Srećko Horvat, Ulrich Bröckling | Interview |

„Die dystopische Zukunft ist bereits da“

Srećko Horvat im Gespräch mit Ulrich Bröckling

Srećko Horvat, Ihr Buch trägt den Titel After the Apocalypse.[1] Inwiefern sind wir heute schon postapokalyptisch?

Die Spielwelten meiner Kindheit kreisten noch um das lang zurückliegende Aussterben der Dinosaurier. Die heutigen Generationen wachsen inmitten unseres eigenen Aussterbens auf. Was einst Teil spekulativer Fiktion war, ist heute Realität. Vor einiger Zeit sah ich auf einem Flughafen ein neues LEGO-Set mit dem Namen Welcome to Apocalypseburg.[2] Es handelte sich um eine postapokalyptische Trümmerstadt, die an die Schlussszene aus dem Film Planet der Affen erinnert, in der Charlton Heston am Strand neben den Ruinen der Freiheitsstatue kniet und sein Schicksal verflucht. Dann, vor zwei Jahren, stieß ich auf ein ein wunderschönes Bilderbuch mit dem Titel Die besten Weltuntergänge.[3] Das ist es, womit Kinder heute spielen oder was sie lesen. Die ‚glücklichen‘ Kinder, die unglücklichen sind bereits Klimaflüchtlinge oder verbringen ihre Kindheit in postapokalyptischen Einöden, sie leben und überleben „nach der Apokalypse“. Klimakrise, Umweltzerstörung, nicht enden wollende Kriege – das ist keine dystopische Zukunft, die noch kommen wird, sondern sie ist bereits da.

Welche Annahmen zum Verhältnis von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft liegen dieser These zugrunde?

Die Zerstörung der Biosphäre ist bereits Teil unserer Gegenwart, und sie ist in die Geschichte des Kapitalismus eingeschrieben. Wie uns Deborah Danowski und Eduardo Viveiros de Castro in ihrem Buch In welcher Welt leben?[4] in Erinnerung rufen, hat das Ende der Welt für die Ureinwohner Amerikas bereits vor fünf Jahrhunderten stattgefunden. Die Conquista dezimierten die indigene Bevölkerung des Kontinents, die damals größer war als die europäische, in den ersten eineinhalb Jahrhunderten um etwa 95 Prozent. Einigen Demografen zufolge entsprach das einem Fünftel der damaligen Weltbevölkerung. Einerseits müssen wir also über die westliche Sichtweise hinausgehen und die Leiden und Apokalypsen berücksichtigen, die sich vor allem im sogenannten Globalen Süden ereignet haben, aktuell ereignen und noch ereignen werden. Andererseits sind wir heute nicht nur mit partiellen Enden der Welt konfrontiert, sondern mit der Auslöschung der gesamten Welt, wie wir sie kennen. Und auch Letzteres liegt nicht etwa in einer nahen oder fernen Zukunft, sondern ist bereits im Gange. In gewisser Weise müssen wir also eine zeitliche Verschiebung vornehmen: Anstatt uns auf das zu konzentrieren, was kommen wird, sollten wir die Zukunft entschlüsseln, die bereits da ist.

Die Rede vom „Ende der Welt, wie wir sie kennen“ ist eine griffige Formulierung, die sich auf die totale Auslöschung beziehen kann, aber ebenso auf eine radikale Transformation von Gesellschaft. Sind die Dystopien apokalyptischer Katastrophen nur zu ertragen, wenn man sie mit revolutionären Utopien kontert?

Ich glaube nicht, dass eine revolutionäre Utopie das einzige Mittel ist, um mit der real existierenden Dystopie und unserem Zeitalter der Katastrophen fertig zu werden. Vor einigen Jahren habe ich ein Buch mit dem Titel Die Radikalität der Liebe veröffentlicht – eines der wenigen meiner Bücher, das ins Deutsche übersetzt wurde.[5] Darin geht es unter anderem darum, dass die am weitesten gehende Revolution die Liebe ist. Und wenn ich Liebe sage, dann meine ich nicht die romantische Liebe oder die Idee der romantischen Liebe, sondern eine Transformation in unseren Beziehungen zu anderen Menschen und anderen Wesen, eine Art von Verpflichtung und Treue, die uns selbst ebenso verändert wie die anderen.

Apokalypse bedeutet wörtlich Enthüllung oder Offenbarung. Was enthüllt oder offenbart sich in gegenwärtigen Apokalypsen?

