Frithjof Nungesser | Rezension | 06.11.2018
Die Folter und wir
Gewaltsoziologische Anmerkungen zu einem neuen Sammelband über Folter

Albie Sachs weiß, wovon er spricht. Als ANC-Aktivist war er selbst wiederholt Folteropfer in den Gefängnissen des Apartheidsregimes, als Anwalt vertrat er Folteropfer, als Widerstandskämpfer war er mit der Frage der Legitimität von Folter als Kampfinstrument konfrontiert, und nach dem Ende der „Rassentrennung“ hatte er als Richter am südafrikanischen Verfassungsgericht darüber zu befinden, welche Ansprüche frühere Folteropfer geltend machen können und wie die Aufarbeitung der Foltervergangenheit gelingen kann (vor allem im Rahmen der „Wahrheits- und Versöhnungskommission“). Den Sammelband Confronting Torture mit einem Beitrag von Albie Sachs zu eröffnen, liegt daher nahe. Sachs’ Text „Tales of Terrorism and Torture: The Soft Vengeance of Justice“ (S. 21–39) berührt aus einer stark autobiografischen Perspektive eine Vielzahl von Aspekten, die auch in den anderen Beiträgen verhandelt werden: die subjektive Erfahrung der Folter, ihre historische und institutionelle Einbettung, die mit ihr verbundenen juristischen Herausforderungen und schließlich die Frage, ob über die ethische Rechtfertigbarkeit von Folter überhaupt diskutiert werden kann und soll. Immer wieder betont Sachs, dass die Frage nach der Folter unauflösbar mit der Frage nach der kollektiven und persönlichen Identität verknüpft ist: Wer werden wir, wenn wir foltern?
In mehr oder weniger expliziter Form zieht sich diese Frage durch das gesamte Buch – was offensichtlich auch mit seiner Entstehungsgeschichte zusammenhängt. Hervorgegangen ist der von Scott Anderson und Martha Nussbaum herausgegebene Band aus einer Konferenz, die bereits 2008 an der Law School der University of Chicago stattfand. Ein Großteil der Autorinnen und Autoren lehrt an US-amerikanischen Universitäten. Unverkennbar ist entsprechend der spezifische Hintergrund. Kein Text entgeht der Notwendigkeit, sich mit der US-amerikanischen Politik seit „9/11“, dem darauffolgenden „war on terror“ und den zahlreichen damit verbundenen Folterungen zumindest kurz auseinanderzusetzen. Auch in dieser Hinsicht ist Albie Sachsʼ Text interessant, blickt hier doch ein südafrikanischer Autor von außen – und mit einigem Befremden – auf den US-amerikanischen Folterdiskurs.
Selbst wenn die jüngere US-amerikanische Foltergeschichte und ihre Konsequenzen für Politik, Recht und Identität des Landes den unübersehbaren Hintergrund bilden, so gehen sowohl das thematische Spektrum als auch die Relevanz des Bandes weit über den jüngeren rechtlichen und politischen Diskurs in den Vereinigten Staaten hinaus: Die rechtliche Rahmung der Folter im antiken Rom wird ebenso untersucht wie vergeschlechtlichte Folterpraktiken im „war on terror“; die psychischen Folgen und Voraussetzungen von Folter werden genauso in den Blick genommen wie die oft übersehene Vorgeschichte der neuesten US-Foltergeschichte; anhand des „ticking bomb“-Szenarios wird nicht nur die moralische Rechtfertigbarkeit von Folter diskutiert, sondern auch die Frage, ob solche Szenarien überhaupt eine legitime Grundlage ethischer Reflexion bilden; und verschiedene Beiträge gehen neuen Fragen an den Grenzen von Recht, Folter und Ökonomie nach, indem sie die Möglichkeiten gerichtlicher Einschränkungen staatlicher Macht („lawfare“) oder den rechtlichen Status privater Militärunternehmen analysieren.
Die vierzehn Beiträge (plus Einleitung) nehmen das Phänomen Folter demnach aus unterschiedlichen Perspektiven in den Blick. Strukturiert ist der Band in vier große Teile. Auf die Einleitung des Mitherausgebers Scott Anderson und den Beitrag von Albie Sachs folgen Abschnitte zur Psychologie (3 Beiträge), Geschichte (3), Ethik (4) sowie zur Rechtstheorie (3) der Folter. Während diese Struktur dem Untertitel des Bandes entspricht (Essays on the Ethics, Legality, History, and Psychology of Torture Today), schreibt Anderson in seiner Einleitung, dass die Diskussion im Sammelband von „scholars in psychology, history, sociology, law, and philosophy“ (S. 6) geführt wird. Hier deutet sich bereits eine gewisse ‚Semiinklusion‘ der Soziologie an, die für den Band insgesamt charakteristisch ist.[1] Keiner der Texte reduziert die Foltersituation auf eine dyadische Beziehung, wie sie etwa in Spielfilmen wiederholt zu finden ist – als eine Form des Kräftemessens zwischen der zynischen Gewalt des Folterknechts und der heroischen Willenskraft des Opfers. Verstanden wird die Folter vielmehr als „multiparty-activity“ (S. 7), an der neben Opfern und Tätern zumindest auch die Gruppen, denen sie jeweils angehören, sowie verschiedene (para)staatliche Institutionen beteiligt sind. Hinzu kommen in vielen Fällen Opferorganisationen, Medien, medizinische Anlaufstellen und auch die Wissenschaft. Vor diesem Hintergrund spüren viele der Texte den Kontexten, Institutionen, Deutungsmustern und Situationen nach, die Folter befördern oder zu verhindern helfen. Auch wenn sie zum Großteil keine dezidiert soziologische Analyse vornehmen, sind viele der Beiträge dennoch von beträchtlichem soziologischem Interesse – teils auf durchaus überraschende Weise.
