Julian Volz | Essay | 08.12.2021
Die Gemeinschaft der Marginalisierten
Zum Verhältnis von westlichen Schwulen und arabischen Männern
„Oui, j’ai eu plus d’amants, plus d’amis, à l’étranger, de l’étranger, que je n’en aurai jamais parmi mes compatriotes. Peut-être même ne suis-je ‘homosexuel’, comme on dirait vilainement, que comme une manière d’être à l’étranger, je veux dire une manière de lui appartenir et d’être chez lui“ [1]
Ein bisschen verloren sieht er aus, wie er neben den geparkten Taxis hin und her geht, von den vorbeilaufenden Einheimischen weitestgehend ignoriert. Guy Hocquenghem befindet sich am Rande der Djemaa el Fna im winterlich bedeckten Marrakesch und selbst seine Lieblingsbeschäftigung, das Flirten, betreibt er nur halbherzig und dementsprechend erfolglos. Während die Kamera sich von ihm löst und einen Schwenk über den Platz macht, hört man eine Stimme aus dem Off sagen: „Auf einmal erzählte er mir von Marrakesch, aber nur, um zu sagen, dass er die braungebrannten Jet-Set Schwuchteln hasste und dass er Marrakesch nur im Regen mochte. Er hing sehr an seiner Verkörperung des letzten Linken, des Sex-Anarchisten.“[2]
Diese Szene ist Teil des filmischen Essays Race dʼEp,[3] den der Regisseur Lionel Soukaz und Hocquenghem in den Jahren 1978/79 gedreht haben. Er behandelt die soziale und bildliche Repräsentation von Homosexualität seit ihrer Erfindung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Europa, also seit Personen, die gleichgeschlechtliche Liebe und Sexualität präferieren, eine klar definierte Gruppe mit eigener Identität und (Sub-)Kultur sind. Die Filmemacher bemühen in ihrer Abhandlung die Klassiker der schwulen Geschichte: Baron von Gloeden, Walt Whitman, den Rosa Winkel. Der Schwule – so legen es Hocquenghem und Soukaz im Film nahe –, der sich im Maghreb sexuell vergnügt, ist ebenso ein Teil dieser Geschichte der Homosexualität wie auch der homosexuellen Kultur. Die beschriebene Szene stammt aus dem vierten Kapitel des Films. Bevor sie den sich selbst spielenden Hocquenghem in Marrakesch zeigt, trifft er in der heruntergekommenen Pariser Schwulenbar Le Royal Opéra auf einen US-amerikanischen Geschäftsmann. Hocquenghem berichtet ihm vom schwulen Leben in der französischen Hauptstadt und nimmt das zum Anlass, sich lautstark über die mehr oder weniger gelungene Integration der Homosexuellen zu beschweren. Die Stimme aus dem Off:
Er bezog sehr heftig Stellung gegen die Integration der Gay People, und es ist wahr, dass diese Leute in der Bar die Ausgestoßenen ihres eigenen Milieus waren, und er war ihr Sprecher. [...] Er sagte, dass es zwischen Leuten wie ihm und den Gammlern oder den Arabern sehr viele Verbindungen gebe, [...] dieser Gemeinschaft der Marginalisierten.[4]
In diesen beiden kleinen Szenen finden sich zwei wesentliche Motive, die viele der Schriften, die Hocquenghem zwischen den frühen 70er- bis zum Ende seines Lebens in den späten 80er-Jahren verfasst oder herausgegebenen hat, durchziehen: Erstens das Beharren darauf, dass die Homosexualität ein Verrat an der gesellschaftlich durchgesetzten „Normalität“ darstelle und daher ein Phänomen an den Rändern der Gesellschaft sei. Dementsprechend pflege sie auch eine intime Nähe und Solidarität zu anderen gesellschaftlich marginalisierten Gruppen: zu rassistisch Diskriminierten ebenso wie zu Kleinkriminellen und Prostituierten. Eine durchaus existenzialistische und romantische Vorstellung, die in Frankreich zu dieser Zeit jedoch – vor allem dank der Romane Jean Genets[5] – nicht unpopulär war. Das zweite prägende Motiv besteht in einer scharfen Kritik der Neutralisierung und Verstaatlichung der Homosexuellen[6] sowie der zunehmend entkriminalisierten und kommerzialisierten Kultur, die nur noch im eigenen sozialen Milieu verbleibe. In einer Polemik Hocquenghems aus den späten 70er-Jahren heißt es etwa: „Die Zeit wird kommen, in der der Homosexuelle nichts weiter als ein Sextourist, ein nettes Mitglied des ‚Club Méditerranée‘[7] sein wird.“[8]
Marrakesch war und ist in der schwulen Subkultur so etwas wie eine Chiffre für ein maghrebinisches Paradies, in dem man unkomplizierten Sex mit jungen arabischen Männern haben kann.[9] Ein auf (neo-)kolonialen Machtverhältnissen fußender Sehnsuchtsort, der den Ausbruch aus dem prüden und heteronormativen westlichen Sexualitätsobjektiv[10] erlaubt.
