Insa Pruisken | Rezension |

Die Entwertung der Werte?

Rezension zu „Nihilistic Times. Thinking with Max Weber“ von Wendy Brown

Wendy Brown:
Nihilistic Times. Thinking with Max Weber
USA
Cambridge, MA 2023: Harvard University Press
144 S., 22.95 $
ISBN 9780674279384

Wir leben in nihilistischen Zeiten. Diese Diagnose bildet die Grundlage des Buches „Nihilistic Times. Thinking with Max Weber“ von Wendy Brown, Politikwissenschaftlerin an der University of Southern California, Berkeley. Das Buch basiert auf dem Manuskript eines dreiteiligen Vortrags, den Brown 2019 im Rahmen der renommierten „Tanner Lectures of Human Values“ an der Yale University gehalten hat. Wendy Brown argumentiert, dass der Nihilismus eine Grundbedingung der Moderne sei. Er zeige sich im Umgang mit den dramatischen Auswirkungen des Klimawandels, den zunehmend einflussreichen anti-demokratischen Kräften in vielen Gesellschaften, insbesondere in den USA, sowie – wie von Wendy Brown in früheren Publikationen bereits beschrieben – in den ruinösen Konsequenzen des Neoliberalismus. Wie kann es unter diesen Umständen noch einen Sinn geben?

Um diese Frage zu beantworten sucht Brown Rat bei Max Weber, der in seinen beiden „Berufs-Vorlesungen“ am Ende des Ersten Weltkriegs mit der Aufgabe konfrontiert war, einer Gruppe von Münchner Studenten „Politik“ (1919) sowie „Wissenschaft“ (1917) als Beruf zu erläutern. Bei diesen Schriften handelt es sich um Reden, die an ein bestimmtes Publikum gerichtet waren: Es bestand aus männlichen Studenten, ehemaligen Soldaten, die frisch aus dem Krieg zurückgekehrt waren. Und von denen viele, so ist es überliefert, Nietzsches „Zarathustra“ gelesen hatten. Dies ist der Nietzsche-Bezug, den Brown im Sinn hat, wenn sie dem Problem, dass sich der Mensch, wenn Gott einmal tot ist, seinen Lebenssinn und die Legitimation seines Handelns selbst erschaffen muss, mithilfe Max Webers beikommen will. Und tatsächlich war Weber, schreibt Dirk Kaesler, sich in den Jahren, in denen er die Vorträge hielt, „nicht (mehr) sicher, wozu er selbst Wissenschaft betrieb und welches der Wert seiner Erkenntnisse war, soweit er solche überhaupt vorzuweisen hatte“.[1]

Warum aber greift Wendy Brown vor dem Hintergrund der von ihr diagnostizierten nihilistischen Zeiten gerade auf Webers Berufsschriften zurück? Ausgerechnet Weber, der nicht gerade als „friend of critical theory“ (S. 7) bekannt sei, der „is identified with intense German nationalism, anxious masculinism, and early attraction to that peculiar strain of neoliberalism that would later come to imprint the European unification project with undemocratic principles and techniques“ (ebd.). Obwohl, so meint Brown, Weber Machtpolitik „glorifiziert“, scheint es sich für sie zu lohnen, sich seinen Schriften hinzuwenden, um auf ein besseres Hier und Jetzt hinzuarbeiten. Die Gründe bestimmt sie folgendermaßen: Weber sei zwar ein „Komplize der Modernisierung“ aber anders als andere – wer genau verrät sie nicht – in seinem Denken unabhängig gegenüber Fatalismus sowie revolutionären Phantasien und hänge keinem apokalyptischen Glauben an. Zudem sei Webers Denken geprägt durch Krisenzeiten, die den heutigen ähnlich seien. Und schließlich enthielten die Berufsschriften Hinweise auf Strategien, mit deren Hilfe die „nihilistischen Effekte“ – das heißt die Entwertung von Werten – in den Bereichen Wissen und Politik bekämpft werden könnten. Die Ursache für Nihilismus sieht Brown – und hier bezieht sie sich auf Nietzsche und Weber – in der Säkularisierung: Wenn der Glaube an Religion und Tradition durch Technik, Wissenschaft und Zweckrationalität ersetzt werde, fehlten Werte, die die Lebensführung tatsächlich anleiten und dem Leben einen Sinn geben würden. Die Folge sei eine Trivialisierung und Degradierung kultureller Werte, die sich oftmals durch die „Hyper-Politisierung“ und Ökonomisierung sämtlicher Lebensbereiche bemerkbar mache. Indem politische Themen popularisiert würden, würden sie gleichermaßen entwertet und ökonomisiert. In allen gesellschaftlichen Lebensbereichen setzten sich, vorangetrieben durch Finanzialisierung und Digitalisierung, Prozesse der Metrifizierung und Standardisierung durch, die letztlich dazu führten, dass Bindungen, Sinn und Werte verloren gingen.

