Andreas Arndt | Rezension | 28.04.2020
„Die Gegenwart ist alles, was es gibt“
Rezension zu „Prozessuales Denken. Reflexionen über Marx und Weber“ von Andrew Abbott

Das Buch versammelt zwei Vorlesungen die, wie in einer umfänglichen Einleitung (S. 7 ff) dargelegt wird, ein systematisches Problem einkreisen, das sich Abbott im Verlauf seiner soziologischen Forschungen aufgedrängt hat: Wie sind „historizistische“ Betrachtungsweisen, die Kontinuitäten reflektieren, mit „präsentistischen“, Perspektiven zu vereinbaren, die sich auf gegenwärtige Ursachen für Veränderungen konzentrieren? Bei näherer Betrachtung komme es nämlich zu einer Verschiebung zwischen Kontinuität und Varietät: „Allgemeine Gesetze des sozialen Lebens anzunehmen, kann auf kurze Sicht gut funktionieren, ist langfristig aber ein fataler Fehler. Historisch variierende Regeln vorauszusetzen, funktioniert auf lange Sicht, ist kurzfristig aber viel ineffektiver als die Annahme allgemeiner Regeln.“ (S. 13) Das Problem besteht also darin, wie Kontinuität und Diskontinuität, „Historizismus“ und „Präsentismus“ in einer Theorie systematisch miteinander verbunden werden können. Die erste Perspektive, der „Historizismus“, bildet den Ausgangspunkt der ersten Vorlesung („Zwischen Marx und Marshall: Prozessualismus als Theorie der Gegenwart“; S. 33 ff), die andere Perspektive wird in der zweiten Vorlesung entfaltet („Zwischen Wissen und Politik: Überlegungen zu Webers Berufen aus Anlass ihres hundertsten Geburtstags“; S. 73 ff). Der Alternative, die Abbott mit seiner Theorie des Prozessualismus schließlich vorschlägt, liegt die nach seiner Auffassung „offensichtliche und überzeugende Annahme zugrunde, dass die Gegenwart alles ist, was es gibt.“ (S. 92) Diese Annahme ist das Gravitationszentrum aller in dem Buch vorgetragenen Überlegungen, die – so heißt es vorab – „auf einen tieferen Begriff der dichten Gegenwart“ hinauslaufen (S. 26). Letztlich, so Abbott, beruhe dieser Begriff der Gegenwart auf einer „philosophischen Position“ (S. 93), die mit Blick auf den sozialen Prozess am Ende des Buches ausführlich dargelegt werden soll (S. 93 ff).
In der ersten Vorlesung konfrontiert Abbott den „Historizismus“ mit der naturrechtlichen Vertragstheorie und der Ökonomik, „die beide in der Gegenwart statt in der Vergangenheit zu wurzeln scheinen“ (S. 36). Ziel dieser Gegenüberstellung ist es, Stärken und Schwächen der drei Positionen zu bestimmen und so miteinander abzugleichen, dass der „Prozessualismus“ als „Zwischenposition“ begründet werden kann. Dabei zielt Abbott auf nicht weniger als „eine[] neue[] Philosophie der Geschichte“ (ebd.). Der Anspruch könnte kaum höher sein und doch veranlasst er Abbott nicht dazu, sich mit der philosophischen Tradition oder zumindest den explizit behandelten Positionen eingehender auseinanderzusetzen: sie werden „zum besseren Verständnis überzeichnet. Meine eigene prozessuale Position lässt sich zu weiten Teilen auch bei Karl Marx oder Leo Strauss oder Alfred Marshall finden, wenn man weiß, wo man suchen muss.“ (S. 36) Die Charakteristik des „Historizismus“ (S. 37 ff) fällt entsprechend holzschnittartig aus: „Auf den allgemeinen Nenner gebracht behauptet der Historizismus, die Gegenwart sei am besten als Resultat eines langen Prozesses zu verstehen, dessen Gesetze und Regelmäßigkeiten sich durch gründliche Untersuchungen aufdecken ließen.“ (S. 38) Abbott betont, der Historizismus sei maßgebend in Deutschland ausgearbeitet worden und eine Reaktion auf enttäuschte Versprechen der Aufklärung gewesen (ebd.). Damit werden die Verbindungen der Klassischen Deutschen Philosophie zur Geschichtsphilosophie der europäischen, vor allem französischen Aufklärung (die überhaupt nicht angesprochen wird) ignoriert und auch die Mehrdeutigkeit des Begriffs „Historizismus“, der zum Teil ja einen Gegensatz gegen die „großen Erzählungen“ etwa Hegels anzeigen soll, bleibt unreflektiert.[1]
Die Stärken des Historizismus liegen nach Abbott in der ontologischen Annahme komplexer Individuen (zum Beispiel Nationen und Klassen) sowie im Partikularismus, also der „Vorstellung von Einheiten als komplexer Besonderheiten“ (S. 41). Seine Schwächen bestünden darin, dass er sich reduktionistisch auf die „Einheit des zentralen Subjekts“ und einen „bestimmten Wert“ als Maßstab konzentriere und die Handlungsfreiheit der Individuen zugunsten determinierender Strukturen verkenne (hier ist vor allem Marx gemeint). Zudem weise der Historizismus eine große „temporale Schwäche“ (S. 43) auf, da er die Vergangenheit überbewerte („Anders als Marx glaubte, gibt es keinen unheilvollen Alp der ‚Vergangenheit‘, der auf uns lastet“; ebd.) und die Zukunft zugleich unterschätze (hier verweist Abbott auf Marx‘ „verfehlte Prognose von einem unausweichlichen Sieg des Proletariats“; ebd.).