Wenn man sich unsere gegenwärtigen Apokalypsen ansieht – von der Pandemie über die Klimakrise und die Erdbeben bis hin zu den endlosen Kriegen –, dann ist das, was man als ihre Offenbarung interpretieren kann, ziemlich offensichtlich: dass die fortdauernde Zerstörung der Welt zur Auslöschung führen wird und dies bereits tut. Was ist die Ursache dafür? Nach der Theorie des Anthropozäns sind es die Menschen. Wie viele andere – allen voran Jason W. Moore mit seiner Theorie des Kapitalozäns – bin ich allerdings überzeugt, dass nicht der Mensch als solcher und auch nicht die Gesamtheit der Menschheit die Zerstörung des Planeten Erde verursacht. Es ist vielmehr ein System, das auf Extraktion, Expansion und Ausbeutung beruht, das mit dem Kolonialismus und der Industrialisierung begann und seinen Modus Operandi mittels Gewalt und Technologie rund um den Planeten durchsetzt – vielleicht das erste wirklich planetarische System.

Nehmen wir die jüngsten verheerenden Erdbeben in der Türkei. Das war keine Naturkatastrophe. Zwar wurden die Erdstöße selbst nicht von Menschen ausgelöst, aber dass die Katastrophe ein solches Ausmaß annahm, ist im Wesentlichen dem systemischen Zusammenwirken von Kapitalismus, Korruption und Erdoğans Politik geschuldet. Ähnlich verhielt es sich beim Hurrikan Katrina, der 2005 New Orleans fast zerstört hätte. Auch dort war es nicht nur der Sturm, der die Tragödie verursachte, sondern eine jahrzehntelange schlechte Politik. Die Opfer waren vor allem arme Afroamerikaner, was zum einen deutlich macht, dass es keine natürlichen Katastrophen gibt, zum anderen sind von Katastrophen meist die ärmsten und am wenigsten privilegierten Bevölkerungsschichten (im Grunde die Mehrheit des Planeten) betroffen. Und auch in der Klimakrise sind die vormaligen Opfer von Kolonialismus und Imperialismus erneut als Erste betroffen und werden zu Klimaflüchtlingen.

Gibt es also so etwas wie eine Empirie der Apokalyptik?

Es reicht schon, nach Tschernobyl zu fahren, einen von vielen postapokalyptischen Orten auf der Welt, um auf das zu stoßen, was Sie die Empirie der Apokalyptik nennen. Ich war kurz vor dem Krieg in der Ukraine dort, als es noch Touristenreisen in die Sperrzone gab und Tausende von Besuchern kamen. Einerseits wurde ich dort Zeuge einer – ich würde sagen – Kommerzialisierung der Apokalypse: Aus der Katastrophe, der dystopische Landschaft und dem Stadtgebiet von Prypjat war ein touristisches Produkt geworden. Tatsächlich hatte der damals neu gewählte Präsident Wolodymyr Selenskyj 2017 einen touristischen Entwicklungsplan für die radioaktive Sperrzone angekündigt, einschließlich eines grünen Korridors, durch den Touristen reisen können sollten, um die Überreste der sowjetischen Hybris zu bestaunen. Doch so sehr dieser postapokalyptische Ort in eine weitere Attraktion des dark tourism verwandelt werden sollte, was ich dort antraf, war das, was Günther Anders als das „Überschwellige“ bezeichnet hätte. Natürlich gab es Anzeichen dafür, dass dort Menschen gelebt hatten – die Gebäude, die Bücher, die Möbel, die leeren Schulzimmer mit den Spielsachen, die die evakuierten Kinder zurücklassen mussten, und so weiter. Aber diese Welt ohne Menschen war eine eher weltlose Welt, eine Welt, die im Verfall begriffen war, so als ob Stalker, ein dystopischer Science-Fiction-Film, Realität geworden wäre. Die dystopische Empirie zeigt sich als Zusammenprall eschatologischer Kipppunkte – mehrere Katastrophen überlagern sich: An dem Ort, der immer noch radioaktiv verseucht ist, gab es in den letzten Jahren katastrophale Waldbrände, verursacht durch die Klimakrise. 2022 diente ausgerechnet die Sperrzone als Einfallstor für die Invasion der russischen Streitkräfte. Und plötzlich haben Sie hier alles auf einmal – Atomkraft, Klima und Krieg.

