Niels Penke | Rezension | 07.04.2022
Die digitale Avantgarde
Rezension zu „Schreibenlassen. Texte zur Literatur im Digitalen“ von Hannes Bajohr

Mit seinem neuen Buch Schreibenlassen führt Hannes Bajohr einen doppelten Legitimationskampf. Einerseits als Praktiker im Feld der digitalen Literatur, die sich gegenüber einem an traditionellen Kategorien und Begriffen orientierten Literaturbetrieb zu behaupten hat, und andererseits als Wissenschaftler, der sich mit einem oft skeptisch beäugten und zumeist unverstandenen Forschungsgegenstand befasst. Denn das, was die insgesamt zehn Beiträge dieses Buches behandeln, sind ‚unkreative‘ Schreibprozesse, in denen der Herstellungsprozess von Text, das genialisch aufgeladene Schreiben, an Maschinen delegiert wird. Doch dieses Schreibenlassen wird nicht von Mäzenen verfügt, die anlassbezogene Aufträge erteilen. Sie sind im Zeitalter digitaler Auftragsdichtung von jenen beerbt worden, die ein Konzept haben und zudem den Code beherrschen.
Grundlegend für Bajohrs Betrachtungen ist ein Verständnis von Digitalisierung zum einen als Prozesskategorie und zum anderen als „Wirklichkeitsbegriff“ (S. 43) im Sinne Hans Blumenbergs, der Welterfahrung bedingt, ohne dabei selbst unmittelbar erfahren zu werden. Digitalisierung bezeichnet eine Bewegung, die den Schwebezustand der Gegenwart fortwährend modifiziert und ständig Neues produziert, indem sie alles transformiert, was mit ihr in Berührung kommt. Auch die Literatur, selbst diejenige, die noch nicht darum weiß und weiterhin so agiert, als fände sie in einem ewig-prädigitalen Residuum statt, wird beziehungsweise wurde längst durch das Digitale verwandelt. Doch im Fokus von Bajohrs Untersuchungen stehen einzig solche Formen von Literatur, die wissen, dass sie digital sind – und anders auch gar nicht sein könnten –, und daher „mehr über diese Gegenwart zeigen, als es jedes deskriptive Schreiben sagen könnte“ (S. 67). Es geht um Erscheinungsformen des Neuen, das durch den „Sprung“ der Digitalisierung und die durch sie ausgelösten „Verflüssigungen“ (S. 18) in die Welt gekommen ist. Um die „Undinge“ und „Unwerke“ (S. 17), die mit den etablierten und immer noch wirkmächtigen Vorstellungen von Originalität und Autor:innenschaft brechen, und trotz ihrer negativen Bezeichnungen mehr sind als lediglich Verneinungen des Alten. Es sind diese Mehr-Wertigkeiten digitaler Literaturen, mit denen sich die im Band versammelten Texte beschäftigen, die zwar alle bereits an anderer Stelle erschienen sind, aber für diese Ausgabe aktualisiert wurden.
Die Chronologie des Bandes begründet eine anthropologische Perspektivie Schreibenlassen beginnt bei Brion Gysins „I Am That I Am“ (1960), dessen Permutationsprinzip die Selbstbeschreibung Gottes mit sofortigem Selbstzweifel („Am I That I Am“) konfrontiert und schließt mit Erörterungen des prometheischen Unbehagens angesichts Künstlicher Intelligenz. Trotz der engen Aktualitätsbezüge und der damit verbundenen rapide fortschreitenden Obsoleszenz sind auch die älteren Beiträge – der älteste stammt aus dem Jahr 2014 – noch mit Gewinn zu lesen. Durch die in ihnen angestellten Rückblicke und deren Verschränkung mit Analysen aktueller Phänomene lässt sich der Band auch als Einführung in die digitale Literatur lesen. Ohne Vollständigkeit beanspruchen zu können oder zu wollen, gibt er einen Überblick über Formen, technische Potenziale und Herstellungsweisen genuin digitaler Literatur. Verstärkt wird dieser Eindruck auch durch den bei Aufsatzsammlungen ebenso seltenen wie glücklichen Umstand, dass die Rekurrenz hoch, die Redundanz aber gering ist. Die diversen Bezüge zwischen den Einzelbeiträgen werden durch mehrmals behandelte Texte, Autor:innen, Begriffe und Fragen hergestellt, bloße Wiederholungen gleicher Argumentationen sind hingegen nicht aufzufinden.