Kontrastiert wird der „Historizismus“ sodann mit dem Naturrecht (S. 43 ff) sowie der „Ökonomik“ (S. 46 ff), die beide auf einer „Ontologie individueller Akteure“ (S. 45) basierten: während im Naturrecht die vertragsfähigen zu vergesellschaftenden Atome als gegeben angenommen würden, seien es in der Wirtschaft die rationalen Marktteilnehmer. Die „atomaren Ontologien“ hätten zwar „einiges für sich“, seien jedoch „zugunsten des offensichtlich Messbaren verzerrt, [...] unfähig, verschiedenen Arten von Akteuren Rechnung zu tragen, und können [...] die historische Evolution dieser Akteure nicht verstehen.“ (S. 52) Vor diesem Hintergrund wird nun die „prozessualistische Alternative“ skizziert (S. 56 ff). Sie basiert auf der Annahme, dass die Welt „genau genommen eine Welt von Ereignissen“ sei und „[n]ur die Gegenwart existier[e]“ (S. 57), von der aus Vergangenheit und Zukunft zu betrachten seien. Damit seien „Individuen und soziale Gruppen [...] keine Gegebenheiten mehr. Unsere traditionelle Annahme ihrer Kontinuität wird durch einen Begriff der Entwicklungslinie ersetzt werden müssen, in dem gewisse Sequenzen von Ereignissen in mehr oder weniger unterscheidbare Entwicklungslinien fallen“ (S. 58).
Diese Alternative, die „als Eröffnung eines größeren neuen Forschungsfelds“ (ebd.) vorgestellt wird, ist jedoch vor dem Hintergrund der von Abbott ausgeblendeten Tradition der Geschichtsphilosophie ganz so neu nicht. Tatsächlich postuliert die ja keinen einlinigen, allumfassenden Fortschritt, sondern verhandelt auf bestimmte normative Kriterien bezogene Entwicklungen. In der französischen Aufklärung bezieht sich Geschichtsphilosophie etwa auf den Fortschritt von Technik und Produktion, weshalb bei Turgot, Rousseau und anderen die politische Ökonomie als Erklärungsmodell für kulturelle Entwicklung fungiert.[2] Ein Modell, das sich zum Beispiel auch bei Herder und in Hegels Theorie der bürgerlichen Gesellschaft findet. In all diesen Fällen ist Fortschritt, und damit auch die Kontinuität der Geschichte, begrenzt durch ausgewiesene Kriterien, bei Hegel etwa auf den Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit,[3] bei Marx hingegen auf den Fortschritt in der Entwicklung der Produktionsmittel. Diese Entwicklungslinien beanspruchen in der Regel nicht, das Ganze zu sein und alles eingemeinden zu können und sie setzen auch nicht notwendig kontinuierliche Makrosubjekte voraus – wobei auch Abbott, qua seiner Kritik an der atomistischen Ontologie auf Makrosubjekte nicht generell verzichten kann: Er nennt sie „Handlungsträger“ (S. 58 f). Abbotts Kritik an den „großen Erzählungen“ ist sicher in vielen Punkten berechtigt, das zu ihrer Begründung verwendete kontrastive Verfahren vermittelt jedoch ein schiefes Bild hinsichtlich der Denktraditionen, in deren Begrifflichkeiten sich Abbott auch dort noch bewegt, wo er einen radikalen Neuanfang behauptet.