Von dieser Konstellation ausgehend stellt die vorliegende Besprechung die Frage, welche Thesen und Argumente in Confronting Torture (gewalt)soziologisch relevant und weiterführend sind. Ziel der folgenden Ausführungen ist demnach nicht die Zusammenfassung und Würdigung aller Beiträge des Sammelbandes. Vielmehr handelt es sich um eine gezielt selektive Lektüre, die insbesondere durch den aktuellen Stand der gewaltsoziologischen Diskussion motiviert ist. Vor dem Hintergrund des identifizierten Grundmotivs des Bandes – ‚Die Folter und wir‘ – sollen im Folgenden jene Aspekte fokussiert werden, die dabei helfen, zu verstehen, wie es möglich ist zu foltern, welche Folgen Folter für uns hat und wie wir heute über den moralischen Status von Folter reden. Dabei lassen sich in dem Sammelband insbesondere instruktive Ausführungen zu folgenden Unterfragen finden: Welche sozialen Unterscheidungspraktiken sind mit Folter verbunden (1)? Wie wird das für Folterpraktiken nötige Wissen weitergegeben und wo brechen solche Tradierungen ab (2)? Werden das Gewaltmonopol im Allgemeinen und das Auftreten von Folter im Speziellen durch „lawfare“ und private Militärunternehmen beeinflusst (3)? Was können wir aus psychologischer Forschung und therapeutischer Praxis über das Erleiden und Ausüben von Folter lernen (4)? Was kann soziologisch über die Tatsache gesagt werden, dass die Legitimität von Folter seit einigen Jahren (wieder) öffentlich diskutiert wird (5)? Abschließend wird erörtert, inwiefern eine stärkere Einbindung soziologischer Perspektiven und Einsichten für den Band von Nutzen gewesen wäre (6).
1) Verschiedene Texte im Band zeigen, dass Folterphänomene in einer engen Wechselwirkung mit sozialen Klassifikationen stehen. Nicht nur die Frage „Wer sind wir?“, sondern auch die Frage „Wer gehört nicht zu uns?“ ist vielen Folterpraktiken eingeschrieben. Kathleen M. Colemans Artikel „The Fragility of Evidence: Torture in Ancient Rome“ (S. 105–119) verdeutlicht, dass Folter im antiken römischen Recht nur in Verbindung mit der Institution der Sklaverei zu verstehen ist. Folter wurde regelmäßig und vorwiegend an SklavInnen ausgeübt. Nicht nur wurden SklavInnen häufig physisch anstatt durch Geldstrafen gezüchtigt, da sie als Eigentum klassifiziert wurden und daher selbst kein Eigentum besitzen durften. Darüber hinaus galten sie per se als weniger vertrauenswürdig, weswegen ihre Aussagen durch Folter abgesichert werden mussten. Dieser Logik entsprechend wurden freie BürgerInnen nur dann gefoltert, wenn ihr Charakter als fehlerhaft – gewissermaßen als „sklavisch“ – erachtet wurde. Auch die viel seltenere, im geschichtlichen Verlauf allerdings zunehmende physische Bestrafung freier BürgerInnen war mit solchen klassifikatorischen Grenzziehungen verbunden: Freie, jedoch fremde Individuen (peregrini) oder Ungläubige (lange Zeit vor allem ChristInnen) wurden häufiger Opfer von Folter, während Soldaten ihr in aller Regel nicht unterworfen wurden. In den Folterpraktiken des antiken Roms kam es mithin zu einer Verschränkung von rechtlichen, sozialstrukturellen, politischen, aber auch persönlichkeitspsychologischen Grenzziehungen.[2]
In einem gänzlich anderen Kontext kommt in Christopher H. Einolfs Beitrag die folterbefördernde Wirkung von Klassifikationen zum Vorschein. Sein informativer Aufsatz „US Torture of Prisoners of War in Historical Perspective: The Role of Delegitimization“ (S. 120–145) beginnt mit der Beobachtung, dass die jüngeren Folterungen durch US-Militärs und -Geheimdienste bisher kaum in den weiteren Kontext der US-Militärgeschichte eingebettet wurden. Vergleicht man die wesentlichen Charakteristika der elf maßgeblichen Kriege, an denen die Vereinigten Staaten bis zu den Konflikten im Irak und in Afghanistan direkt[3] teilgenommen haben, mit der Häufigkeit von Folter, so kristallisiert sich laut Einolf ein Muster heraus: Systematisch eingesetzt wurde die Folter in „counterinsurgency conflicts“, in denen sich das Militär mit einem Gegner konfrontiert fand, der keinem – zumindest keinem anerkannten – staatlichen Akteur unterstand und mittels Guerillataktiken und Terroranschlägen operierte. Unter solchen Gegebenheiten, so Einolf, werden die Gefangenen von den SoldatInnen oft als illegitime KämpferInnen wahrgenommen, da sie Strategien anwenden, die den Gesetzen des Krieges zuwiderlaufen: Sie tarnen sich als ZivilistInnen, verstecken Waffen in Wohngebieten, töten ZivilistInnen oder foltern. Eine solche Dynamik der Delegitimierung ist Einolf zufolge ein wesentlicher Faktor, der erklären kann, warum auf US-amerikanischer Seite im Philippinisch-Amerikanischen Krieg und im Vietnamkrieg ebenso gefoltert wurde wie in Afghanistan (ab 2001) und im Irak (ab 2003) – jedoch nicht im Mexikanisch-Amerikanischen Krieg, im Amerikanischen Bürgerkrieg[4], im Zweiten Weltkrieg oder im Ersten Irakkrieg (1991). Der Prozess der Delegitimierung setzt demnach eine militärische Klassifikation in Kraft, die zwischen regulären und irregulären Streitkräften unterscheidet, um dann die irregulären als illegitime Kräfte erscheinen zu lassen, die aus Sicht der SoldatInnen ihre Schutzrechte verlieren. Es ist dieser Vorgang, der laut Einolf das Muster der Folterungen besser zu erklären vermag als alternative Thesen: So seien etwa rassistische Einstellungen, wenn überhaupt, nur als ergänzender Erklärungsfaktor für Folterungen im Krieg relevant. Einsichten wie diese, so fordert Einolf, sollten zu Konsequenzen in Sachen Folterprävention führen – etwa indem die Sicht der SoldatInnen und die bei ihnen ablaufenden Abwertungsdynamiken in der Ausbildung und im Konflikt miteinbezogen werden.
Die Bedeutung solcher hierarchisierenden und exkludierenden Klassifikationen ließe sich auch in anderen Kontexten nachweisen. Im Falle der Folterungen an ANC-WiderstandskämpferInnen etwa fielen polizeiliche, militärische und rassistische Klassifikationen (Terror, irreguläre Konfliktführung, Apartheid) häufig zusammen. Insgesamt regen die angeführten Aufsätze dazu an, sozialkulturelle Unterscheidungen von Menschengruppen sowie rechtliche und militärische Klassifikationen von Gegnern und Konfliktkonstellationen in der gewaltsoziologischen Analyse systematisch zu berücksichtigen. Dadurch könnten einerseits die Motivationen und Rechtfertigungsmuster der aktiv im Konflikt involvierten Personen besser verstanden werden (siehe Punkt 4). Andererseits dienen derartige Abgrenzungen – etwa die zwischen „legalen“ und „illegalen Kombattanten“ – auch zur politischen und rechtlichen Legitimation von Folter oder folterähnlichen Praktiken (dazu mehr unter Punkt 5).