Die Verwandlung von Tschernobyl in eine touristische Destination erinnert an Karl Kraus’ Glosse „Reklamefahrten zur Hölle“,[6] in der er eine Zeitungsannonce für Busreisen nach Verdun zum Anlass nahm, „dem Valutenbrei, der sich Menschheit nennt, einen Ehrenplatz auf einem kosmischen Schindanger anzuweisen“. Was können apokalyptische Bilder und Geschichten bewirken, wenn selbst die Katastrophe zum Ausflugsziel wird?

Danke, dass Sie mich an Karl Kraus und seine höchst aktuellen „Reklamefahrten zur Hölle“ erinnern. In der Tat, die Dissonanz zwischen den Schlachtfeldern und dem bequemen Platz mit Wein, Kaffee und Mahlzeiten während der Fahrt zur Hölle ist mir auch in der Sperrzone um Tschernobyl begegnet. Ich bin in einem Touristenbus mit etwa zehn Personen mitgefahren, aber für einen höheren Preis konnte man auch einen Privatwagen mieten, der einen nach Tschernobyl, Prypjat und in die verlassenen Dörfer brachte. Anschließend konnte man in der Kantine des Kraftwerks ein typisches Mittagessen aus der Sowjet-Ära zu sich nehmen, nachdem man sich die gigantische Kuppel über Reaktor 4 angesehen hatte. Es gab Geigerzähler und verschiedene Souvenirs zu kaufen: „radioaktive Luft“ aus Tschernobyl, T-Shirts mit der Aufschrift „Enjoy Chernobyl, Die Later“ und so weiter. Dort, in der Hölle, wird sogar die Apokalypse zur Ware gemacht.

Ähliches kann man immer wieder beobachten, zuletzt auf den Kanarischen Inseln im Jahr 2021 während des verheerenden Vulkanausbruchs auf La Palma, als Horden von Touristen kamen, um Selfies zu machen. Einerseits gibt es eine lange Geschichte der Kommerzialisierung von Katastrophen, Pompeji war vielleicht der erste Ort des dark tourism. Andererseits, so glaube ich zumindest, haben solche Orte immer noch das Potenzial, uns in eine Metaphysik zu katapultieren, in eine Welt ohne uns, der wir sonst nicht begegnen würden. Lange bevor ich anfing, über die Apokalypse nachzudenken und zu schreiben, ging ich einmal um den Zaun der Geisterstadt Varosha in Famagusta herum, die vor der türkischen Invasion Zyperns 1974 ein beliebtes Touristengebiet war. Dann wurden die Einwohner gezwungen, ihre Gegend schnell zu verlassen. Als ich dort war und nur den leeren Strand und die leeren Hotels und Gebäude sah, war ich sprachlos. Ich habe erst vor Kurzem gehört, dass seit 2021 wieder Besucher zugelassen sind und auch dieser Ort langsam kommerzialisiert wird.

Sie schreiben, die Apokalypse sei auch eine „semiotische Maschine“. Aus welchen Bauteilen ist diese Maschine zusammengesetzt? Und wie funktioniert sie?

Wie jede semiotische Maschine besteht sie aus Zeichen und Semiosen. Heutzutage vielleicht sogar aus Memes. Der italienische Philosoph Franco „Bifo“ Berardi prägte den Begriff Semiokapitalismus, um eine neue Form des Kapitalismus zu definieren, die nach oder oft zusammen mit der Finanzialisierung auftritt. Er funktioniert durch Semiose, also durch die Produktion, Übertragung und (Neu-)Interpretation von Zeichen. Die gegenwärtige Phase des Finanzkapitalismus hat die Unterscheidung zwischen fiktional und real vollständig aufgehoben, und der Preis, den wir dafür zahlen, ist unser reales Leben. Was aber wäre, wenn nicht nur die Wirtschaft auf Zeichenproduktion beruht? Wenn die zeitgenössischen Katastrophen und Apokalypsen ebenfalls durch Semiose funktionieren? Aus der Geschichte wissen wir, dass Katastrophen immer einen Sinn schaffen. Umgekehrt kann eine Bedeutung, ein Missverständnis oder einfach ein Zeichen unter Umständen eine Katastrophe hervorrufen.

