geworden, zum anderen hätten die Klimaforscher begonnen, „selbst Geschichtsschreibung zu betreiben“.[2] Doch wenn ansteigende Kurven der CO2-Emission Gesellschaftsgeschichte erzählten, so Ibrahim, dann würden gesellschaftliche wie klimatische Beharrungskräfte unter wechselseitigen Wandlungsdruck gestellt. Dass der Klimadiskurs in historisch-soziologischer Perspektive als diskursive Arena erscheine, in der Toleranzbereiche gesellschaftlicher (De-)Stabilisierung verhandelt würden, werde nicht zuletzt in den Verlaufskurven der Diagramme und Graphen deutlich: ihr oberes Ende verweise auf die radikale Diskontinuität von Gesellschaft als Ende ihrer Fortsetzbarkeit.
Ausgehend von Hans Joas’ Diagnose, Soziolog:innen seien im Zeitalter der Kontingenz[3] in besonderem Maße für historische Kontingenzen sensibilisiert, liefen aber Gefahr, in sozialen Phänomenen ausschließlich Indizien permanenter Veränderung und krisenhafter Transformation zu erblicken, fragte LARS DÖPKING (Rom), wie sich Phänomene sozialer Dauer erfassen und beschreiben lassen. In seinen Ausführungen zu Kontinuität und Kontingenz in der Geschichte des italienischen Steuerstaates hob er hervor, dass nicht Kontingenz als Ursache des Wandels festgelegt werden dürfe, um ihn dann ‚einfach‘ als bruchlose Kontinuität zu verfolgen. Stattdessen gelte es, sich der Gleichzeitigkeit einander widerstrebender Prozesse anzunehmen. Aber lässt sich so, warf Döpking ein, eine ‚gute’ historisch-soziologische Geschichte erzählen? Zu erzählten Gleichzeitigkeiten komme das Nebeneinander-Erzählen multipler Prozesse hinzu: Zwar könnten Prozesse abbrechen, aber es sei stets damit zu rechnen, dass andere Prozesse an diese Diskontinuitäten anschlössen. Mit seinem Rückgriff auf seinen eigenen forschungspraktischen Umgang mit der Geschichte des italienischen Steuerstaats machte Döpking deutlich, dass sich eine ‚gute’ historisch-soziologische Geschichte auf gewissenhafte Forschungsarbeit abzustützen weiß.
Wie (Dis-)Kontinuitäten erzählt werden können, lotete KARLSON PREUß (Halle) für die Historiographie des modernen Rechtsdenkens aus. Dabei revidierte er die rechtsgeschichtliche These eine Epochenschwelle zwischen dem 19. und 20. Jahrhundert. Zwar lege das „große Narrativ“ (das sich beispielsweise bei Franz Wieacker auffinden lasse) nahe, dass sich das Verständnis richterlicher Praxis stark gewandelt habe. Dem propagierten Selbstverständnis der Freirechtsbewegung als Wächter richterlicher Autonomie stand das Bild des Richters als „Subsumtionsautomat“, der lediglich als Sprachrohr des Gesetzesrechts fungiere, entgegen. Eine auf diese vermeintlich klare, zu einer ‚sozialen Wende‘ im Rechtsdenken führende Opposition fokussierte Rechtshistoriographie werde jedoch, so Preuß, der tatsächlichen Spannweite der vielen juristischen Reformbewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts nicht gerecht. Vielmehr gelte es, solche erzählten Diskontinuitäten historisch-soziologisch auf ihren Professionshintergrund hin abzuklopfen, ohne sich in den Streit hineinziehen zu lassen. Eine semantische Figur wie der Subsumtionsautomat sei dann als Teil eines seit über zweihundert Jahren anhaltenden Streits um das richtige Verhältnis von professionsbedingten Freiheitsgraden einer- und richterlicher Gesetzestreue andererseits zu verstehen.
Die Erblasten der Prozessbegriffe
Im Author-meets-Critics-Format wurden die Fragen, mit denen Russ die Tagung eröffnet hatte, in rasantem Tempo und ohne Scheu vor Zuspitzung verhandelt: Ausgehend von seiner jüngsten Monografie, Die Soziologie vor der Geschichte,[4] warf WOLFGANG KNÖBL (Hamburg) Schlaglichter auf die Denk- und Rezeptionswege, mittels derer Prozessbegriffe Eingang in die Soziologie fanden. So habe etwa Max Weber „robuste” Prozessbegriffe wie den der Rationalisierung eingeführt, um Hegels idealistischer Geschichtsphilosophie und der Sogkraft eines relativistischen Geschichtsverständnisses zu entkommen. Die Fachgeschichte kenne eine Vielzahl solcher „-isierungen”, mit denen sich Prozesse als von der Vergangenheit auf die Zukunft hinzulaufend ordnen ließen und die herangezogen würden, um das Wesen der modernen Gesellschaft zu beschreiben. Dabei werde unter der Hand nicht allein das moderne Zeitverständnis, sondern in einigen Fällen auch ‚die Moderne’ an sich reifiziert. Gleichzeitig sei es aber auch nicht so, dass sich Soziolog:innen der Prozessbegriffe einfach entledigen könnten.