2) Wichtige und teils durchaus überraschende Einsichten liefert der Sammelband in die Quellen und die (Nicht-)Tradierung von Folterpraktiken und -wissen. Eine instruktive Analyse zur Genese von Folterwissen findet sich in Mary Ann Caseʼ Beitrag „Gender Performance Requirements of the US Military in the War on Islamic Terrorism“ (S. 87–102). Case analysiert die Bedeutung von vergeschlechtlichten Praktiken im Rahmen der Folter- und Missbrauchsfälle im irakischen Gefängnis von Abu Ghraib. Wie die Fotos dokumentieren, die den Abu Ghraib-Skandal ausgelöst haben, wurden die männlichen muslimischen Insassen sowohl durch sexualisierende als auch durch feminisierende Handlungen gedemütigt – etwa indem sie erniedrigende sexuelle Stellungen nachahmen oder weibliche Unterwäsche tragen mussten. Während häufig unterstellt wurde, in diesen Praktiken komme eine Art von proto-ethnologischem Wissen über arabische Männer und den Islam zum Ausdruck, vertritt Case eine alternative These. Detailliert zeigt sie auf, dass die im Abu Ghraib-Gefängnis durchgeführten Missbrauchshandlungen markante Ähnlichkeiten zu den erniedrigenden Initiationsriten aufweisen, die Soldaten – und auch Soldatinnen – in den US-amerikanischen Militärakademien über sich ergehen lassen müssen. Die SoldatInnen schöpften bei ihren Missbrauchspraktiken demnach aus der eigenen Erfahrung. Die Plausibilität dieser Deutung wird durch Aussagen der involvierten SoldatInnen bestätigt, die in den anschließenden Militärprozessen ihr Handeln wiederholt durch die Behauptung relativieren wollten, sie seien für Praktiken angeklagt worden, die sie selbst im Rahmen ihrer Militärausbildung hatten durchstehen müssen. Auch wenn konservative Stimmen derartige Behauptungen gelegentlich in verharmlosender Absicht übernommen haben, will Case mit ihrem Beitrag die Vorfälle von Abu Ghraib keineswegs herunterspielen. Vielmehr ist es ihre Absicht, vergeschlechtlichte Initiationspraktiken beim Militär (oder auch bei Studentenverbindungen) zu problematisieren. Derartige Initiationsrituale, so ihr Argument, trügen zu einer nachhaltigen Verstärkung von sexistischen Einstellungs- und Handlungsmustern bei. Caseʼ Interpretation sensibilisiert mithin sowohl für die Bedeutung vergeschlechtlichter Folterpraktiken als auch für die zentrale Rolle von Leidenserfahrungen bei der aktiven Ausübung von Folter – ein Muster, das auch aus anderen Folterkontexten bekannt ist.[5] Freilich sollte Caseʼ Argument nicht zu einer einseitigen Betrachtung verleiten: Verschiedene Missbrauchs- und Folterpraktiken, die aus Abu Ghraib (oder auch aus Guantanamo) bekannt sind, – wie das Abrasieren der Bärte oder Schändungen des Korans – sind Angriffe, die sich nicht aus selbst durchlebten Initiationsriten speisen. Plausibel erscheint demnach, dass sich bei den exzessiven Gewaltpraktiken gewisse Leidenserfahrungen der SoldatInnen mit spezifischen Annahmen über ihre jeweiligen Opfer vermischen.
Ein im Rückblick überraschender Fall der Nichttradierung von Folterwissen findet sich im Aufsatz „Police Interrogation and Coercion in Domestic American History: Lessons for the War on Terror“ von Richard A. Leo und K. Alexa Koenig (S. 146–174). Ähnlich wie Einolf betrachten die Autoren die Folterungen innerhalb des „war on terror“ vor dem Hintergrund der US-amerikanischen Geschichte – allerdings nicht im Kontext der Militär-, sondern der Polizeigeschichte. Für gewöhnlich, so Leo und Koenig, würde in der amerikanischen Diskussion vollständig ausgeblendet, dass das Land eine jahrzehntelange Foltergeschichte im Polizeiwesen habe. Trotz teils schwieriger Quellenlage ließe sich spätestens ab den 1870er-Jahren der regelmäßige Rückgriff auf Folterpraktiken im Zuge von Polizeiverhören nachweisen. Diese als „third degree“ bekannte Nutzung der Folter erlebte ihren Höhepunkt in den 1910er- und insbesondere 1920er-Jahren, bevor sie ab den frühen 1930er-Jahren nachhaltig in die Kritik geriet. Befördert wurde ihre Abschaffung zum einen durch sozialreformerische Kräfte, zum anderen durch Professionalisierungsprozesse innerhalb der Polizei (vorangetrieben etwa durch J. Edgar Hoover). Leo und Koenig verdeutlichen die starken Parallelen zwischen den Folterpraktiken und der Organisationsweise des „third degree“ und den „verschärften Verhörmethoden“ im „war on terror“. Trotz dieser Übereinstimmungen scheint es aber keine historische Verbindung zwischen diesen beiden Episoden US-amerikanischer Foltergeschichte zu geben. Der „third degree“, so die AutorInnen, sei in einem Maße in Vergessenheit geraten, dass sich selbst das Militär und die Geheimdienste dieses Wissens nicht mehr zu bedienen wussten. Vielmehr entwickelten sie ihre zentralen Foltertechniken mittels der systematischen Umkehrung des erst später entwickelten militärischen SERE-Ausbildungsprogramms, das es gefangenen US-SoldatInnen ermöglichen sollte, etwaigen Folterhandlungen zu widerstehen.[6]
3) Das Gewaltmonopol ist seit Jean Bodin und Thomas Hobbes nicht nur ein zentraler Anker der politischen Theorie, sondern auch ein für die Gewaltforschung wesentliches Konzept. Dass die Monopolisierung der Gewaltmittel durch den Staat nachhaltige Wirkungen auf die Gewaltprävalenz hat und zugleich neue Formen der Gewalt ermöglicht, dürfte – trotz aller Differenzen in der Literatur – relativ unbestritten sein. Zwei sehr unterschiedliche Herausforderungen des Gewaltmonopols und ihre Implikationen für die Folter analysieren die letzten beiden Beiträge des Bandes. Lisa Hajjars hochinformativer Beitrag „In Defense of Lawfare: The Value of Litigation in Challenging Torture“ (S. 294–319) liefert eine Analyse des Phänomens der „lawfare“ und eine Kritik seiner bisherigen Deutung. Mit dem Begriff „lawfare“ – einem Kofferwort aus „law“ und „warfare“ – werden Versuche bezeichnet, Staaten auf gerichtlichem Wege in ihren militärischen Möglichkeiten einzuschränken beziehungsweise für bereits durchgeführte Handlungen zur Verantwortung zu ziehen. Der im Jahr 2001 vom US-Oberst Charles J. Dunlap Jr. geprägte Begriff machte zunächst in konservativen und militärischen Kreisen Karriere, die solche juristischen Interventionen als Angriff auf die Souveränität des Staates und illegitime Beschränkung seiner militärischen Handlungsmacht kritisierten.[7] Geäußert wurden auch demokratietheoretische Einwände, da Gerichte nicht den Willen der Bevölkerung repräsentierten. Hajjar hingegen verteidigt die Aktivitäten der „lawriors“, also die Bemühungen zahlreicher AnwältInnen, etwa den Guantanamo-Häftlingen zumindest einige Grundrechte wieder zukommen zu lassen. Obwohl die „lawriors“ in einer Unzahl von Gerichtsprozessen schlussendlich nur vereinzelte Verbesserungen erreichen konnten, betrachtet Hajjar „lawfare“ als eine der wenigen Strategien, die Rechtsbrüche und den Machtmissbrauch von Politik und Militär zu bekämpfen. Auf politischem Wege ist eine solche Bekämpfung aus ihrer Sicht hingegen gescheitert: Die Obama-Administration änderte entgegen ihrer anfänglichen Versprechungen wenig an der vorangehenden Politik und die Bevölkerung verharrte trotz zahlreicher Folterenthüllungen in Apathie.