Heute funktioniert die semiotische Maschine in erster Linie durch Operationen der Megamaschine – Lewis Mumfords Begriff für den sozialen, wirtschaftlichen und politischen Apparat, der eine Art superplanetarische Struktur darstellt, die nicht nur die materiellen Produktionsverhältnisse, sondern auch die Produktion und Reproduktion von Zeichen beherrscht. Nehmen wir die heute populäre Ideologie des Silicon Valley, den sogenannten longtermism. Einerseits ist ihr Ursprung mit der Möglichkeit der totalen Vernichtung und Zerstörung des Planeten verbunden, andererseits schlägt sie einen Ausweg vor, indem sie eine moralische Pflicht zum Nachdenken über langfristige Perspektiven postuliert. Nun könnte man fragen, was ist daran falsch? Natürlich brauchen wir eine langfristige Perspektive, wir müssen zum Beispiel an die Tausende von Jahren des radioaktiven Zerfalls denken oder an die geologischen Veränderungen, die unser gegenwärtiges System künftigen Generationen hinterlässt – oder an die Wesen, die nach den Menschen kommen könnten oder auch nicht. Die Lösung des longtermism ist allerdings typisch für das Silicon-Valley-Denken – sie heißt Solutionismus: Die Welt mag kollabieren, aber das Silicon Valley wird schon eine Lösung finden, sei es durch Geoengineering und Terraforming oder durch KI und Metaversen oder einfach dadurch, dass ein paar reiche Leute zum Mars fliehen und auf einem anderen Planeten eine libertäre Utopie – oder Dystopie – verwirklichen. Gegen solche Vorstellungen steht ein ganz anderes semiotisches Universum, das der Klimabewegung, von Fridays for Future bis Extinction Rebellion. So sehr die Hölle jeden Tag beschworen wird, so sehr ist sie für einen Semiotiker der Himmel.

Den Slogan des Weltsozialforums „Eine andere Welt ist möglich“ verändern Sie in Anlehnung an die französischen Kollapsolog:innen zu „Ein anderes Ende der Welt ist möglich“. Was verbinden Sie mit diesem irritierenden Satz, der ja offensichtlich einen Fluchtpunkt von Hoffnung bezeichnen soll?

Es waren nicht die französischen Kollapsologen, die ihn erfunden haben. Er tauchte nach dem brutalen Polizeimord an George Floyd auf einer Hauswand in Minneapolis auf. Ein obskurer und zu Unrecht vergessener Text des französischen Philosophen Maurice Blanchot zeigt einen möglichen Weg, wie wir uns diesem scheinbar pessimistischen Slogan nähern könnten. Es handelt sich um einen Text mit dem schönen Titel „Die Apokalypse enttäuscht“, den Blanchot 1964, auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges, veröffentlichte.[7] Sein Hauptargument ist, dass die Bedrohung durch die Bombe (den Mastersignifikanten) und ihr Potenzial der totalen Vernichtung die Idee eines Ganzen (der Welt) hervorgebracht hat, eines Ganzen, das verloren gehen oder für immer verschwinden kann. Die Genialität Blanchots liegt in der hegelianischen Wendung dieses Gedankens: Statt die Apokalypse (oder vielmehr den totalen Kataklysmus) zu akzeptieren oder zu leugnen, legt gerade ihre Unvermeidlichkeit den Grundstein für eine Transformation, die in der Lage wäre, das unvermeidliche zukünftige Ereignis in etwas zu verwandeln, das nicht mehr unvermeidlich ist.

Die Apokalypse enttäuscht, weil wir etwas (das Ganze) verlieren werden, das wir eben nicht geschaffen haben. Aber gerade dadurch, dass wir das, was wir verlieren werden, erschaffen, könnten wir das Ende schließlich verhindern. In diesem Sinne verstehe ich den Slogan „Ein anderes Ende der Welt ist möglich“. Es muss nicht in einem allgemeinen Bürgerkrieg enden, während die Milliardäre noch ein paar Monate in einem Atombunker überleben. Möglich wäre auch die Wiederbelebung von Zusammenarbeit, gegenseitiger Hilfe und Solidarität.

Politisch gelesen, sind apokalyptische Narrative höchst ambivalent: Sie können Fatalismus verstärken ebenso wie Aktivismus, autoritäre Maßnahmen ebenso begründen wie solidarische Praktiken der Sorge. Es gibt linke wie rechte Apokalyptiker:innen. Ist es klug, das Ende der Welt zu beschwören, wenn es darum geht, die Zukunft offen zu halten?