Für Weber, so Brown, entsteht Nihilismus – man müsste aber wegen des Prozesscharakters vielleicht eher von Nihilisierung sprechen – im ersten Schritt, weil Werten durch die Säkularisierung ihre Grundlage entzogen werde. Der dadurch im zweiten Schritt entstehende Pluralismus entwerte die Werte und mache sie „billig“. Die Nihilisierung vollziehe sich nun insbesondere zwischen den Wertsphären – soziologisch gesprochen in den „Interpenetrationszonen“ der Teilsysteme.[2] Hier kommt es zu alldem, was soziologisch hinreichend beschrieben wurde als Ökonomisierung, Politisierung oder Popularisierung.

Im ersten großen Kapitel des Buches resümiert Brown „Politik als Beruf“. Politik sei demnach eine Sphäre der Wertentstehung und biete Auswege aus dem nihilistischen Modus. Weber beschreibe die Konturen eines „ideal leaders“, der sich durch Leidenschaft, Verantwortungsgefühl und Augenmaß auszeichne, aber den toxischen Verführungen der Macht widerstehe (S. 34). [3] Insbesondere das normative Leitbild des idealen Berufspolitikers sowie der Begriff des Charismas beinhalteten Potenziale für die Bildung neuer Werte: „Only charismatic power, whose anima is dedication to a cause, and whose allure is its vision, but which may operate apart from religion, has the political potential to move, and to move its followers, through and beyond nihilism“ (S. 29). Charisma, so Wendy Brown, müsse daher insbesondere von den politisch Linken nutzbar gemacht werden, die charismatischen politischen Akteuren bislang vor allem kritisch gegenüber stünden.

Während Brown Webers Ausführungen in „Politik als Beruf“ also durchaus zustimmt, verhält sie sich gegenüber den in „Wissenschaft als Beruf“ geäußerten Thesen erwartbarerweise distanzierter. Weber wendet sich bekanntermaßen gegen eine Wissenschaft, die sich politisch positioniert und die, wie viele seiner Kollegen zu dieser Zeit, versucht, die Studierenden zu beeinflussen. Mit der „Quarantänisierung“ (S. 69) der wissenschaftliche Werte auf der einen sowie politischer Werte auf der anderen Seite, ließe sich die wechselseitige Durchdringung der Wertsphären und damit die Nihilisierung aufhalten, so deutet es Brown. Weber betone jedoch, dass der Wissenschaftsberuf einherginge „with rationalization and disenchantment, with value-slaying and machineries of domination built from calculative rationality“ (S. 83, 84). Brown folgert daraus die schablonenhafte Kritik, Webers Wertfreiheitspostulat und die Methode der Idealtypenbildung kulminierten in mathematischen Modellrechnungen und Experimenten „whose capacity for prediction in narrow domains and short temporalities cannot comprehend our existential crises of collective life – global and local crises of equality, democracy, and human and planetary thriving“ (S. 93). Weber ziehe eine „dark line“ zwischen „facts and values“ (S. 61) und vertreibe damit die Imagination aus der sozialwissenschaftlichen Theoriebildung. Diese sei aber das einzige Mittel, um das Nicht-Beobachtbare in der Welt zu verstehen.