Garrett Ordower geht in seinem Aufsatz „Tortured Prosecutions: Holding Private Military Contractors Accountable“ (S. 320–344) einer ganz anderen Herausforderung des staatlichen Gewaltmonopols nach. Er beleuchtet die Möglichkeiten, das Verhalten von privaten Militärunternehmen (private military companies; PMCs) rechtlich zu regulieren. Die Relevanz dieser Fragestellung eröffnet sich, wenn man bedenkt, dass etwa im Irak und in Afghanistan die Anzahl der von den USA beauftragten privaten Einsatzkräfte diejenige der SoldatInnen zeitweise überstieg (im März 2011 etwa 154.000 gegenüber 146.000). Auch mehrere Personen, die maßgeblich an den Missbrauchsfällen in Abu Ghraib beteiligt waren, waren Angestellte von PMCs. Ordower weist nach, dass bisher kaum versucht wurde, PMC-Angestellte für eventuelle Rechtsbrüche in Kampfgebieten zur Verantwortung zu ziehen. Detailliert belegt er, dass die zivile und militärische US-Gesetzgebung nicht mit den massiven strukturellen Veränderungen der Streitkräfte Schritt gehalten hat. Durch diese Unfähigkeit (beziehungsweise die mangelnde Bereitschaft), die gesetzlichen Rahmenbedingungen zu reformieren, so die Schlussfolgerung, gerieten elementare Grundprinzipien der Kriegsführung und der staatlichen Souveränität ins Wanken. Faktisch würden sich substantielle Teile der Kampfkräfte einer Kontrolle durch den Staat entziehen, für den sie kämpfen und der ihre Einsätze befiehlt.
Derartige Erkenntnisse sind für die Gewaltforschung in mehrfacher Hinsicht interessant: Nicht nur stellt sich die Frage, inwieweit hieraus Einschränkungen des staatlichen Gewaltmonopols resultieren und welche Folgen diese haben könnten. Interessant könnte die Auseinandersetzung mit PMCs darüber hinaus für organisations- und wirtschaftssoziologische Problemstellungen in der Gewaltforschung sein. Der Einsatz von Söldnern und die Auslagerung vormals staatlicher militärischer Leistungen in den privatwirtschaftlichen Bereich wirft eine ganze Reihe verschiedener Fragen auf: Wie ändert sich das Verhalten von Organisationen, wenn sie gewinnorientiert sind und die ausgeübten Gewalthandlungen zu bezahlende Dienstleistungen darstellen? Wie wirkt sich dieser Umstand auf das Handeln der Organisationsmitglieder aus? Entstehen damit neue Typen von „Gewaltmärkten“?[8]
4) In ihrem Aufsatz „The Many Faces of Torture: A Psychological Perspective“ fassen William Gorman und Sandra G. Zakowski (S. 43–69) zentrale Einsichten aus ihrer psychologischen Beschäftigung mit Folter zusammen, wobei sie beide Seiten der Folter betrachten. Im Hinblick auf die Folternden fragen die AutorInnen danach, welche psychologischen Mechanismen Folter ermöglichen. Im Rückgriff auf bekannte sozialpsychologische Ansätze machen sie vor allem drei Zusammenhänge stark: Erstens betonen sie die Bedeutung der „Linse, durch welche die Opfer gesehen werden“ (S. 53). Diese Beobachtung trifft sich mit den beschriebenen Klassifikationspraktiken, die bestimmte Opfergruppen als minderwertig, unmenschlich oder böse erscheinen lassen, wodurch Gewalt an ihnen nicht nur nicht verboten, sondern geboten erscheint. Einen klassischen Anknüpfungspunkt liefert in diesem Zusammenhang Albert Banduras Theorie des „moral disengagement“. Zweitens argumentieren Gorman und Zakowski unter Rückgriff auf Milgram und Zimbardo, dass „normalerweise wohlerzogene Menschen“[9] durch die Wirkung spezifischer situativer Faktoren (Rollen, Regeln und Vorschriften) in kurzer Zeit zur Ausübung drastischer Gewalt bewegt werden können (S. 55). Drittens behaupten sie, dass schon Milgrams Experimente aufgrund der häufigen Gewaltverweigerung der ProbandInnen die Existenz gewaltbefördernder Persönlichkeitsmerkmale (etwa Autoritätshörigkeit) nahelegten.[10]
Wichtiger als die Ausführungen zur folternden Seite scheinen mir jedoch Gormans und Zakowskis Ausführungen zur Opferseite zu sein, die auf der jahrzehntelangen therapeutischen Arbeit der AutorInnen mit Folteropfern – insbesondere mit traumatisierten Flüchtlingen und anderen MigrantInnen – in einer Klinik in Chicago beruhen. Was in diesen Textpassagen erkennbar wird, ist die Vielfalt der Verletzbarkeit der Opfer. Nachdrücklich wird betont, dass der physische Schmerz nicht so sehr Ziel, sondern vielmehr das Mittel ist, um andere Wunden zu schlagen. Ziel von Folter sei das Brechen von „Körper und Geist“ (S. 45), wodurch die Handlungsfähigkeit und Identität, die soziale Verankerung und das Weltvertrauen der Opfer zerstört werden. Auch andere Texte im Band geben Einblick in die Breite des Vulnerabilitätsspektrums, das der Folter zur Verfügung steht: Leo und Koenig etwa verweisen auf vielgestaltige Formen der Deprivation (Sozialkontakt, Schlaf, Orientierung, optische Reize etc., S. 152 f., 159 f.), Caseʼ Studie zum Abu Ghraib-Skandal auf die Bedeutung von Geschlecht als Verletzungsziel (S. 87 ff.).