Die einzige Möglichkeit, die Zukunft offen zu halten, besteht heute darin, ihre Zerstörung zu verkünden, das gilt zumindest für die Zukunft des real existierenden Kapitalismus – denn die Zukunft des Kapitalismus ist der Tod der Zukunft. Anders gesagt, ist unsere Gegenwart bereits die Historie, aus der die Zerstörung der Zukunft extrahiert wurde, im wahrsten Sinne des Wortes: All die fossilen Brennstoffe, das Mikroplastik und die Radioaktivität beeinträchtigen schon heute unser Leben und werden in ziemlich naher Zukunft fatale Folgen zeitigen. In gewisser Weise beruht also unser gegenwärtiger Zustand darauf, die Zukunft zu rauben, künftige Generationen zu töten, damit unsere Generation leben kann. Hier schließe ich mich dem deutschen Philosophen Frank Ruda an, der dazu aufruft, den Fatalismus wieder zu etablieren.[8] Wir müssen uns, so Ruda, den Kometen, der die Erde verwüsten könnte, nicht als ein Ereignis vorstellen, das irgendwann in der Zukunft aus dem Weltraum kommt, sondern als ein Ereignis, das bereits stattgefunden hat, obwohl wir es nicht wahrhaben wollen. Durch eine solche Umkehrung können wir uns, so Ruda, eine andere Form der Freiheit vorstellen. Es ist unsere Pflicht, über das Ende zu sprechen, um die Bedingungen unserer gegenwärtigen Unfreiheit zu analysieren, mit dem Ziel, die Potenziale einer anderen Zukunft aufleben zu lassen.

Auf einer Tagung in Zürich mit dem Titel Katastrophenwissen – Wissenskatastrophen. Zur Affektdynamik des Katastrophischen im vergangenen Herbst hatten Sie Ihren Vortrag überschrieben mit „Katastrophe oder Revolution“. Das klingt sehr nach einer endzeitlichen Aktualisierung von Rosa Luxemburgs „Sozialismus oder Barbarei“. Wie passt diese dramatisierende Alternative zur Deutung der Gegenwart als postapokalyptisch?

Heutzutage spricht jeder vom Krieg, aber niemand spricht mehr von der Revolution. Ich habe in Zürich unter anderem versucht, an die Geschichte früherer Katastrophen zu erinnern – von Vulkanausbrüchen bis hin zu dramatischen Klimaereignissen –, die uns etwas über den inneren Zusammenhang zwischen Katastrophe und sozialer Transformation lehren können. Ein Beispiel dafür ist der Ausbruch des Vulkans Laki auf Island im Jahre 1783, der aufgrund seines Einflusses auf das Klima und der daraus resultierenden Missernten, des Hungers und der Revolten als eine wichtige Voraussetzung für die Französische Revolution angesehen werden muss. Und manchmal – wie im Fall der Russischen und der Jugoslawischen Revolution – schuf der Krieg den Nährboden für die Revolution.

Uns fehlt heute Lenin, und zwar ein ganz besonderer Lenin. Nicht als Person, sondern als Symbol. Der Lenin von 1916, der „Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“[9] schrieb, hat die Situation richtig verstanden und nutzte einen Weltkrieg – den Ersten –, um eine Revolution zu entfachen. Kein Wunder, dass der größte Feind Putins nicht Selenskyj, sondern Lenin ist; er hat ihn in seiner berüchtigten Rede vom 22. Februar 2022, in der er für eine „Entkommunisierung“ der Ukraine eintrat, namentlich erwähnt. Die ersten Denkmäler, die während des Krieges in der Ukraine fielen, waren die zu Ehren der Roten Armee – die meisten Lenin-Denkmäler hatten die Ukrainer bereits vor dem Krieg zerstört. Wenn Lenin also sowohl für die Russen als auch für die Ukrainer der Inbegriff des Bösen ist, sollten wir uns nicht scheuen, über sein Vermächtnis zu sprechen. Gerade seine Schrift „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“ bietet einige nützliche Einsichten für den aktuellen und nicht enden wollenden Krieg. Es geht darum, unsere gegenwärtige Ära des Krieges als die höchste Stufe des Imperialismus oder der Imperialismen zu verstehen, einerseits des russischen Imperialismus und andererseits des westlichen oder des NATO-Imperialismus.

