Wilfried Hinsch | Rezension |

Die Friedensstifter

Rezension zu „Kriegerische Tauben. Liberale und linksliberale Interventionisten vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart“ von Jürgen Peter Schmied (Hg.)

Jürgen Peter Schmied (Hg.):
Kriegerische Tauben. Liberale und linksliberale Interventionisten vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart
Deutschland
Göttingen 2019: V&R unipress
S. 206, EUR 40,00
ISBN 978-3-8471-0974-7

Der von Jürgen Peter Schmied herausgegebene Sammelband geht auf einen Workshop an der Universität Bonn zurück. Er versammelt neun geschichtswissenschaftliche Beiträge zum Thema Krieg als Fortführung der Politik mit anderen Mitteln. Im Fokus stehen prominente politische Akteure der vergangenen 300 Jahre, deren Überzeugungen als im weitesten Sinne liberal respektive linksliberal bezeichnet werden können. Sie haben sich an historischen Wendepunkten für militärische Unternehmungen entschieden, obwohl sie – so Schmied in der Einleitung – vom „Optimismus der Aufklärung“ angesteckt waren und demnach glaubten, es könne eine Welt ohne Krieg geben. Entsprechend ist die Leitfrage aller Beiträge, warum jene Politiker offensichtlich davon ausgingen, dass es zur Instandsetzung eines friedlichen Miteinanders der Staaten militärischer Interventionen bedürfe.

Nach den einführenden Überlegungen Dieter Langewiesches zum Verhältnis von Liberalismus, Nationalstaat und Krieg geht es zunächst um zwei Fälle aus dem 19. Jahrhundert: um Thomas Jefferson und seine Expansionspolitik als Präsident der Vereinigten Staaten (Jasper M. Trautsch) und um William Gladstone, der sich als britischer Premierminister für eine militärische Invasion in Ägypten entschied (Wolfgang Egner). Im Anschluss wird Lloyd George besprochen, der Großbritannien 1914 in den Krieg gegen Deutschland und seine Verbündeten führte (Andreas Rose); ihm folgte Woodrow Wilson 1917 als Präsident der Vereinigten Staaten, den der Aufsatz von Manfred Berg behandelt. Im Beitrag von Peter Busch geht es um die Ausweitung des militärischen Engagements der USA in Vietnam während der Präsidentschaft von John F. Kennedy 1961–1963. Aus der jüngeren Vergangenheit erörtert werden die Rechtfertigung der NATO-Intervention im Kosovo durch den deutschen Außenminister Joschka Fischer 1999 (Hans Kundnani), Tony Blairs – damals Premierminister in Großbritannien– Unterstützung der USA im Zweiten Irakkrieg 2003 (Victoria Honeyman) und schließlich der massive Einsatz von Drohnen zur gezielten Tötung mutmaßlicher Terroristen unter Barack Obama 2009–2017 (Thomas Freiberger).

Die kenntnisreichen Beiträge (einschließlich der Einleitung von Schmied) sind lesenswert, informativ und befinden sich auf Höhe der aktuellen geschichtswissenschaftlichen Diskussion. Die Autoren zeichnen für die verhandelte Fragestellung hilfreiche biografische Skizzen ihrer Protagonisten und liefern neben nützlichen Referenzen detaillierte Darstellungen der jeweiligen Konfliktsituationen, in den sie sich als Entscheidungsträger befanden. Insgesamt mangelt es dem Band allerdings an analytischer Klarheit und kritischem Methodenbewusstsein. Auch leuchtet die Auswahl der besprochenen Personen nur zum Teil ein: Zu einem besseren Verständnis der moralisch-politischen Dilemmata militärischer Interventionen trägt etwa der Fall Tony Blair bei aller zeithistorischen Bedeutung wenig bei, während Aufsätze zu Abraham Lincoln im US-amerikanischen Bürgerkrieg und zu F. D. Roosevelt während des Zweiten Weltkriegs zusätzliche Gesichtspunkte ins Spiel hätten bringen können. Darüber hinaus erscheinen mir die Bewertungen einiger Personen (beispielsweise David Lloyd George oder Barack Obama) überzogen, wenn nicht gar falsch, zumindest nicht hinreichend wissenschaftlich abgesichert.