Obwohl Guy Hocquenghem in den 1970er-Jahren durchaus selbst gerne in den Maghreb reiste, spiegelt sich diese orientalistische Sehnsucht in seinen Schriften nicht wider.[11] Er, der Marrakesch nur noch im Regen mag, entwirft in Race dʼEp eine Art filmisches Postskriptum zu den zahlreichen Texten aus dem Umfeld des Front homosexuel dʼaction révolutionnaire (FHAR) der frühen 70er-Jahre, in denen arabische Männer eine zentrale Rolle spielen. Hocquenghem stieß früh zu dem im März 1971 gegründeten FHAR. Bereits im April 1971 veranlasste er, dass der FHAR die redaktionelle Betreuung der zwölften Ausgabe[12] der 14-tägig von der maoistischen Spontigruppe Vive la révolution publizierten und von Jean-Paul Sartre herausgegebenen Zeitschrift Tout![13] übernehmen konnte. Neben programmatischen Texten wurde in der Ausgabe auch ein kurzes Manifest abgedruckt:
Wir sind mehr als 343 Schlampen.
Wir haben uns von Arabern in den Arsch ficken lassen.
Wir sind stolz darauf und wir würden es wieder tun.
Unterzeichnet und lasst es in Eurem Umfeld unterzeichnen.
Wird der Nouvel Observateur dies abdrucken???
Und lasst uns darüber mit den arabischen Genossen diskutieren.[14]
Die Zeitschrift, die eigentlich bei den 1.-Mai-Demonstrationen hätte verteilt werden sollen, wurde sofort nach ihrem Erscheinen beschlagnahmt und Sartre wegen Sittenwidrigkeit angeklagt. Der zitierte Text beruht auf einer Umdeutung eines von Simone de Beauvoir verfassten feministischen Manifests vom April 1971. Mit ihm machten 343 Frauen in der Zeitschrift Le Nouvel Observateur öffentlich, dass sie abgetrieben hatten. Das Manifest entfachte die Debatte über die Legalisierung von Abtreibung in Frankreich. Es war der erste Schritt einer gesellschaftlichen Kampagne, die im Januar 1975 mit der Einführung des „Loi Veil“ – des nach der damaligen Gesundheitsministerin Simone Veil benannten Gesetzes – zu einer weitgehenden Entkriminalisierung der Abtreibung bis zur sechsten Schwangerschaftswoche führte.