Der Begriffs˗Pool, auf den die Beiträge notwendigerweise immer wieder rekurrieren, ist klassisch˗romantisch geprägt und dreht sich mit Genie, Autorschaft, Originalität und Kreativität um Begriffe, die sowohl in der Kritik der digitalen Literatur wie auch in der Theoretisierung von KI beständig als Vergleichsparameter herangezogen werden. Gerade weil die kritischen Stimmen aufgrund ihrer allzu anthropozentrischen Prämissen nur schwerlich über Verlustdiagnosen hinauskommen, sind Bajohrs Ausführungen gewinnbringend. Und zwar in gleich zwei Hinsichten: Zum einen kann er durch den Rückbezug auf die klassischen Avantgarden, die den Mythos von der Originalgenialität bereits vor mehr als 100 Jahren überwunden hatten, das Unbehagen entkräften, neue Formen und Verfahren könnten ältere tatsächlich restlos zum Verschwinden bringen. Vielmehr erweitern diese die Möglichkeiten, was Literatur sein kann und als Literatur anerkannt wird. Zum anderen gelingen Bajohr vor dem Hintergrund des traditionellen Produktivitätsparadigmas und seiner Begriffe Differenzierungen hinsichtlich der Frage, was digitale Literatur und ‚kreative‘ KI sein können und was nicht. Besonders deutlich wird das an Daniel Kehlmanns Experiment mit dem Algorithmus (Mein Algorithmus und Ich, 2021), welches in der letztlich beruhigenden Enttäuschung mündet, dass KI keine guten Romane schreiben kann und wohl auch nie können wird. Die Möglichkeit, mit anderen Mitteln auch eine andere Literatur zu machen, liegt außerhalb dieser prominenten Unternehmung. Gerade angesichts dessen ist Bajohrs Doppelrolle besonders wertvoll – denn beide Seiten zu sehen, das Alte und das Neue, den etablierten Betrieb und die dissidente Avantgarde, vor allem aber neben der phänomenologischen Ebene, die für Nichtprogrammierkundige bereits oft opak und rätselhaft genug ist, auch die andere Seite zu zeigen, das Konzept mit dem Code zu erklären und Transparenz zu schaffen, lässt das exotische Terrain zugänglicher werden. Ein Teil jenes diffusen Unbehagens, das, wie es scheint, aus Unverständnis gespeist wird, könnte dadurch abgebaut werden. Denn Bajohrs eigene Projekte wie auch die diskutierten Arbeiten von Gregor Weichbrodt, Berit Glanz oder Allison Parrish illustrieren, was digitale Literatur alles sein kann, wenn man sie lässt und welche erhellend-irritierenden Wirkungen sie haben kann, lässt man sich den Blick nicht vom Ressentiment verstellen. Dass viele der diskutierten Beispiele nicht ohne literarische Traditionsbezüge auf Marcel Reich-Ranickis Kanon, Kafka, Beckett, Kerouac und Monika Rinck auskommen, ist dabei die vielleicht schönste ironische Volte.