Analytische Schwächen liegen zum einen in der Einordnung der Protagonisten als „linke und linksliberale Interventionisten“, zum anderen herrscht eine systematische Unklarheit in der Fragestellung. Eine methodische Schwäche resultiert aus der mangelnden Aufmerksamkeit für Probleme, die sich bei der Beurteilung der „Prinzipientreue“ von Akteuren ergeben.

Zunächst zur verwendeten Kategorie „linker und linksliberaler Interventionisten“, die weder in der Einleitung noch in einem der Beiträge einigermaßen präzise erläutert wird. Das lädt zu Missverständnissen ein. Bezogen auf den einzelnen Staat – man könnte sagen: innenpolitisch – versteht man unter den Prädikaten „links“ und „linksliberal“ gemeinhin die (verfassungsrechtliche) Garantie persönlicher und politischer Freiheitsrechte und den sozialen Ausgleich und Abbau ökonomischer Ungleichheiten. Auf zwischenstaatlichen Beziehungen lassen sich diese Vorstellungen nicht ohne weiteres übertragen und mit Krieg oder Frieden haben sie begrifflich zunächst einmal gar nichts zu tun. Langewiesche stellt eben das in seinem Beitrag zu Recht heraus, wenn er konstatiert: „Liberale Überzeugungen verpflichten nicht zum Pazifismus.“ Der politische Liberalismus hat im 19. Jahrhundert auf Nationalstaatlichkeit gesetzt und die ist in Europa typischerweise das Ergebnis bis ins 15. Jahrhundert zurückreichender kriegerischer Unternehmungen.

Die Art von Liberalismus, auf den im Titel des vorliegenden Bandes Bezug genommen wird, wenn von linken und linksliberalen Interventionisten die Rede ist, bezeichne ich als außenpolitischen Liberalismus. Seine Entstehung in Folge des Ersten Weltkriegs ist eng verbunden mit dem Namen Woodrow Wilson und dessen 14-Punkteprogramm für eine Weltfriedensordnung. Als Paradigma internationaler Politik und Politiktheorie will der (außenpolitische) Liberalismus die Ursache von Kriegen verstehen und einen Beitrag zum internationalen Frieden leisten. Erreicht und gesichert werden soll ein so verstandener (Welt-)Friede – dies führt Herausgeber Schmied in seiner Einleitung aus – durch menschliche Kooperationsfähigkeit, konkreter: durch eine weltweite Demokratisierung staatlicher Herrschaft und einen intensiven (wirtschaftlichen) Austausch zwischen den Staaten. Dies erscheint intuitiv plausibel, hat sich aber historisch nur bedingt als tragfähig erwiesen. Ein friedliches Mit- und Nebeneinander der Staaten gilt dem außenpolitischen Liberalismus zwar als hohes, womöglich sogar als das höchste Gut, allerdings ist auch er keine dogmatisch pazifistische Lehre, die militärische Interventionen unter allen Umständen verbieten würde. Denn er schließt nicht prinzipiell aus, dass es unter Umständen notwendig werden kann, Kriege als Mittel zur Herstellung oder zum Erhalt ebendieses Friedens zu führen. Die Rede von „linken und linksliberalen Tauben“ weckt in diesem Zusammenhang falsche Assoziationen: Die Bezeichnung passt weder auf die genannten politischen Führungspersonen noch zum Inhalt ihrer politischen und moralischen Überzeugungen. Ein von H. G. Wells aufgebrachter Slogan, der fälschlicherweise oft Woodrow Wilson zugeschrieben wird, bringt dies etwas überspitzt auf den Punkt: „the war that will end war“. Jasper Trautsch illustriert den Gedanken anhand der gewaltvollen Expansionspolitik während Thomas Jeffersons Präsidentschaft, die dieser als Friedenspolitik verstand.