Der ambivalente sexuelle Antirassismus des FHAR
Mit ihrer eigenen Version des Manifests wollten die Männer des FHAR sich in den Kampf um weibliche Selbstbestimmung einreihen und sich zudem solidarisch mit der rassistisch diskriminierten Bevölkerung Frankreichs zeigen. Dafür eigneten sie sich eine in diesen Jahren in den politischen Debatten Frankreichs sehr präsente Trope subversiv an: Im Zuge des algerischen Unabhängigkeitskrieges hatte sich die Figur des unbeherrschten, schwächlichen und faulen ‚Orientalen‘ zum von den Mitgliedern des algerischen Front de libération nationale verkörperten, kämpferischen und hypervirilen Araber gewandelt.[15] Mit dem Ende des Algerienkriegs im Jahre 1962 wurde der algerische Mann in den politischen Debatten Frankreichs so zu einem Dauerthema, das besonders von der Rechten bedient wurde, um das Schreckgespenst einer Bedrohung der französischen Bevölkerung durch Einwanderung und algerische Sexualverbrecher an die Wand zu malen. Die schwulen Männer intervenierten mit ihrem Manifest nun in diese heftig geführten Debatten, indem sie sich durch die Öffentlichmachung ihrer sexuellen Praktiken mit den Arabern auf deren Seite stellten. So sollte eine ganz besondere Solidarität und Nähe der Schwulen mit der arabischen Bevölkerung suggeriert werden, die weit über eine von der restlichen Linken praktizierte, rein moralische Unterstützung hinausging. Der in der schwulen Szene Frankreichs durchaus beliebte Sex mit algerischen Männern, der von orientalistischen Fantasien über eine besonders natürliche und virile „arabische Sexualität“ angeheizt wurde, konnte so in einen Akt des Vaterlandsverrats umgedeutet werden. Tatsächlich beruht er aber wohl eher auf der sexuellen Misere beider Gruppen.[16] Die in Frankreich lebenden arabischen Männer waren meist jung und unverheiratet, hatten aber aufgrund rassistischer Abwertung bei den französischen Frauen nur selten eine Chance. Der Sex mit den französischen Männern geriet dadurch zu einer der wenigen Möglichkeiten für Geschlechtsverkehr. Durch die Umkehrung der Rollen – die Franzosen lassen sich ficken – sollte die koloniale Machtbeziehung, in der die Kolonialisierten sonst die Rolle der Passivierten einnahmen, unterlaufen werden. Und in gewisser Weise werden mit dem Manifest sogar intersektionale Perspektiven eröffnet, da es darauf zielt, feministische, antikoloniale und queere Kämpfe engzuführen.
Dennoch: Seit jeher beruht der Kolonialismus nicht nur auf materieller, sondern auch auf sexueller Ausbeutung. Die Idee, dass der mit den ehemals Kolonisierten praktizierte Sex bereits eine Form der Solidarität darstellen würde, ist daher einigermaßen kurz gegriffen. Trotz der hehren Absichten reproduziert auch das Manifest bestehende rassistische und koloniale Klischees. So wird beispielsweise das Bild des triebgesteuerten, allzeit zu sexuellen Aktivitäten bereiten Arabers, das leider auch in heutigen Debatten noch präsent ist, weiter befeuert.[17] Zudem stellt sich die Frage, weshalb die Gruppe der schwulen Franzosen und der Araber so klar getrennt ist, also wer eigentlich mit dem Wir, auf das der FHAR rekurriert, gemeint ist.[18] Diese Abgrenzung leistet der Vorstellung Vorschub, dass algerische Männer nicht schwul sein können, das heißt, sich nicht in die westlichen binären Kategorien von Homo- beziehungsweise Heterosexualität einordnen lassen. Neben dem Manifest finden sich in der Ausgabe von Tout! auch Berichte über das Sexualleben einiger Mitglieder des FHAR, Araber kommen hingegen nicht zu Wort. Der im Editorial proklamierte Anspruch wurde folglich nicht eingelöst: „Wir wollten all denjenigen eine Stimme geben, deren Worte ansonsten von der Großen Politik, auch der der Linken und der radikalen Linken, abgelehnt oder verdrängt werden.“[19]
Zärtliche Solidarität