Bräuchte es nicht, um politisches Handeln zu ermöglichen, eine Umstellung von Revolution auf Resilienz oder Anpassung an die gegebene Situation? Das CO2 in der Atmosphäre, das Mikroplastik in den Ozeanen, der Atommüll, der noch Hundertausende von Jahren strahlen wird, die Möglichkeit einer Selbstauslöschung der menschlichen Gattung durch einen Atomkrieg – all das ist ja nicht mehr aus der Welt zu schaffen.

Ich mag den Begriff Resilienz nicht. Ich halte ihn für ideologisch. Schon seit geraumer Zeit ist Resilienz ein Schlagwort, für das man Fördermittel erhalten, über das man Bücher verfassen und Konferenzen veranstalten kann. Es gibt tonnenweise Artikel von Wissenschaftlern, die für Städte oder Regierungen arbeiten und Resilienz als Lösung anpreisen. Tatsächlich wird Resilienz als eine Art von Solutionismus präsentiert, als Glaube, dass sich Menschen oder Städte unbegrenzt an Katastrophen adaptieren können, dass es anstelle eines strukturellen oder systemischen Wandels ausreicht, sich anzupassen und zum Beispiel durch den Einsatz von Technologie die Krise zu entschärfen. Wie zynisch wäre es gewesen, einem Sklaven zu sagen, er solle resilient sein. Natürlich gehörten Sklaven zu den widerstandsfähigsten Menschen, aber was die Sklaverei schließlich abschaffte, war nicht die unbegrenzte Anpassung an neue Formen der Sklaverei, sondern die Revolution, der Moment, in dem sich die Menschen mit der Forderung zusammenschlossen, sich eben nicht länger an die Unfreiheit anzupassen.

Religiöse Apokalypsen waren immer auch Rettungsgeschichten. Viele werden untergehen, einige wenige Auserwählte überleben, so ihre Botschaft, die geradezu dazu einlädt, sich mit den Geretteten zu identifizieren. Es gibt eine revolutionäre Deutung dieser Dialektik: Die alte Welt muss vernichtet werden, damit ein neues Zeitalter beginnen kann. Lassen sich die apokalyptischen Bedrohungen der Gegenwart ohne solche metaphysischen beziehungsweise geschichtsphilosophischen Unter- oder Obertöne denken?

Selbstverständlich, zum Beispiel von Günther Anders, als er den Begriff „nackte Apokalypse“ prägte. Nackt ist sie, weil uns nichts anderes als der Untergang bevorsteht. Es gibt kein kommendes Reich, sondern nur eine „Apokalypse ohne Reich“,[10] die sowohl der Eschatologie des alttestamentarischen Propheten Ezechiel entgegensteht als auch dem kapitalistischen Wachstums- und Fortschrittsglauben und den revolutionären Bewegungen – die sich sehr oft, wenn auch nicht immer, einer Art Eschatologie und des Glaubens an die ‚glückliche Apokalypse‘ bedienten. Anders geht sogar so weit zu sagen, dass „aus der heutigen Perspektive der möglichen Totalkatastrophe Marx und Paulus zu Zeitgenossen“ werden. „Diejenigen Unterschiede“, fährt er fort, „die bisher die Fronten markiert hatten – selbst der fundamentale Unterschied zwischen Theismus und Atheismus – scheinen zum Untergang mit-verurteilt zu sein.“[11] Nun kann man Anders zustimmen oder nicht, aber Tatsache ist, dass wir mit der Bombe unwiderruflich im Zeitalter der „Endzeit“ leben und unsere einzige Chance darin besteht, das „Zeitenende“ hinauszuzögern.

Anders prägte in den 1950er-Jahren auch den Begriff der Apokalypseblindheit. Die Menschheit, so seine auf die Atombombe bezogene These, sei unfähig, sich vorzustellen, was sie technisch herbeiführen könne – ihre eigene Vernichtung. Gilt das noch immer? Hat sich nicht vielmehr ein climate-doomism breitgemacht, das Bewusstsein, der ökologische Kollaps sei nicht mehr aufzuhalten? In anderen Worten: Gibt es eine Abnutzung apokalyptischer Imaginationen durch ihre inflationäre Verbreitung?