Mit dieser Erkenntnis geht sie nun nicht über das in der kritischen Theorie hinlänglich Bekannte hinaus. Brown zitiert an dieser Stelle Herbert Marcuse und ihren akademischen Lehrer Sheldon Wolin, aber man könnte auch an C. Wright Mills „Sociological Imagination“ denken, der im übrigen Webers „Wissenschaft als Beruf“ ins Englische übersetzt hat. Möglicherweise inspiriert durch die Idee der „Imagination“ formuliert Brown schließlich im letzten Kapitel einige didaktische Empfehlungen für die Sozial- und Geisteswissenschaften. So sollten akademisch Lehrende Studierenden im Sinne Webers die Auseinandersetzung mit Werten nahelegen. Dazu sollten sie Fragen stellen wie „What world do you want to live in?“, „How should or could humans order our common arrangements at this juncture in world history?“ Es sei jedoch essenziell, dass Wissenschaft und Politik getrennte Sphären blieben, wollte man „thoughtful citizenship“ bestärken.

Die engagierte Auseinandersetzung mit den beiden Vorträge Webers ist ein Verdienst des Buches, der für eine interessierte Öffentlichkeit durchaus von Interesse sein kann. Browns Beschreibung der Weber’schen Ausführungen ist detailreich, ihr Stil blumig bis metaphorisch, was für die soziologisch nicht ausgebildete Leserin hilfreich sein mag. Einen Beitrag zu wissenschaftlichen Debatten im Sinne Webers Begriff des wissenschaftlichen „Fortschritts“ bietet das Buch allerdings nicht. Seit Webers Berufsreden ist in der Soziologie bekanntlich einiges passiert, was von Wendy Brown ignoriert wird. Dies sei anhand zweier Beispiele verdeutlicht:

Die politische Soziologie sowie die Religionssoziologie haben sich intensiv mit dem Problem des Rückzugs der Religion aus der politischen Sphäre im Prozess der Modernisierung beschäftigt. Eine wesentliche Funktion der Religion bestand immer darin, dass sie die politische Herrschaft mit einer Aura des „Sakralen“ umgab.[4] In den USA wurde diese Funktion zum Beispiel von der sogenannten „Zivilreligion“ übernommen.[5] Mit der zunehmenden Säkularisierung (auch in den USA) müssen neue, möglichst mehrheitsfähige Werte gefunden werden, die große Bevölkerungsteile mobilisieren können. Brown hat also durchaus Recht, wenn sie die Leistungsfähigkeit des Charisma-Begriffs herausstellt. Indem sie ihn allerdings normativ wendet, verschenkt sie sein analytisches Potenzial.

Zweitens hat sich die Wissenschaftssoziologie nach Max Weber mit der von Brown herausgearbeiteten Problematik, dass die Rationalisierung der Wissenschaft ihr ihren Sinn entzieht, beschäftigt. Aus differenzierungstheoretischer Sicht ist die „curiositas“ das sinnstiftende Element, dass das Handeln in der Wissenschaftssphäre anleitet. Merton spricht von den Normen des Wissenschaftssystems, Bourdieu von der Entstehung eines autonomen Pols der Wissenschaft im Gegensatz zur Heteronomie der Felder. Mit der konstruktivistischen Wende entstanden die Science and Technology Studies, die die „black box“ der Wissenschaft öffneten und wissenschaftliches Handeln als soziales Handeln untersuchten.[6] Auf keine dieser Diskussionen geht Brown ein, so dass unklar bleibt, zu welchem Diskurs sie eigentlich einen Beitrag leisten will.