„Ereignisse“, die bei Abbott in den Mittelpunkt der Betrachtung rücken, sind Bestimmtheiten („Wahrnehmungen, Einschränkungen, Gelegenheiten“, „Zwänge“), „die aus der unmittelbaren Vergangenheit ererbt werden und in der Präsenz eines Handlungsträgers oder mehrerer irgendwie gearteter Handlungsträger zusammentreffen“ (S. 59). Die Kategorie des Ereignisses weist eine starke Ähnlichkeit mit dem auf, was Wilhelm Dilthey in seiner Lebensphilosophie „Erlebnis“ genannt hat. Allerdings setzte dieser den Akzent auf die Subjektivität des Erlebens: „alles, was für uns da ist, das ist es nur als ein [...] in der Gegenwart Gegebenes“; es enthalte „eine zeitlich-räumliche Lokalisation“ und darin einen „Strukturzusammenhang, nach welchem eine darin enthaltene Zwecksetzung Fortwirken ist“.[4] Auch für Abbott sind „Ereignisse“ nicht unmittelbar, sondern „dicht“ (S. 60 f), vermittelt durch die unmittelbare Vergangenheit und lokalisiert, da Gegenwart nicht eine absolute Gleichzeitigkeit meint (Zeit und Raum sind hier „in manchem Sinne äquivalent“; S. 62). Ereignisse „enthalten“ nach Abbott „historische Effekte“ (S. 61), die dann in neue Handlungen (Zwecksetzungen) eingehen (S. 62). Die „dichte“ Gegenwart ist somit der Vermittlungsort überkommener Entwicklungslinien und zukunftsorientierter Handlungen, wobei alles Hergebrachte in der Gegenwart immer wieder „auf dem Spiel“ steht: „Selbst die größten und dem Anschein nach sichersten Strukturen müssen in jede neue Gegenwart neu eingeschrieben werden“, wobei die Akteure „von den aufgezeichneten Geschichten sozialer Strukturen gegenwärtigen Gebrauch machen können, wie es ihnen beliebt.“ (S. 62) Das „Fazit“ des ersten Vortrags (S. 69 ff) bekräftigt diese Sicht; gegen Marx‘ vorgebliche Überbewertung der Tradition heißt es: „Es gibt immer Freiheit in der Gegenwart, und die Zukünfte, die wir machen, können erstaunlich neu sein“, was auch bedeute, dass Struktur und Handlung immer eine Einheit bilden (S. 69).
Abbotts Ausführungen bleiben begrifflich unterbestimmt. Auf der einen Seite könnten die Akteure von dem Überlieferten in der Gegenwart „beliebig“ – also ohne Einschränkungen – Gebrauch machen, auf der anderen betont er, dass Marshall „den systematischen Charakter der Beschränkungen unserer Möglichkeiten“, der indes von Marx überzeichnet worden sei, völlig „ignoriert“ habe (S. 69). Die Menschen machten die Geschichte nicht, „wie sie ihnen gefällt“ (ebd.), was freilich dem „Belieben“ der Akteure in der ersten Formulierung widerspricht. Offenbar bleibt Abbott wenigstens zum Teil der atomaren Ontologie verhaftet, da er die Individuen beziehungsweise Akteure wie in den Naturrechtslehren und der Ökonomik als ursprünglich frei denkend begreift und dadurch gegen einen Determinismus (der freilich nur ein Zerrbild des Marx‘schen Denkens darstellt) zur Geltung bringen will. Das scheint daran zu liegen, dass er in einem unvermittelten Gegensatz von Freiheit und Determinismus gefangen bleibt, aber die Kategorie der (realen) Möglichkeit, die beides systematisch vermittelt, nicht mit reflektiert. Wenn Marx davon spricht, dass die Menschen ihre Geschichte selbst, aber nicht unter selbstgewählten Umständen machen, dann geht es genau um diese Kategorie. Hier fehlt es an einem systematisch entscheidenden Punkt an begrifflicher Klarheit.
