Max Beck | Rezension | 14.04.2022
Die Erfahrung des Exils
Rezension zu „Der Emigrant“ von Günther Anders
Im Juli 1962 erschien im Merkur ein Essay, der einen zentralen Aspekt der damals im postnazistischen Deutschland kollektiv verdrängten Vergangenheit in den Blick nahm: die Erfahrung der (intellektuellen) Emigration. Der Autor des Essays, der Philosoph und Schriftsteller Günther Anders, umkreist darin auf Basis seiner eigenen Exilerfahrung die Brüche und Erschütterungen, die mit der erzwungenen Migration einhergehen. Bei C. H. Beck wurde der kurze Text nun als Monografie neu aufgelegt und mit einem Nachwort des Herausgebers Florian Grosser versehen.
Anders, der von den Nationalsozialisten als Jude verfolgt wurde, war bereits kurz nach dem Reichstagsbrand 1933 nach Paris geflohen, bevor er 1936 schließlich in die USA emigrierte, wo er die folgenden vierzehn Jahre blieb. Im Exil lebte er unter prekären Bedingungen, teils infolge unfreiwilliger ökonomischer Not, teils aber auch infolge einer bewussten Positionierung als antiakademischer Außenseiter. In Kalifornien verkehrte Anders zwischenzeitlich in den Kreisen um Bertolt Brecht, Theodor W. Adorno und Thomas Mann. Die meiste Zeit schlug er sich mit diversen Gelegenheitsjobs und Hilfsgeldern durch. Wie viele andere Emigranten arbeitete er zeitweise in New York für das US Office of War Information und kurzzeitig auch im akademischen Betrieb, als Lecturer an der New School for Social Research.
Anders, der in späteren Jahren wiederholt betonte, in Amerika „für das Deutschland nach Hitler“[1] geschrieben zu haben, publizierte während der Exilzeit kaum. Der Emigrant wurde erst aus der distanzierten Perspektive des Rückblicks verfasst. 1950 war Anders, der sich in den USA nie wirklich heimisch gefühlt hatte, wieder nach Europa zurückgekehrt, wo er fortan in Wien lebte. Seinen Durchbruch als Philosoph erlebte er mit dem 1956 veröffentlichten ersten Band seines technikkritischen Hauptwerks Die Antiquiertheit des Menschen, das ihn innerhalb kurzer Zeit einem breiteren Publikum bekannt machte.
Der vorliegende Essay gliedert sich in fünf Abschnitte, die um verschiedene Aspekte des Emigrantendaseins kreisen, vom Verlust der biografischen Einheit über die erfahrene Bedeutungslosigkeit im Exil bis hin zum Problem des erzwungenen Sprachwechsels. Anders wendet sich in dem Essay an ein fiktives „Du“. Diese für einen philosophischen Text eher unübliche Form der Darstellung ist für Anders’ Schriften keineswegs untypisch; die meisten seiner philosophischen Texte entsprechen nicht den klassischen akademischen Formaten des Aufsatzes oder der Abhandlung, sondern sind als sokratische Dialoge, Tagebuchnotizen, Essays oder Aphorismen angelegt. Hin und wieder werden diese Formen auch vermischt, sodass sich außergewöhnlich lebendige Textkonstellationen ergeben, welche die Leser:innen direkt ansprechen sollen. Diese Formenvielfalt ist Ausdruck des Anders’schen Konzepts der „Gelegenheitsphilosophie“, die ausgehend von der eigenen lebensweltlichen Erfahrung überindividuelle Gültigkeit für ihre Aussagen und Schlussfolgerungen beansprucht – und damit die um private Anteile gereinigte eigene Erfahrung als Seismograf der gesellschaftlichen Verhältnisse versteht.