Die Öffentlichmachung der eigenen sexuellen Praktiken und intimen Verbindung mit denjenigen, die von der französischen Mehrheitsgesellschaft als Gefahr für die Nation gesehen werden, reiht sich in die Politik des Coming-Outs ein, die in den 1970er-Jahren eine der wichtigsten politischen Strategien der homosexuellen Bewegungen im Westen war. In der zwei Jahre später vom FHAR veröffentlichten Schrift Trois Milliards de Pervers wird diese Methode auf die Spitze getrieben. Dort finden sich auf mehreren hundert Seiten hauptsächlich in der ersten Person verfasste Berichte über die sexuellen Praktiken von Personen aus dem Umfeld des FHAR. Auch hier sind an zentraler Stelle Texte und Diskussionen über sexuelle Begegnungen mit arabischen Männern abgedruckt. Im Beitrag Zwanzig Jahre Cruisen heißt es beispielsweise: „Wer ist er? Mein Spiegel. Er ist ich; und weil er ein Stück Scheiße ist und ich mich verachte, bin auch ich ein Stück Scheiße.“[20] In dem Bild des Arabers, der von der französischen Gesellschaft verachtet wird, spiegelt sich also der eigene schwule Selbsthass wider. Auch der Autor des Beitrags begreift sich als eine Person, die von der Gesellschaft ausgeschlossen und verachtet wird. Der geteilte Status als Paria begründet die besondere Solidarität zwischen Homosexuellen und Arabern und die gemeinsame sexuelle Praxis schärft den Blick für die Lebenswelt der anderen und wird als möglicher Beginn eines gemeinsamen politischen Kampfes gewertet. An dieser Hoffnung hielt Guy Hocquenghem auch mehr als zehn Jahre später fest, wie zwei Kommentare in der Zeitschrift Gai Pied zeigen. In diesen greift er ironisch einen moralischen Antirassismus an, wie er sich in der Mitte der 1980er-Jahre lancierten linksliberalen Kampagne Touche pas à mon pote[21] äußerte. Es sei zwar schön, schreibt er, sich einen Button an die Jacke zu heften, auf dem dazu aufgerufen werde, den rassistisch ausgeschlossenen Teil der französischen Bevölkerung nicht zu diskriminieren, aber es sei doch auch schade, dass die Parole eine gegenseitige Berührung ausschließe. Denn es gehe – wie er dann in einer zwei Wochen später veröffentlichten Reaktion auf die bei der Zeitschrift eingegangenen Leserbriefe klarstellt – nicht um abstrakte Lippenbekenntnisse, sondern doch vor allem darum, freundschaftliche Bindungen zu diesem Bevölkerungsteil aufzubauen.[22]
Homosexualitäten jenseits der westlichen Welt
Eine solche provokante Art, das Problem des gesellschaftlichen Rassismus aufzugreifen, wäre heute sicherlich undenkbar, und dafür gibt es sehr gute aber auch weniger gute Gründe.[23] Vollkommen zu Recht ist ein Antirassismus, der nur über die rassistisch Diskriminierten spricht, anstatt den betroffenen Personen das Wort zu überlassen, in Verruf geraten. Und tatsächlich wurden Fragen des Orientalismus und der Sexualität in den letzten Jahren vermehrt von arabischen Autor*innen selbst thematisiert und theoretisiert. Besonders die von dem postkolonialen Sexualtheoretiker Joseph Massad entwickelten Thesen werden seit den 2000er-Jahren kontrovers diskutiert und bilden auch heute noch einen wichtigen Bezugspunkt für Debatten um Homosexualität in nicht-westlichen Ländern. In seinem Buch Desiring Arabs entwickelte Massad die These, dass die Sexualität in vom Islam geprägten Gesellschaften sich grundlegend von der in westlichen Gesellschaften unterscheide. In diesen würde das westliche Modell einer binären und identitätsbasierten Sexualität gar nicht bestehen. Die im Westen entwickelten Emanzipationsstrategien von Homosexuellen könnten in diesen Gesellschaften daher auch nicht greifen. Stattdessen sei ein nicht-identitätsbasierter gleichgeschlechtlicher Sexualverkehr in der arabischsprachigen Welt unter Männern besonders in den unteren Klassen der Gesellschaft weit verbreitet. Deshalb bestehe auch gar kein Bedürfnis nach Anerkennung und Sichtbarkeit. Wenn nun westliche LGBTIQ*-Organisationen – oder in Massads Worten: die ‚Schwule Internationale‘ – Personen, die gleichgeschlechtlichen Geschlechtsverkehr praktizieren, als Homosexuelle missinterpretieren und sich für deren Rechte einsetzen, so zwängen sie ihnen in imperialistischer Weise eine westliche Episteme auf: „By inciting discourse about homosexuals where none existed before, the Gay International is in fact heterosexualizing a world that is being forced to be fixed by a Western binary.“[24] Die Ablehnung von Homosexualität sei in den arabischen Gesellschaften daher kein Ausdruck der Ablehnung eines gleichgeschlechtlichen Begehrens, sondern ein Akt des antiimperialistischen Widerstands gegen ein aufgezwungenes westliches Sexualitätsobjektiv.[25]