Die zweite, Max Weber gewidmete Vorlesung wiederholt die Positionen der ersten und präzisiert sie in einigen Punkten. Gegen Webers Auffassung von Geschichte als langfristiger Entwicklung stellt Abbott die These, Geschichte sei „vielmehr eine kontinuierliche Abfolge folgenschwerer bzw. prekärer Gegenwarten“ (S. 77). Die „erfahrbare Gegenwart“ sei „räumlich“ und „zeitlich“ lokal, „insofern außer ihr nichts jemals existiert“ (S. 78 f) Demzufolge ist Geschichte nichts weiter als „eine Abfolge bedingter Gegenwarten [...], die mitunter rhetorisch zu überzeugenden Erzählungen aneinandergereiht werden können, welche dann ihrerseits Gegenstand von Erklärungen und moralischen Urteilen werden“ (S. 82). Eine zweite grundlegende These Abbotts ist, dass es im sozialen Prozess nur „Entwicklungslinien von Ereignissen“ und keine „feste[n] Substanzen“ gäbe (S. 83): Die Gegenwart ist alles, was es gibt – eine dichte Gegenwart als zeit-räumlicher Knotenpunkt von Entwicklungslinien und Aktionen.
Auch hier bleibt eine begriffliche Unschärfe. Was soll es heißen, dass es Gegenwart „gibt“? Wenn die raum-zeitliche Gegenwart sich ständig selbst überholt, weil das „Jetzt“ sich nicht festhalten lässt – in welchem Sinne „ist“ sie dann? Die scheinbar evidente („offensichtliche und überzeugende“; S. 92) Annahme, dass es nur die Gegenwart gibt, erweist sich nicht als der archimedische Punkt, für den Abbott sie erklärt. Gerade unter der meines Erachtens zutreffenden Annahme, dass wir es ontologisch ohnehin nicht mit festen Substanzen beziehungsweise Entitäten zu tun haben, eine Annahme, die von Abbott ja ausdrücklich geteilt wird, lässt sich nicht sinnvoll von einem Sein der Gegenwart reden. Sie „ist“ vielmehr nur als Moment eines komplexen relationalen Gefüges, in Bezug auf Temporalität also im Ineinanderfließen der Zeitdimensionen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Eine klassische und gegenüber der vormaligen Tradition radikal neue Antwort auf die Frage, was es in Wahrheit „gibt“, stammt hingegen von einem der Großmeister des „Historizismus“, mit dem Abbott sich kritisch auseinandersetzt: von Hegel. Nach Hegel ist das, was in Wahrheit ist, Relationalität, und Marx hat diese Sichtweise übernommen, indem er „Dingen“ beziehungsweise „Gedanken“ Verhältnisse entgegensetzte. Im Rückbezug auf die hier erarbeiteten Denkmittel wäre eine philosophische Fundierung des Prozessualismus möglich.
Die „philosophische Position“, die Abbott für sich selbst in Anspruch nimmt und kurz skizziert (S. 93 ff), besteht dann auch vor allem in der Betonung des Prozesscharakters gegenüber jedem Abschluss in irgendeiner Gegenwart. Jede teleologische Erklärung der Geschichte, so das Fazit, scheitere, „weil sie bei einer vermeintlich statischen Gegenwart stehen bleibt“, und jede Theorie der Wahl, also des zukunftsorientierten Handelns, scheitere, „weil sie von einer vermeintlich statischen Gegenwart ausgeht“ (S. 100). Beides müsse vielmehr in einer „dichten“ Gegenwart vermittelt werden: „Die Erklärung muss über die Gegenwart hinaus in die unmittelbare Zukunft blicken, und die Theorie der Wahl muss über die Gegenwart hinaus in die unmittelbare Vergangenheit blicken. Das aber heißt, dass man beide am besten einfach als unterschiedliche Aspekte des Handelns in der Gegenwart betrachtet.“ (S. 106 f) Das auszuarbeiten, sei Aufgabe einer einheitlichen Sozialwissenschaft (S. 111).
Abbott skizziert ein in den Grundzügen vielfach einleuchtendes und ausbaufähiges Programm, das jedoch nicht nur einer einzelwissenschaftlichen Ausarbeitung und empirischen Bewährung, sondern auch grundlegender begrifflicher Präzisierungen bedarf.
Fußnoten
- Vgl. Gunter Scholtz, „Historismus, Historizismus“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. v. Joachim Ritter, Bd. 3, Darmstadt 1974, 1141–1147.
- Vgl. Johannes Rohbeck, Geschichtsphilosophie, Hamburg 2004, 33.
- Vgl. Andreas Arndt, „Hegels Philosophy of World-History”, in: The Palgrave Hegel-Handbook, ed. Marina Bykova and Kenneth Westphal, 2020 (im Druck).
- Wilhelm Dilthey, Texte zur Kritik der historischen Vernunft, hg. v. Hans-Ulrich Lessing, Göttingen 1983, 233f.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Hannah Schmidt-Ott.
Kategorien: Sozialer Wandel Politische Ökonomie Philosophie Gesellschaftstheorie
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