Für ein Unternehmen wie den vorliegenden Sammelband ergibt sich daraus die definitorische Frage danach, was genau man vertreten und wie man handeln beziehungsweise entscheiden muss, um als linke oder linksliberale Taube zu gelten. Wird jemand seinen Grundsätzen untreu und damit zum Opportunisten, weil er sich als Vertreter eines außenpolitischen Liberalismus für eine militärische Beteiligung entscheidet? Dies wirft Andreas Rose in seinem ansonsten instruktiven Beitrag David Lloyd George im Zusammenhang mit dem Kriegseintritt Großbritanniens 1914 vor, denn, so Roses Argument, auch die Gegenspieler des Liberalismus, außenpolitische Realisten wie E. H. Carr, Hans Morgenthau, George Kennan und Henry Kissinger, betrachten Kriege als großes Übel – freilich als eines, das man mitunter in Kauf nehmen muss, um Schlimmeres zu verhindern und langfristig den Frieden zu sichern.

Mit Blick auf die Gegenüberstellung von außenpolitischem Liberalismus und Realismus stellt sich die Frage, ob man die „liberale“ Ambition, eine Welt ohne Kriege zu schaffen, wie Kant als Ausdruck einer „realistischen Utopie“ (Rawls) betrachtet oder als wirklichkeitsfremde Vision. Leider verfolgt der vorliegende Band nicht systematisch, in welchem Maße das Streben nach befriedeten Beziehungen zwischen den Staaten für Jefferson, Gladstone, George, Wilson, Kennedy, Fischer, Blair und Obama handlungsleitend war. Ebenso wenig wird das von Dante, Hobbes, Kant und anderen erkannte Problem erörtert, dass Kriege in einem System souveräner Staaten unvermeidlich sind, solange diese Staaten im Ernstfall keine ihnen übergeordnete richtende Instanz anerkennen. Gleichwohl hielt Kant bekanntlich zumindest ein unter Republiken allgemein geltendes Völkerrecht mit einer für alle verbindlichen Rechtsprechung nicht nur für prinzipiell möglich, er glaubte vielmehr, dass sich die Menschheit zwangsläufig auf dieses Stadium zubewege. Ob er hiermit Recht behält, ist nach wie vor schwer zu sagen. Michael Howards War and the Liberal Conscience (1977) – das Buch wird im besprochenen Band leider nirgendwo berücksichtigt – endet diesbezüglich eher pessimistisch; dies aber nur am Rande.

Das in systematischer Hinsicht zentrale Problem des Buches besteht in Folgendem: Sobald Kriege nicht kategorisch ausgeschlossen werden und darüber hinaus neben Frieden auch andere Werte wie Leben, Freiheit und Gerechtigkeit als hohe Güter gelten, zusammen mit den für sie bestehenden Risiken, lässt die oben bereits aufgeworfene Frage danach, wann jemand seine liberalen, also friedliebenden Überzeugungen aufgibt und damit zum politischen Opportunisten wird, keine eindeutige und ausschließlich prinzipiengeleitete Antwort mehr zu. Es hängt dann von den jeweiligen Umständen ab, unter denen über Krieg und Frieden entschieden werden muss, und davon, welche Faktoren in den Abwägungen zwischen konfligierenden Wertvorstellungen und Grundsätzen berücksichtigt werden.