Wenn Browns Buch nun keinen Beitrag zur wissenschaftlichen Diskussion leistet – wissenschaftlich nicht „rein“, sondern populär für ein nicht-wissenschaftliches Publikum geschrieben ist – handelt es sich dann selbst um einen nihilistischen Beitrag? Diese Frage zeigt, dass sich Brown in ihr eigenes Argument verstrickt hat. Wissenschaftliche Beiträge, die keiner disziplinären Logik folgen und die die Grenzen zwischen verschiedenen Genres überschreiten, sind auch für Weber keine sinnlose Wissensproduktion. Sie gehören nur nicht unbedingt in den Hörsaal, wo Kritik vonseiten der von den Lehrenden abhängigen Studierenden kaum möglich ist.

Ohnehin ist die Frage, ob es eine Pluralisierung von Werten und Wertordnungen zu ihrer Relativierung führt oder ob die Entstehung von Werten und die Verstärkung von Bindungen auch im Kontext ihrer Pluralisierung möglich ist, im Grunde schon lange beantwortet. An dem (konservativen!) Argument des Sinnverlusts durch Säkularisierung hält in der religionssoziologischen Diskussion eigentlich niemand mehr fest. Auch hat Weber nie behauptet, dass Verwissenschaftlichung zwangsläufig sinnentleerend für die gesamte Gesellschaft wirke. Vielmehr zeigt insbesondere die differenzierungstheoretische Rezeption von Webers „Zwischenbetrachtungen“, dass die Entstehung starker Bindungen – an die Wissenschaft, die Kunst oder soziale Bewegungen – erst in der Moderne möglich wird. Zugleich entstehen Bereiche des Populären zwischen den Sphären,[7] die durch Amateure bespielt werden. Pluralismus (oder Nihilismus) in der Moderne ist ein wünschenswerter Zustand, den es gegen totalitäre Tendenzen zu erhalten gilt.[8]

Dem Publikum bleibt insofern nur zu empfehlen, Max Webers Texte lieber selbst zu lesen, als sich auf Browns Rezeption zu verlassen. Die Leser*innen sollten selbst überprüfen, ob sie sich Browns klischeehafter Überzeichnung Webers als altem, konservativen „dark thinker“ und „Komplizen der Moderne“ anschließen oder ob sie Webers Konzepte als analytisches Werkzeug kennen lernen wollen, das als Grundlage für kritisches Denken dienen kann.

  1. Dirk Kaesler, Max Weber. Schriften 1894–1922., Stuttgart 2002, S. 759
  2. Richard Münch, Dialektik der Kommunikationsgesellschaft, Frankfurt am Main 1991.
  3. Max Weber, Politik als Beruf [1926], Berlin 2010, S. 49.
  4. Vgl. Thomas Kern / Insa Pruisken, Das Verhältnis der Politischen Soziologie zur Religionsanalyse, in: Martin Endreß / Benjamin Rampp (Hg.), Politische Soziologie. Handbuch für Wissenschaft und Studium, Baden-Baden, im Erscheinen.
  5. Robert N. Bellah, Civil Religion in America, in: Daedalus 96 (1967), 1, S. 1–21.
  6. Peter Hofmann / Stefan Hirschauer, Die konstruktivistische Wende, in: Sabine Maasen / Mario Kaiser / Martin Reinhart / Barbara Sutter (Hg.), Handbuch Wissenschaftssoziologie, Wiesbaden 2012, S. 85–100.
  7. Hubert Knoblauch, Populäre Religion. Auf dem Weg in eine spirituelle Gesellschaft, Frankfurt am Main 2009.
  8. Thomas Banchoff (Hg.), Democracy and the new religious pluralism, New York 2007.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Hannah Schmidt-Ott.

Kategorien: Kapitalismus / Postkapitalismus Moderne / Postmoderne Politik Religion Wissenschaft

Insa Pruisken

Dr. Insa Pruisken ist Soziologin und Akademische Rätin auf Zeit in der Arbeitsgruppe „Soziologische Theorie“ an der Universität Bremen. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Religions-, Wissenschafts- und Organisationssoziologie sowie in der Soziologischen Theorie.

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