Die Runde der Critics eröffnete MONIKA WOHLRAB-SAHR (Leipzig), die am Beispiel der Säkularisierungsdebatte verdeutlichte, wie im Ringen um Prozessbeschreibungen immer auch normative Maßstäbe und moralische Einsätze zum Tragen kämen. Gerade an der Säkularisierung lasse sich lernen, dass Soziolog:innen auf Prozessbegriffe als Interpretationen zweiter Ordnung angewiesen seien, um sich einen Reim auf die eigene Gegenwart zu machen. DORIS SCHWEITZER (Frankfurt am Main) hob hervor, dass eine begriffsgeschichtlichen Spuren folgende Fachgeschichte stets eine Berücksichtigung der in den Begriffen konservierten Geschichte erfordere. Betrachte man das Narrativ, das Die Soziologie vor der Geschichte entfalte, dann falle auf, was herausfalle: Der (historische) Materialismus, das Geschichtsdenken Walter Benjamins sowie Linien des französischen Poststrukturalismus, die allesamt alternative Zeit- und Geschichtsverständnisse bereithielten. MATTHIAS LEANZA (Basel) zufolge, müsse die Standortgebundenheit von Prozessbegriffen berücksichtigt werden. Er illustrierte das am Beispiel der Modernisierungstheorien, die in einer historischen Umbruchsphase der Weltpolitik in der Absicht entwickelt worden seien, den westlichen Nationalstaaten als anzustrebende Idealtypen von Staatlichkeit und Modernität zu dienen. Vor dem Hintergrund der lebhaft geführten Diskussion lässt sich festhalten, dass die Reflektion der eigenen Erzählung als Erzählung unverzichtbar ist, um der Welt nicht das von Prozessbegriffen vorgegebene Modell von Veränderung und Kontinuität aufzuzwingen.
Wie wird geschichtliche Kontinuität gestiftet?
PHILIP H. ROTH (Aachen) verband Mediengeschichte und historische Soziologie, um Die Kontinuität der ‚Print Culture’ in den Wissenschaften nachzuvollziehen. Roth unterbreitete ein Forschungsprogramm der format ecologies, das Medien-, Sozial- und Wissenschaftsgeschichte miteinander verbindet. Durch diese Linse betrachtet, umfasse die Geschichte der Print Culture weit mehr als lediglich Materialisationen institutioneller Imperative der Wissenschaft. Betrachte man die wissenschaftlichen Publikationsformate stattdessen als Zusammentreffen heterogener sozialer, technischer, kultureller und intellektueller Elemente, würden Phänomene des Wandels, aber auch bis in unsere Gegenwart reichende Kontinuitäten sichtbar. So begann erst 1867 die Formatstandardisierung, die wir heute als scientific paper kennen. Sie fand parallel zu einer Machtverschiebung innerhalb der modernen Wissenschaften statt, die den Einfluss allmählich von den Akademien hin zu einem Unternehmen aus unter anderem Verlagen, Universitäten und Bibliotheken verschob.
ANDREAS HÖNTSCHs (Dresden) Vortrag über Rituelle Praxis als dynamische Stiftung geschichtlicher Kontinuität deutete Die deutsche Reformation zwischen Papstrevolution und asketischem Protestantismus als historisch-semantische Inspirationsquelle für gesellschaftstheoretische Begriffspräzisierungen. Im lutherischen Leibes-Begriff liege möglicherweise die Lösung eines zeitsoziologischen Problems verborgen: Anstatt Zeit – wie im für die Moderne typischen Verständnis – ausschließlich als Abfolge von Einzelereignissen zu denken, präsentiere sich bei Luther die Kirche als „geschichtliche Kontinuität, in der sich Vergangenheit und Zukunft in der Gegenwart während des Abendmahls zusammenschließen”. In den ‚lebendigen‘ Worten religiöser Praxis finde sich so, als Alternative zur Vorstellung von im selben Moment erscheinender wie vergehender Ereignishaftigkeit, die Theoriefigur einer Gegenwart der Dauer.