Auf Grundlage ihrer therapeutischen Arbeit diskutieren Gorman und Zakowski aber nicht nur eine Vielzahl von Verletzungsmöglichkeiten, derer sich die Folter bedient, sondern vor allem die längerfristigen Folgen, die sich aus den Folterpraktiken ergeben. Wie die unmittelbare Folterhandlung gehen auch diese Nachwirkungen weit über die physische Schädigung hinaus: Verhaltens- und Affektstörungen zeigen sich in Form von Drogenmissbrauch, Depressionen oder PTBS; kognitive Folgen sind Gedächtnisstörungen, Scham- und Schuldfixierungen oder psychotischer Realitätsverlust. Immer wieder unterstreichen Gorman und Zakowski sowohl die Ausbreitung der Folterfolgen auf das soziale Umfeld (Zunahme von sozialen Konflikten, Vertrauensverlust, Belastung von Familie und Betreuungspersonen) als auch die kulturspezifisch durchaus variierenden Deutungen und Umgangsweisen mit diesen Leidenserfahrungen. Erst im Lichte solcher Befunde lassen sich schließlich die Probleme und Möglichkeiten der psychischen Aufarbeitung von Foltererfahrungen sowie der sozialen Reintegration von Folteropfern sondieren. Die AutorInnen zeigen, dass nicht nur die Folter selbst zu einem Bruch in den Biografien führt, sondern auch der sich an sie häufig anschließende Wechsel in einen fremden kulturellen Kontext, der in aller Regel mit einem Verlust des vertrauten sozialen Netzwerkes einhergeht. Gerade hierdurch potenzieren sich die durch die Folter ausgelösten Schwierigkeiten: Der Aufbau von Vertrauen in sozialen Interaktionen wird zusätzlich erschwert; Ängste können durch strikte Kontrollverfahren der Behörden reaktiviert werden; sprachliche Hürden und die Fluchtsituation können zu einem zusätzlichen Verlust von Handlungssinn und Selbstwirksamkeit führen. Damit nimmt zugleich die Gefahr der Selbstisolation und -marginalisierung zu. Gorman und Zakowski betonen, dass in dieser Situation die Etablierung der für die Therapiearbeit nötigen Vertrauensbeziehung besonders schwierig und der Therapieprozess entsprechend zeit- und ressourcenintensiv ist. Sie unterstreichen aber auch die oft enorme Resilienz der Betroffenen und deren Fähigkeit, im Falle einer narrativ-biografischen Integration ihrer Erlebnisse eine neue Wertschätzung des eigenen Lebens zu erlangen. Solche Ausführungen sind im Hinblick auf aktuelle Debatten über Gewalt, Folter und Flucht zweifelsohne äußerst relevant. Zugleich belegt der Aufsatz, dass Foltererfahrungen einen tiefen Einblick in die menschliche Verletzbarkeit, die Vielfalt der Leidenserfahrungen und damit in die grundsätzliche soziale Verfasstheit des Menschen ermöglichen – ein Aspekt der in Sozialtheorie und Gewaltsoziologie oft unterbelichtet bleibt, da meist das aktive Ausführen von Gewalt im Zentrum der Analyse steht.[11]
5) Müssen und dürfen wir heute (wieder) über die Legitimität von Folter nachdenken und diskutieren? Die Frage ist insbesondere durch die US-amerikanische Diskussion im Zuge des „Kriegs gegen den Terror“ wieder aktuell geworden. Obgleich es sich um eine letztendlich juristische und ethische Frage handelt, wird in verschiedenen Aufsätzen des Bandes doch sichtbar, dass für eine Stellungnahme zu dem Problem auch soziologische Einsichten relevant sind. Zwei Aspekte stechen dabei heraus.