Es gibt viele unterschiedliche Reaktionen auf die Apokalypse – zur gleichen Zeit. Eine ist sicherlich, da haben Sie recht, eine Art Fetischismus der Apokalypse. Ein anderes Beispiel liefert das Silicon Valley und seine Ideologie vom technologischen Lösungsdenken: Zuerst war es der technologische Solutionismus, der Mythos, dass die Technologie eine Lösung für alles bieten kann – für den Markt, für die Städte, für das Klima. Dasselbe lässt sich jetzt mit dem Hype um die künstliche Intelligenz beobachten. In den letzten zehn Jahren hat sich das Silicon Valley – neben Hollywood (heute vor allem Netflix) und Videospielen – zu einem der weltweit führenden Produzenten apokalyptischer Erzählungen entwickelt.

Gleichzeitig stoßen wir jedoch auf die von Ihnen angesprochene Apokalypseblindheit. Anders hat das Konzept im Zusammenhang mit der Atombombe entwickelt. Obwohl die Macht der Atomwaffen und die Wahrscheinlichkeit eines Atomkriegs heute größer sind als in den 1950er-Jahren, vielleicht sogar größer als während der Kubakrise Anfang der 1960er-Jahre, erhält die Atomfrage offensichtlich nicht die Aufmerksamkeit, die sie verdient. Es existiert keine starke globale Anti-Atomkraft-Bewegung wie zu Anders’ Zeiten, und es werden nicht so viele Artikel über die Atomfrage veröffentlicht wie über die Klimafrage. Kurzum: Ja, wir müssen definitiv über Apokalypseblindheit sprechen in Zeiten, in denen einige sogar offen zum Dritten Weltkrieg aufrufen, der, wie wir wissen, wahrscheinlich der letzte Weltkrieg wäre, weil es ein Atomkrieg wäre, und nach einem Atomkrieg bliebe uns nur eine weltlose Welt, eine Welt ohne uns.

  1. Siehe hierzu die Kurzrezension von Ulrich Bröckling in diesem Dossier.
  2. Vgl. https://www.youtube.com/watch?v=NAPmjtASRsk [18.6.2023].
  3. Andrea Paluch / Anabelle von Sperber, Die besten Weltuntergänge. Was wird aus uns? Zwölf aufregende Zukunftsbilder, Stuttgart 2021.
  4. Eduardo Viveiros de Castro / Deborah Danowski, In welcher Welt leben? Versuch über die Angst vor dem Ende, übers. von Ulrich und Clemens van Loyen, Berlin 2019.
  5. Srećko Horvat, Die Radikalität der Liebe, übers. von Alexander Kasbohm, Hamburg 2016.
  6. Karl Kraus, Reklamefahrten zur Hölle, in: Die Fackel (1921), 577–582, S. 96–98.
  7. Maurice Blanchot, Die Apokalypse enttäuscht [1964], in: Alexander García Düttmann / Marcus Quent (Hg.), Die Apokalypse enttäuscht. Atomtod, Klimakatastrophe, Kommunismus, Zürich 2023, S. 15–26. Siehe hierzu die Kurzrezension von Ulrich Bröckling in diesem Dossier.
  8. Vgl. Frank Ruda, Abolishing Freedom. A Plea for A Contemporary Use of Fatalism, Lincoln, NE / London 2016.
  9. Wladimir Iljitsch Lenin, Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus. Gemeinverständlicher Abriß [1916/1917], Berlin/DDR 1960.
  10. Vgl. Günther Anders, Apokalypse ohne Reich [18.6.2023], in: Streifzüge (2014), 61, S. 7–10, Abdr. aus ders., Die atomare Drohung. Radikale Überlegungen, München 1986.
  11. Ebd., S. 7.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Wibke Liebhart.

Kategorien: Globalisierung / Weltgesellschaft Kapitalismus / Postkapitalismus Moderne / Postmoderne Ökologie / Nachhaltigkeit Wissenschaft Zeit / Zukunft Zivilgesellschaft / Soziale Bewegungen

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Srećko Horvat

Srećko Horvat (1983) ist Philosoph und Autor. Seine Texte erscheinen in der New York Times, im The Guardian, im Spiegel, in der Newsweek, bei Al Jazeera und im Jacobin. Er ist einer der Mitbegründer von DiEM25 und der Progressiven Internationale. Im Jahr 2023 hat er er die ISSA (Island School of Social Autonomy) auf der Insel Vis gegründet. Zu seinen bekanntesten Publikationen zählen „After the Apocalypse“ (Polity Press, 2021) und „The Radicality of Love“ (Polity, 2015).

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Ulrich Bröckling

Dr. Ulrich Bröckling ist Professor für Kultursoziologie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im Breisgau.

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