In einer historischen Untersuchung zur Wertorientierung bei politischen Entscheidungen müssen deshalb zwei Fragen klarer unterschieden werden als dies hier der Fall ist. Die erste ist biografisch-psychologischer Art. Sie betrifft die Standhaftigkeit der politisch-moralischen Grundüberzeugungen von Politikern, die in Situationen, in denen für ihr Land, ihre Partei und für sie persönlich viel auf dem Spiel steht, weitreichende Entscheidungen treffen müssen. Die zweite Frage ist theoretisch-sachlicher Natur und bezieht sich auf die Tragfähigkeit der Werte und Grundsätze, um deren Verwirklichung oder Einhaltung es jeweils geht: Welchen Spielraum haben die Akteure innerhalb ihres Wertekonstrukts, sich so oder anders zu entscheiden? Im vorliegenden Band werden diese beiden Fragestellungen nicht immer klar auseinandergehalten. So wird Lloyd George im bereits erwähnten Beitrag von Andreas Rose als Opportunist charakterisiert, ohne dass hinreichend klar würde, warum sein als „Lavieren“ bezeichnetes Verhalten vor dem Kriegseintritt Großbritanniens 1914 ungerechtfertigt und moralisch anstößig war; die Auskünfte seiner persönlichen Sekretärin helfen in dieser Frage nicht weiter. Ein ähnliches Problem hat der Beitrag von Thomas Freiberger über Obama. Hier sind insbesondere Freibergers Ausführungen bezüglich der Bedrohung, die vom islamistischen Terrorismus für die USA ausgeht, wenig überzeugend: Der Autor kritisiert Obamas War on Terror mit der Begründung, dass Länder in Asien, Afrika und dem Nahen Osten stärker vom Terrorismus bedroht seien als die Vereinigten Staaten. Das ist wohl richtig. Für den gerechtfertigten Einsatz von Gewalt zum Kampf gegen Terrorismus, ist aber – ungeachtet anderer wichtiger Gesichtspunkte moralischer und rechtsethischer Natur – nicht das relative Risiko eines Anschlags im Vergleich zu anderen Ländern entscheidend, sondern die Einschätzung des absoluten Risikos, also die Frage, wie wahrscheinlich ein Anschlag in den USA ist. Abgesehen davon würde die gezielte Tötung terroristischer Führungspersönlichkeiten – sofern sie denn tatsächlich ein erfolgreiches Mittel der Terrorismusbekämpfung wäre (was zu bezweifeln ist) – nicht nur zum Schutz der USA, sondern aller Staaten beitragen. Dessen ungeachtet teile ich jedoch Freibergers Auffassung, dass die gezielten Tötungen mutmaßlicher Terroristen, die unter Obama stattfanden, moralisch und politisch höchst fragwürdig waren und dass sie wahrscheinlich das Gegenteil dessen bewirkten, was angestrebt wurde, nämlich den Terrorismus nachhaltig zu bekämpfen. Außen- und innenpolitische Realisten haben, nicht anders als realistische Liberale, gute Gründe, einer solchen Politik eine klare Absage zu erteilen.

Kriegerische Tauben schließt allzu nahtlos an eine Reihe neuerer historisch ausgerichteter Veröffentlichungen zur Problematik militärischer Intervention an.[1] Vor diesem Hintergrund wäre es unbillig, grundsätzlich neuen Einsichten oder Perspektivwechsel zu erwarten. Der vorliegende Band ergänzt die bereits bestehenden Darstellungen und Analysen durch zahlreiche biografische Hinweise zu seinen Protagonisten und durch detaillierte Beschreibungen der politischen Konstellationen und Situationen, in denen sie über Krieg und Frieden entscheiden mussten.

  1. Brendan Simms / David J.B. Trim (Hg.), Humanitarian Intervention. A History, Cambridge 2011; Davide Rodgno, Against Massacre. Humanitarian Intervention in the Ottoman Empire, 1815–1915, Princeton, NJ 2012; Fabian Klose (Hg.), The Emergence of Humanitarian Intervention. Ideas and Practice from the Nineteenth Century to the Present, Cambridge 2016. Weiter zurück liegend sind Michael Howards, War and the Liberal Conscience, London 1978 und Gary J. Bass, Freedom’s Battle. The Origins of Humanitarian Intervention, New York 2008 zu nennen.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Wibke Liebhart.

Kategorien: Sicherheit Politische Theorie und Ideengeschichte Militär Gewalt

Wilfried Hinsch

Wilfried Hinsch ist Professor für Philosophie an der Universität zu Köln und Mitbegründer des Wissenschaftsforums. Er war von 2006 bis 2012 Mitglied des Wissenschaftsrates und von 2007 bis 2009 Gründungsdirektor des Human Technology Centers der RWTH. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen in der Sozialphilosophie und der Theorie der Moral.

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