Über die Permanenz (bedrohter) Ordnungen
Der Continuity and Permanence of Functionally Differentiated Societies spürte KOSUKE SAKAI (Tokyo) in einer Case Study on the Formation of the Welfare State nach. Mit Blick auf die rechtliche Regulierung von Fabrikarbeit lasse sich Mitte des 19. Jahrhunderts ein Wendepunkt hinsichtlich der Rolle der Polizei ausmachen. Sakai ordnete den institutionellen und semantischen Wandel des Arbeitnehmerschutzes als Resultat des sozialstaatlichen Politikprogramms, wie es an der Wende zum 20. Jahrhundert forciert wurde, ein. In dieser differenzierungstheoretischen Perspektive werde sichtbar, dass der Sozialstaat von einer Vielzahl administrativer Organisationen realisiert wurde, die sich auf die Bearbeitung ‚sozialer Probleme’ über mehrere Funktionssysteme hinweg spezialisierten. Die semantische Verschiebung von polizeilicher Zwangsautorität zur Autorität professioneller Problemlösung habe den sozialstaatlichen Wandel begleitet.
In seinem die Jahrestagung beschließenden Vortrag über Mos maiorum und den Untergang der römischen Republik illustrierte der Althistoriker CHRISTIAN WEIGEL (Bonn), wie der Rekurs auf die Sitten der Vorfahren in der römischen Republik eine wichtige Rolle für die Herstellung politischer und sozialer Stabilität spielte. Denn angesichts des Aufstiegs Roms zur Großmacht sei das Ausbleiben eines größeren Strukturwandels des politischen Systems erklärungsbedürftig. Im Spannungsfeld zwischen einem permanenten Konkurrenzkampf zwischen den Mitgliedern senatorischer Familien und der Konsensbedürftigkeit politischer Entscheidungen liege im römischen Umgang mit der eigenen Vergangenheit ein Garant für Stabilität trotz kontinuierlicher imperialer Expansion. Als zum Ende der Republik diese Autorität zu erodieren begann, erschien im zeitgenössischen Rückblick die eigene Gegenwart als Resultat eines sich selbst verstärkenden, auf einen kritischen Wendepunkt zulaufenden Sittenverfalls, der die Permanenz der res publica auflöse.
Wie bereits auf der Gründungstagung des AK Historische Soziologie[5] wurde auch auf seiner ersten Jahrestagung deutlich, dass sich historisch-soziologisch Forschende nicht durch gemeinsame Themenbezüge und dieselben empirischen Gegenstände vergemeinschaften, sondern durch das Verfahren, soziologische Fragestellungen, Begriffsinstrumente und Methoden an die Geschichte heranzutragen und sie im Dialog mit der Geschichte zu überarbeiten. Und so lässt sich unter dem Eindruck der Vorträge konstatieren, dass die Suche nach Möglichkeiten, Kontinuität und Permanenz zu erzählen, nicht nur überraschende Einsichten zu gegenwärtigen Phänomenen zu offenbaren vermag, sondern auch der so wichtigen wie fordernden Aufgabe nachkommt, das begriffliche wie methodische Werkzeug der historischen Soziologie auf seine Tauglichkeit hin zu prüfen.[6]
Fußnoten
- Kurt Goldstein, Der Aufbau des Organismus. Einführung in die Biologie unter besonderer Berücksichtigung der Erfahrungen am kranken Menschen, Den Haag 1934.
- Dipesh Chakrabarty, Verändert der Klimawandel die Geschichtsschreibung?, in: Transit. Europäische Revue 41 (2011), S. 143–163, hier S. 143.
- Hans Joas, Das Zeitalter der Kontingenz, in: Katrin Toens / Ulrich Willems (Hg.), Politik und Kontingenz, Wiesbaden 2012, S. 25–37.
- Wolfgang Knöbl, Die Soziologie vor der Geschichte. Zur Kritik der Sozialtheorie, Berlin 2022. Siehe auch Klaus Lichtblau, Historisierung als Kritik. Rezension zu „Die Soziologie vor der Geschichte. Zur Kritik der Sozialtheorie” von Wolfgang Knöbl, 2022 in: Soziopolis, https://www.soziopolis.de/historisierung-als-kritik.html, (18.10.2023).
- Hannah Schmidt-Ott, „Methodenfragen sind Identitätsfragen”. Bericht von der Gründungstagung des Arbeitskreises Historische Soziologie in der DGS-Sektion Kultursoziologie am 21. und 22. April 2022 in Bielefeld, 2022, https://www.soziopolis.de/methodenfragen-sind-identitaetsfragen.html (18.10.2023).
- In der seit Mitte 2022 von Arne Dreßler veranstalteten Online-Reihe zu den Methoden und analytischen Perspektiven der Historischen Soziologie geben historisch-soziologisch Forschende Einblick in ihre Forschungspraxis. Für eine aktuelle Programmübersicht siehe: https://sites.google.com/view/arnedressler/online-reihe.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Hannah Schmidt-Ott.
Kategorien: Geschichte Gesellschaft Gesellschaftstheorie Methoden / Forschung Moderne / Postmoderne Wissenschaft
Zur PDF-Datei dieses Artikels im Social Science Open Access Repository (SSOAR) der GESIS – Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften gelangen Sie hier.
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