Das fiktive „Du“ fordert von Anders eine Auskunft über seine Vita, die zu geben dieser sich außerstande sieht. Unter dem Titel „Vitae, nicht vita“ (S. 9) thematisiert Anders im ersten Abschnitt das Fehlen von Einheit und Identität in einem von erzwungenen Brüchen und Ortswechseln sowie einer zerstückelten Erfahrung gekennzeichneten Leben. „In gewissem Sinne mag zwar auch der Lebenslauf des Schmetterlings, der als Raupe begonnen hatte, als Puppe überwintert hat und nun hier herumflattert, einer sein; im gleichen Sinne wie der des Hundes nicht.“ (S. 10) Der Emigrant hat demnach kein Leben, das sich vor einem Hintergrund abspielt oder in einer Existenzweise vollzieht, sondern notgedrungen viele Leben, die sich nicht mehr zu einer Einheit fügen lassen. „Um den Singular ‚das Leben‘ sind wir, von der Weltgeschichte Gejagte, betrogen worden.“ (S. 9)
Der Preis für die Flucht in ein sicheres Land bestand für zahlreiche Intellektuelle in einem weitgehenden und in der Regel schmerzlichen Bedeutungsverlust im Exil. „[M]an denkt an mich, also bin ich“ (S. 18). Diese an René Descartes’ Diktum „cogito, ergo sum“ angelehnte Formel ist für Anders der „verlorene[n] Seinsbeweis“ (ebd.), dessen Selbstzweifel zerstreuende Wirkung sich in der Vergessenheit des Exils nicht mehr einstellen will. Die Erfahrung der völligen Bedeutungslosigkeit führte manche Exilant:innen in den Selbstmord; andere spornte sie dazu an, sich die Fremde möglichst rasch anzueignen, durch Assimilation also möglichst schnell zu Einheimischen zu werden. Für Anders kommt eine solche Haltung jedoch nicht infrage, da er das mit der Existenz in der Emigration verbundene „Siegel des Provisorischen“ erhalten wissen will, um selbiges auch dem „drüben wütenden Terrorregime“ aufzudrücken (S. 29). Der Grenzen dieser Haltung, die er „geradezu als magisch“ bezeichnet, ist sich Anders nur zu gut bewusst, gesteht er doch selbstkritisch zu, dass sie letztlich im „Selbstbetrug“ enden müsse (ebd.).
Auch der Wechsel der Sprache stellte viele Emigrant:innen vor fundamentale Probleme. Englisch und Französisch waren damals keineswegs allgemein geläufige Sprachen. Auch wenn sie sich vergleichsweise einfach erlernen ließen, waren die Möglichkeiten des Ausdrucks in der fremden Sprache gerade für Menschen, denen das Schreiben Beruf und Aufgabe war, notwendigerweise sehr viel beschränkter als in der Eigensprache. „Im Augenblick, da wir gerettet im Exil ankamen, waren wir bereits in die neue Gefahr hineingeraten, in die Gefahr, auf ein niederes Niveau des Sprechens abzusinken und Stammler zu werden.“ (S. 44) Und diese Gefahr wirkte sich Anders zufolge selbst auf die Artikulationsfähigkeit in der Eigensprache aus, die mit jedem Jahr im Exil weiter verkümmerte.
Anders publizierte seine Überlegungen zum Schicksal der Emigrant:innen zu einer Zeit, in der die Verdrängung des Nationalsozialismus und insbesondere des Holocausts in der deutschen und österreichischen Nachkriegsgesellschaft allgegenwärtig waren. Mit dem Eichmann-Prozess 1961 in Jerusalem begann zwar langsam eine öffentliche Auseinandersetzung mit den Gräueltaten der Nationalsozialisten. Doch einschneidende Ereignisse wie die 1963 beginnenden Auschwitzprozesse, die Ausstrahlung der Fernsehserie Holocaust – Die Geschichte der Familie Weiss im Jahr 1979, der Historikerstreit der Jahre 1986/87 oder die beiden 1995 respektive 2001 eröffneten Wehrmachtsausstellungen, die allesamt breite öffentliche Debatten über die nationalsozialistische Vergangenheit nach sich zogen, lagen damals noch in der Zukunft. Auch die Exilforschung steckte Anfang der 1960er-Jahre noch in den Kinderschuhen, das Schicksal der Emigrant:innen war noch wenig erforscht.