Neben der historischen Verortung konzeptueller Literatur und ihren Exponent:innen, ist Bajohr aber auch an der Arbeit am Begriff des Digitalen und eine Erweiterung der Vorstellung dessen, was Literatur sein kann, gelegen. Es geht um die Modellierung einer eigenen „Episteme der Digitalisierung“ (S. 31), an deren Grenzverläufen die digitale Literatur ihren immer wieder vorläufigen Ort findet, und an der Bajohrs Beobachtungen sich entlangarbeiten. Dieses neue Wirklichkeitsverständnis soll gezeigt und performt, oder besser noch, durch die Ausgabemöglichkeiten von Daten in Bild˗ und Textformaten ohne „sagendes“ Zutun sichtbar gemacht werden. Damit kreisen die Beiträge immer auch um das Verhältnis von Mensch und Maschine, dessen rigiden Grenzverwaltern Bajohr ein beharrliches Plädoyer für die Potenziale der Kooperation entgegenhält und für ein „co˗creative writing“ (S. 194) votiert. Perspektiven wie diese sind bestens dazu angetan, dem apokalyptischen „Maximalprogramm“ des „prometheischen Unbehagens“, das die „totale Ersetzung“ des menschlichen Genius durch die seelenlose Maschine fürchtet, moderierend entgegenzutreten (S. 136). Auf die tatsächlichen und umso größeren Gefahren, die als schwer zugängliche bias in die Black Boxes der großen Sprachmodelle wie GPT˗3 eingespeist werden, weist der letzte Beitrag Künstliche Intelligenz und digitale Literatur hin. Mit Jörg Piringer geht es darum, den Zugriff privatwirtschaftlich orientierter „Begehrlichkeiten der Internetgiganten“ auf die „Allmende“ der Sprache abzuwehren und sich diesen Nivellierungstendenzen gegenüber als Avantgarde mittels „literarischer Selbstverteidigung“ zu behaupten. (S. 200) Mit diesen stets überzeugenden Differenzierungen wird deutlich, dass nicht jede KI und jeder technisch „erweiterte Geist“ als Bedrohung aufgefasst werden können oder sollten, sondern nur jene, die sich mit weltumspannender Macht verbinden und in undurchschaubare Opazität hüllen. Da die „starke KI“ auf Grundlage des eingespeisten Materials ähnlichen Output „ausmittelt“ (S. 189), sind von ihr vor allem traditionsbestätigende Wiederholungen, aber kaum Experimente zu erwarten. Die Zukunft der digitalen Literatur jedenfalls liegt woanders.
Wie Bajohr einleitend betont, ist der Band ein Dokument, an dem die Diskussion und Theoretisierung digitaler Literatur der letzten Dekade nachvollziehbar wird. Zugleich Werkzeugnis einer praxeologisch fundierten Literaturwissenschaft, die sich nicht scheut, lang gehegten Begriffen und Konzepten eine Absage zu erteilen und dort weiter zu fragen, wo das „Episteme der Digitalisierung“ noch deutlichere Spuren zeichnen wird. Die digitale Avantgarde des 21. Jahrhunderts, die konzeptuelle Literatur und die Idee gegenüber literarisch gelesenen oder konventionell literarisch lesbaren Texten priorisiert, leistet dafür praktische und zugleich theoretische Pionierarbeit. Auch wenn man nach der Lektüre nur vorläufig wissen mag, „was das ist“ (S. 32), das Digitale, weiß man doch vieles genauer als zuvor. Mit der Lust am Experiment und neuen Ideen, andere Formen generativer Literatur entstehen zu lassen, geht es darum, weiter Code zu schreiben, um diesen schreiben zu lassen. Ob der ausgegebene Text überhaupt und auf welche Weise lesbar ist, tritt gegenüber dem Konzept und seiner potenziellen Realisation in den Hintergrund. Von all diesen Perspektiven können ein offener Literaturbegriff ebenso wie eine offenere Literaturwissenschaft nur profitieren, wenn sie die „Grenzen der Literatur“ und die Vereinbarung darüber, was Literatur sein kann und darf, beständig zur Disposition stellen. Als Praktiker, Wissenschaftler und kritischer Fürsprecher hat Hannes Bajohr mit diesem kurzweiligen Band nicht nur eine lesenswerte Einführung geschrieben, er hat zugleich auch einen weiteren performativen Nachweis dafür erbracht, dass in Zweifelsfällen das abwiegende Sowohl˗als˗auch mehr sieht als ein entschiedenes Entweder˗Oder.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Hannah Schmidt-Ott.
Kategorien: Anthropologie / Ethnologie Digitalisierung Kultur Technik
Zur PDF-Datei dieses Artikels im Social Science Open Access Repository (SSOAR) der GESIS – Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften gelangen Sie hier.
Empfehlungen
Homo ex machina
Rezension zu „Co-Evolution. Die Symbiose von Mensch und Maschine“ von Edward Ashford Lee
Empfehlungsschreiben für eine Subdisziplin
Rezension zu „Technikanthropologie. Handbuch für Wissenschaft und Studium“ von Martina Heßler und Kevin Liggieri (Hg.)
Wir Weltfremden
Rezension zu „Die Weltfremdheit des Menschen. Schriften zur philosophischen Anthropologie“ von Günther Anders