a) Erstens verdeutlicht der Blick auf jüngere Folterdiskurse die Bedeutung der Rahmung von Konflikten. Denn durch ein spezifisches Framing können bestimmte ethische, rechtliche und politische Deutungen eine andere und neue Plausibilität erlangen. Eng verbunden sind solche Rahmungsprozesse mit den im ersten Abschnitt beschriebenen Klassifikationspraktiken. Bekanntlich war die Differenzierung zwischen „legalen“ und „illegalen Kombattanten“ (in verschiedenen Spielarten) seit 2001 ein zentrales Mittel der Bush-Administration, um Folter im „Krieg gegen den Terror“ zu legitimieren. Es wurde (durchaus erfolgreich) versucht, neben neuen Kategorien von Personen auch neue Klassen von Strafinstitutionen und Verhörpraktiken zu kreieren, die den Gefangenen die kodifizierten Schutzrechte von Kriegsgefangenen vorenthielten, zugleich aber nichts mit Folter zu tun haben sollten.[12] In seinem Aufsatz „Torture as Unjust Means of War: To Squelch the Sirensʼ Singing“ unterzieht Scott A. Anderson (S. 231–254) diese Argumentation einer völkerrechtlichen Kritik. Trotz der Heterogenität der rechtlichen Grundlagen existiert laut Anderson ein breites Spektrum allgemein akzeptierter rechtlicher Normen zur Kriegsführung. Er betont vor allem die Bedeutung des „Prinzips der Unterscheidung“ („principle of discrimination“) aus dem humanitären Völkerrecht, das eine Differenz zwischen militärischen und zivilen Gruppen, aber auch zwischen aktiv im Gefecht involvierten sowie passiven und entwaffneten KämpferInnen etabliert (etwa sich ergebende SoldatInnen oder Kriegsgefangene). Da Folter die Kontrolle über den Körper des Anderen voraussetzt, so Anderson, muss ein potenzielles Folteropfer passiv und außerhalb des Gefechts sein, wodurch ihm die kodifizierten Schutzrechte für Kriegsgefangene zukämen und es vor Folter geschützt sein müsste. Auf Einwände dieser Art reagierte die Bush-Regierung mit der Behauptung, die „illegalen Kombattanten“ seien selbst als Gefangene aktiv involviert, da sie über Informationen verfügten, die für die Vermeidung zukünftiger Verbrechen entscheidend seien. Deutlich ist, dass eine solche Legitimierungsstrategie eine spezifische Charakterisierung der Konfliktsituation zur Voraussetzung hat, die außergewöhnliche Umstände postuliert, um außergewöhnliche Maßnahmen zu rechtfertigen. Laut Anderson macht gerade dieser Versuch der Neudefinition der Konfliktsituation die Strategie der Bush-Administration für vielfältige politische, rechtliche und moralische Einwände verwundbar. Soziologisch fällt zudem auf, dass hier eines jener Narrative zur (Re-)Legitimierung von Gewalt mobilisiert wird, die Jan Philipp Reemtsma für die Moderne namhaft gemacht hat.[13] Folter wird in diesen Fällen nicht nur als eine streng „instrumentelle“ Gewalt charakterisiert, die sich rechtfertigen lasse, weil sie ausschließlich der Strafvereitelung diene. Darüber ist eine Temporalisierung der Gewaltanwendung zu beobachten, soll die instrumentelle Gewalt doch jetzt und im Augenblick gerade deshalb notwendig und also legitim sein, weil zukünftige und weitaus schlimmere Übel abgewendet werden. Auch Leo und Koenig (S. 161 ff.) verweisen darauf, dass sich die Rechtfertigungen der Bush-Administration – im Gegensatz etwa zum „third degree“ der Polizeiverhöre – nicht auf vergangene, sondern auf zukünftige Straftaten beziehen, von deren Auftreten die Sicherheitsbehörden überzeugt sind.
b) Durch die Rechtfertigung der „enhanced interrogation techniques“ als notwendige, durch außergewöhnliche Umstände legitimierte Abwehrhandlungen gegenüber zukünftigen Verbrechen nähert sich die Begründung des Foltereinsatzes einem aus der Moralphilosophie bekannten Gedankenexperiment an, dem sogenannten „ticking bomb“-Szenario. Im Rahmen dieses Gedankenexperiments wird ein Terrorist verhaftet, der zuvor eine Bombe an einem unbekannten Ort platziert hat, von der bekannt ist, dass sie in Kürze explodieren wird. Die Frage lautet dann, ob es in einer solchen Situation gerechtfertigt sei, den Terroristen zu foltern, um eine verheerende Explosion zu verhindern. Weil dieses fiktive Dilemma konkrete politische Diskurse informiert, die den Einsatz von Folter gutheißen, spielt das Szenario in den moralphilosophischen Beiträgen des Bandes eine zentrale Rolle.
Auffallend ist, dass die Reaktionen auf das „Bomben-Szenario“ sehr unterschiedlich ausfallen. Während Albie Sachs jede Diskussion der Legitimität der Folter – zumal im Rahmen von „Kosten und Nutzen“-Kalkulationen – kategorisch ablehnt (S. 21 ff.), lassen sich die genuin moralphilosophischen Beiträge auf das „ticking bomb“-Szenario ein, um es immanent zu kritisieren. Soziologisch sind gerade diese Einwände von Interesse, da sie ganz wesentlich auf empirische Annahmen zur Effektivität und zu den Konsequenzen von Folter Bezug nehmen.
Jeff McMahans Aufsatz „Torture and Method in Moral Philosophy“ (S. 195–218) argumentiert konsequentialistisch, genauer genommen regelutilitaristisch. Er geht weder von einer absoluten pflichtethischen Ablehnung der Folter aus, noch blickt er ausschließlich auf die etwaige Legitimierbarkeit einer isolierten Folterhandlung. Ihn interessiert, ob eine rechtliche Norm, wonach Folter in bestimmten Situationen erlaubt ist, angesichts der daraus folgenden Konsequenzen als moralisch richtig zu bewerten wäre. Er verneint die Frage aus „pragmatischen“ Gründen (S. 205). Denn die empirische Betrachtung zeige, dass tatsächliche Fälle von „Verteidigungs-“ oder „Rettungsfolter“ so gut wie nie aufträten, die geschichtliche Verbreitung von Folter hingegen nahezu universal sei. Aufgrund dieses grundsätzlichen Ungleichgewichts sei ein absolutes rechtliches Verbot der Folter richtig, selbst wenn ihre Anwendung handlungsutilitaristisch in einzelnen Fällen nahezuliegen scheint.
Marcia Baron verstärkt diese Kritik in ihrem Aufsatz „The Ticking Bomb Hypothetical“ (S. 177–194) nochmals deutlich. Anstatt sich auf aus ihrer Sicht ebenfalls schlagende pflichtethische Argumente zu beziehen, lehnt sie das Szenario aufgrund von „empirical facts“ (S. 178) ab. Im Gegensatz zu McMahan erachtet sie das Bomben-Szenario als illegitime Basis ethischen Argumentierens, da es – anders als viele andere Gedankenexperimente – auf fehlerhaften empirischen Annahmen beruht, welche die Argumentation von Grund auf bestimmen. Ließen wir uns auf das Szenario ein, so akzeptierten wir, „that torture works, works very quickly, in some situation is the only thing that will work, and, moreover, that we can know when we are in a situation where torture, and only torture, will prevent a disaster“ (S. 184 f.). Alle diese Annahmen sind aus ihrer Sicht empirisch unzutreffend, weswegen das Szenario nicht zur Legitimierung von Folter taugt. Stattdessen offenbare die Analyse, dass eine methodische Debatte darüber fällig ist, welche Charakteristika angemessene und legitime moralische Szenarien aufweisen müssen.