Und heute? Auch wenn Herausgeber Florian Grosser in seinem Nachwort ausdrücklich betont, dass eine bruchlose Übertragung der von Anders beschriebenen Erfahrungen auf heutige Zeiten nicht möglich sei, ist die Edition doch spürbar von dem Anspruch getragen, dem Text eine über den historischen Entstehungskontext hinausreichende Aktualität zuzusprechen. Dafür steht nicht zuletzt die Entscheidung des Verlages, einen bereits seit fünf Jahrzehnten in publizierter Form zugänglichen Text als Monografie neu aufzulegen. In der Verlagsankündigung heißt es dazu folgerichtig, dass der Text „das politische und gesellschaftliche Reizthema unserer Zeit“ behandle, während ein Zitat von Armin Nassehi auf dem Klappentext dem Essay im gleichen Tonfall unbedingte Gegenwartsnähe bescheinigt: „Aktueller geht es kaum.“
Auch das Nachwort des Herausgebers dreht sich um die angebliche Aktualität von Anders’ Essay und dessen Einordnung in eine aktuelle „Philosophie der Migration“ (S. 56). Obschon Grosser es nicht versäumt, den zeitlichen Abstand und die Unterschiedlichkeit der historischen Kontexte zu betonen, hält er doch an der These fest, dass der Text „gerade für unsere Zeit hochrelevant“ (S. 57) sei. Selbstredend spricht nichts gegen die Erörterung der Frage, in welchem Sinn Anders’ Ausführungen auch in der heutigen Zeit, in der Fluchtbewegungen (wieder) allgegenwärtig sind, Gültigkeit beanspruchen dürfen. Bedauernswert ist jedoch, dass Grosser den historischen Kontext des Textes zugunsten der beschworenen Aktualität vernachlässigt.
Die naheliegende Frage, wie sich der Text zu anderen Selbstzeugnissen emigrierter Philosoph:innen und Schriftsteller:innen der damaligen Zeit verhält, wird ebenso ausgespart wie die Verortung seines Autors im Milieu der exilierten Intellektuellen. Durch die Konzentration auf die Gegenwart geht beispielsweise verloren, dass die Erfahrung des Exils zur Zeit des Nationalsozialismus keineswegs alle emigrierten Philosoph:innen „sprachlos, einsam und unsichtbar“ machte, wie es der Klappentext pauschalisierend behauptet. Tatsächlich fielen die Reaktionen der Betroffenen höchst unterschiedlich aus, weshalb sie sich nur schwer verallgemeinern lassen. Der dem Wiener Kreis zugehörige Philosoph Edgar Zilsel etwa beging im US-amerikanischen Exil Selbstmord, während andere Mitglieder der Gruppe wie Rudolf Carnap in den Vereinigten Staaten Karriere machten und auch nach Kriegsende nicht mehr nach Europa zurückkehrten. In diesem Punkt hätte man sich gewünscht, dass die Verantwortlichen der Neuausgabe dem historischen Material stärker vertraut und der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit mehr Raum gegeben hätten. Denn auch ohne die Aktualitätsbezüge ist Anders’ Schrift nach wie vor lesenswert – als Essay über die Erfahrung derjenigen, denen die Flucht vor dem mörderischen Antisemitismus der Nationalsozialisten gelang und deren Schicksale zu lange aus dem kollektiven Gedächtnis verdrängt wurden.
Fußnoten
- Wenn ich verzweifelt bin, was geht’s mich an? Interview mit Matthias Greffrath, in: Günther Anders antwortet. Interviews & Erklärungen, hrsg. von Elke Schubert, Berlin 1987, S.19–53, hier S. 37.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Karsten Malowitz.
Kategorien: Erinnerung Geschichte Gesellschaft Migration / Flucht / Integration Philosophie
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