Andere Texte im Band bekräftigen Barons scharfe Kritik am „ticking-bomb hypothetical“. Bezweifelt wird, dass ein solches Szenario empirisch überhaupt vorkommt und dass Folter tatsächlich verlässliche Aussagen hervorbringt (etwa S. 52 f., 165 ff.) – ein Problem, das auch schon der Folterdiskurs im antiken Rom thematisiert hatte (S. 106, 114 ff.). Verschiedene Texte verweisen zudem darauf, dass sich andere, weniger invasive, Verhörmethoden als deutlich wirksamer erwiesen haben (S. 52 f., 98 f., 244 f.) und dass unter Folter getätigte Falschaussagen gerichtlich nicht verwertbar seien (S. 169). Neben der Kritik an der Ineffektivität von Folter unterstreichen verschiedene AutorInnen auch ihren unkontrollierbaren und gesamtgesellschaftlich dysfunktionalen Charakter. Weder lasse sich Folter in der Praxis auf ihre einmalige Anwendung beschränken, noch seien die Leidenserfahrungen auf das Opfer begrenzt (S. 50 ff., 166 f., 187 f., 293). Folter ist demnach „ansteckend“ (S. 50). Durch Folter ginge das Vertrauen in die Polizei, das Militär, die Politik, das Justizsystem und teils auch in die Wissenschaft[14] verloren (S. 51, 165 ff.). Schlussendlich könne sogar das Ansehen ganzer Länder – im konkreten Fall der Vereinigten Staaten – nachhaltig Schaden nehmen (S. 169). All diese Argumente verdeutlichen, dass sozialwissenschaftliche Einsichten in die Wirksamkeit und die konkreten Konsequenzen von Folter auch für die Beantwortung genuin ethischer Fragen unverzichtbar sein können.[15]
6) In ihrem detaillierten Folterbericht aus dem Jahr 2014 berichtet die Menschenrechtsorganisation Amnesty International von Folter und anderen grausamen Behandlungs- und Strafmethoden in 141 Ländern während der vorangegangenen fünf Jahre.[16] Folter ist weder ein historisches Relikt noch sind demokratische Gesellschaften vor ihr gefeit.[17] Dementsprechend stellt sie einen bedeutenden Gegenstand der Gewaltforschung dar. Zum besseren Verständnis dieses Gegenstands liefert der Band Confronting Torture interessante und qualitativ überzeugende Beiträge. Aus gewaltsoziologischer Sicht bleibt der Band jedoch in spezifischer Weise unbefriedigend. Zwar tritt in den Beiträgen die Relevanz soziologischer Argumente für psychologische, historische, ethische und rechtliche Folteranalysen deutlich hervor, weswegen er auch soziologisch bereichernd ist. Umgekehrt werden die jeweiligen Analysen aber nicht explizit und systematisch mit der (gewalt)soziologischen Debatte verbunden. Drei besonders wichtige Punkte, an denen der Brückenschlag zur Soziologie naheliegend wäre, seien genannt:
a) Gerade in den rechtsphilosophischen und historischen Beiträgen fällt auf, dass sie keine weiter ausgreifende sozial- und kulturhistorische Analyse bieten. Die Frage, wo wir historisch stehen, wie sich die Folterprävalenz, -praktiken und -begründungen im langfristigen Zeitverlauf entwickelt haben, bleibt unbeleuchtet. Einschlägige Perspektiven der historischen Soziologie zu diesem Thema – man denke an Norbert Elias’ Zivilisierungstheorie, Michel Foucaults Genealogie der Strafpraktiken oder Hans Joas’ These einer Sakralisierung der Person – finden keine Erwähnung und bleiben folglich ungenutzt.
b) Ein prominentes, verschiedene Beiträge prägendes Motiv ist die Frage nach der Bedeutung und Funktionsweise von Klassifikationen für die Vorbereitung und Durchführung von Folter. Systematisch untersucht werden die Wechselwirkungen zwischen der Folter und der klassifikatorischen Distanzierung, Abwertung und Entmenschlichung von Opfergruppen hingegen nicht. Gerade diese Wechselwirkungen untersucht die soziologische Gewaltforschung – etwa bei Zygmunt Bauman, Wolfgang Sofsky oder Abram de Swaan – schon seit Längerem.
c) Die Frage, welche Kontextfaktoren und Situationsmerkmale die Ausübung von Folter ermöglichen, wird im Band selten grundsätzlich und auf konzeptueller Ebene geführt. Wo dies geschieht, werden neben den klassifikatorisch grundierten Prozessen des „moral disengagement“ vor allem die bekannten sozialpsychologischen Untersuchungen von Milgram und Zimbardo angeführt. Das ist schon deshalb unbefriedigend, weil diese Ansätze bereits seit geraumer Zeit Gegenstand intensiver methodischer und theoretischer Kritik sind, die freilich in den Beiträgen nicht ausreichend mitreflektiert wird. Darüber hinaus ist bedauerlich, dass keinerlei Versuch unternommen wird, diese Frage im Lichte der seit einigen Jahren intensiv diskutierten situationistischen Gewaltsoziologie – vor allem im Anschluss an Randall Collins – zu betrachten. Überraschen kann dieses Defizit jedoch nicht, ist es doch typisch für den in aller Regel spärlichen Austausch zwischen sozialpsychologischer und soziologischer (Gewalt-)Forschung.
Meine kritischen Anmerkungen sollen keineswegs von einer Lektüre des Sammelbandes Confronting Torture abhalten. Wie die Besprechung hoffentlich deutlich gemacht hat, sind viele der Beiträge – insbesondere die historischen – soziologisch hochrelevant. Die von mir vorgebrachten Einwände sind daher eher als Vorschlag an die soziologische Gewaltforschung zu verstehen, in die skizzierten Richtungen weiterzudenken.
Fußnoten
- Von den im Band enthaltenen Autorinnen und Autoren hat allein Lisa Hajjar eine Professur für Soziologie (an der University of California (Santa Barbara)).
- Methodisch instruktiv ist an Colemans Aufsatz der Hinweis auf die schlechte Quellenlage im Hinblick auf die antiken Texte. Coleman sieht hier allerdings gerade keinen wesentlichen Unterschied zur Behandlung moderner Folterphänomene, wo es häufig ebenfalls an überprüfbaren Dokumenten mangelt (S. 106).
- Wie auch Einolf anmerkt (S. 124, 139 f.), ist die Betonung der direkten Beteiligung wichtig, da die Vereinigten Staaten, vor allem die CIA, bekanntlich in vielfältiger Weise an der Etablierung von Folterinstitutionen und der Ausbildung von Folterern in verschiedenen Ländern beteiligt waren – insbesondere in Lateinamerika (man denke nur an die „School of the Americas“).
- Obwohl auch die Konföderation kein anerkannter Staat war, wurden die tradierten Kriegsnormen laut Einolf (S. 126, 129 ff.) in diesem Krieg im Wesentlichen eingehalten, solange die Streitkräfte uniformiert waren und in organisierten Verbänden kämpften. Irreguläre konföderierte Soldaten wurden hingegen nach Gefangennahme oft hingerichtet und auch UnterstützerInnen unter der Zivilbevölkerung bestraft. Mit dem „Lieber Code“ und der in ihm angelegten Unterscheidung zwischen regulären und irregulären Kombattanten wurde im Jahr 1863 für diese Strafmaßnahmen auch eine rechtliche Grundlage geschaffen. Der Lieber Code beinhaltete bereits ein Folterverbot und beeinflusste später auch die Haager Landkriegsordnung und die Genfer Konvention.
- Vgl. etwa Mika Haritos-Fatouros, Die Ausbildung des Folterers. Trainingsprogramme der Obristendiktatur in Griechenland, in: Jan Philipp Reemtsma (Hg.), Folter. Zur Analyse eines Herrschaftsmittels, Hamburg 1991, S. 73–90.
- Die alternative Erklärung, dass gerade durch den Drang nach Professionalisierung und Verwissenschaftlichung auf die neueren, systematisch erarbeiteten und psychologisch grundierten Programme wie SERE oder KUBARK zurückgegriffen wurde und die älteren Praktiken des „third degree“ schon deshalb keine Option waren, wird von den AutorInnen nicht erörtert.
- Einer der bekanntesten „lawfare“-Kritiker ist John Bolton, der seit April 2018 Nationaler Sicherheitsberater von US-Präsident Donald Trump ist. Charles J. Dunlap Jr. selbst hat seine kritische Position gegenüber „lawfare“ aufgrund der rechtlichen und politischen Veränderungen seit dem 11. September 2001 übrigens deutlich abgeschwächt.
- Vgl. zum aktuellen organisationssoziologischen Interesse an Gewalt Stefan Kühl, Ganz normale Organisationen. Zur Soziologie des Holocaust, Berlin 2014. Zum Konzept der „Gewaltmärkte“ siehe Georg Elwert, Gewaltmärkte. Beobachtungen zur Zweckrationalität der Gewalt, in: Trutz von Trotha (Hg.), Soziologie der Gewalt, Opladen 1997, S. 86–101.
- In Formulierungen wie dieser zeigt sich eine gewisse Verrätselungs- und Pathologisierungstendenz bezüglich der Folter, die nicht nur bei Gorman und Zakowski, sondern etwa auch bei Sachs hervorsticht. In den historischen Beiträgen ist eine solche Tendenz hingegen weit weniger auffällig. Dort scheint die historische Voraussetzungshaftigkeit auch der Ablehnung von Folter genauer erkannt zu werden. Zum Problem der Verrätselung und Pathologisierung von Gewalt siehe etwa Jan Philipp Reemtsma, Vertrauen und Gewalt. Versuch über eine besondere Konstellation der Moderne, Hamburg 2013,vor allem S. 117 ff., 267 f.
- Dass sich innerhalb von Milgrams Untersuchung viele Individuen weigerten, den Anweisungen zu folgen oder gegen sie protestierten, wird meist weniger beachtet. Die soziologische Bedeutung dieser Tatsache hat jüngst Abram de Swaan betont. Vgl. Abram de Swaan, The Killing Compartments: The Mentality of Mass Murder, New Haven 2015, S. 23 ff.
- Vgl. zu dieser These Frithjof Nungesser, Die Vielfalt menschlicher Verletzungsoffenheit«, in: Zeitschrift für Theoretische Soziologie 1 (2019), i. E.
- Die rechtlichen Maßnahmen der verschiedenen Ministerien und Behörden zur Aufweichung des Folterverbots während der Bush-Jahre werden in verschiedenen Aufsätzen im Sammelband erläutert (etwa bei Einolf, S. 138 ff. oder Leo und Koenig, S. 159 ff.). Wichtig ist darüber hinaus, dass die zunächst rechtlichen und militärischen Abgrenzungen zusätzlich durch (quasi-)religiöse Semantiken des „Bösen“ aufgeladen wurden (beispielsweise S. 3, 246).
- Vgl. Reemtsma, Vertrauen und Gewalt, S. 256 ff.
- Nicht nur Teile der US-amerikanischen Rechtswissenschaften haben die Politik der Bush-Administration mitermöglicht. Wie sowohl Gorman und Zakowski als auch Leo und Koenig ausführen, hat auch die US-amerikanische Psychologie – insbesondere die American Psychological Association (APA) – aktiv an der Erarbeitung von Foltermethoden und teils sogar an der Durchführung von Folter mitgewirkt (S. 66 ff., 168). Wie Anderson in der Einleitung festhält, waren und sind PsychologInnen nicht nur „healers“, sondern auch „architects“ der Folter (S. 9).
- Wichtig ist jedoch zu sehen, dass solche empirischen Einwände nicht geeignet sind, über das Resultat der moralischen Diskussion allein zu entscheiden. Es wäre naiv, auszuschließen, dass Folter gelegentlich im Sinne des Bomben-Szenarios funktionieren könnte. Das wohl bekannteste Beispiel dafür ist der „Fall Daschner“. Im Jahr 2002 ließ der damalige stellvertretende Frankfurter Polizeipräsident Wolfgang Daschner dem Entführer Magnus Gäfgen Folter androhen, sollte er nicht den Ort preisgeben, an dem das von ihm entführte Kind gefangen gehalten wurde. Gäfgen gab die Lokalität daraufhin bekannt, allerdings hatte er sein Opfer, den Sohn eines Frankfurter Bankiers, bereits Tage zuvor getötet. Aufgrund dieses Vorgangs kam es Mitte der 2000er-Jahre in Deutschland zu einer Debatte darüber, ob, und wenn ja, in welchen Situationen „Rettungsfolter“ moralisch oder rechtlich legitim sei. Solche Einzelfälle illustrieren, wie wichtig ethische Argumente wie diejenigen McMahans sind. Vgl. zur deutschen Folterdebatte Jörg Kinzig, Rückkehr der Folter? Die juristische Debatte über Folter in Deutschland«, in: Trutz von Trotha / Jakob Rösel (Hg.), On Cruelty. Sur la cruauté. Über Grausamkeit, Köln 2011, S. 401–418 (Der Fall Daschner wird in Confronting Torture an einer Stelle durch David Sussman aufgegriffen (S. 226 ff.)).
- Amnesty International, Torture in 2014. 30 Years of Broken Promises.
- Dazu eindrücklich Darius M. Rejali, Torture and Democracy, Princeton 2007.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Martin Bauer.
Zur PDF-Datei dieses Artikels im Social Science Open Access Repository (SSOAR) der GESIS – Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften gelangen Sie hier.
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