Zumindest bis zur ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts trifft Massad mit seiner These einer „arabischen Sexualität“ einen Punkt. Bereits in Edward Saids Studie Orientalism heißt es: „The Orient becomes a living tableau of queerness”[26] und Joseph Boone zeigt in seiner umfangreichen Untersuchung The homoerotics of orientalism auf, wie der „Orient“ auch durch die dort anzutreffende gleichgeschlechtliche Erotik für westliche Homosexuelle zu einem Ort mit beinahe magischer Anziehungskraft wurde. Orientalistische Reiseberichte von der Renaissance bis zum 19. Jahrhundert sind voller Überraschung über und Bewunderung für die Fülle homoerotischer Liebesgedichte und die nicht sonderlich versteckt ausgelebten gleichgeschlechtlichen Liebesspiele. Die sexualökonomischen Objektive westlicher und arabischsprachiger Gesellschaften haben sich seit der Zeit des klassischen Kolonialismus freilich grundlegend geändert. Im Westen wurde der Wandel hin zu einer Liberalisierung der Sexualmoral einerseits vonseiten progressiver Bewegungen angestoßen, die sich der sexuellen Frage annahmen, andererseits aber auch durch technische Neuerungen (auch auf dem sexuellen Gebiet) vorangetrieben. Mit ihnen ging eine sich erneuernde Form sozialer Herrschaft einher, die sich einer allzu rigiden Entsagungsmoral entledigen musste. Die Gesellschaft verleibte sich die gemachten Fortschritte so wieder ein, um sie in den Dienst eines neuen kapitalistischen Konsumideals zu stellen. In den arabischsprachigen Gesellschaften hingegen stellte man sich in den unter dem Stichwort Nahdah geführten Diskussionen um eine arabische Erneuerung die Frage, wie die Kolonialisierung durch die europäischen Mächte überhaupt möglich geworden war.[27] Besonders von salafistischer Seite wurde immer wieder argumentiert, dass die arabische Kultur zu „dekadent“ und zu „ausschweifend“, eben zu effeminiert gewesen sei. Das habe sie schwach und somit anfällig für die Unterwerfung durch eine fremde Kultur werden lassen. Es waren nun vor allem die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erstarkenden islamistischen Bewegungen, die eine repressive und tödliche Sexualmoral durchsetzten. Während Europa sich mehr als 400 Jahren lang von einem als ausschweifend und triebhaft wahrgenommenen Orient abgrenzte, ist es heute der Westen, der in den Augen der islamistischen Bewegungen als Kontaminierer gilt, der die moralische Integrität untergräbt. Das ist die dem kolonialen Projekt innewohnende Dialektik der Sexualmoral. Ghassan Makarem von der libanesischen LGBTIQ*-Organisation Helem weist in einer Erwiderung auf Massad darauf hin, dass Helem im eigenen Land hauptsächlich vonseiten der Salafisten als Agent des Westens attackiert wird. Letztlich verbreite Massad unter dem Deckmantel des Progressismus eine Lüge, die ansonsten nur von den größten religiösen Fanatikern der Region und dem iranischen Regime verbreitet werde. Es sei nicht eine imaginierte schwule Internationale, die neuen politischen Identitäten in der Region Vorschub leiste, sondern eine in den letzten Jahrzehnten rasant voranschreitende Urbanisierung.[28] Insofern scheint sich Massad in seinen Analysen eher idealisierend auf eine Epoche zu beziehen, die schon längst vom Weltenlauf überholt wurde.
Aber taugt die von Massad idealisierte „arabische Sexualität“ überhaupt zu einem Emanzipationsideal für nicht im Westen lebende Menschen, die gleichgeschlechtlichen Sex praktizieren? Selbst wenn seine Analyse zuträfe, wirkt die von Massad diagnostizierte „arabische Sexualität“ bei näherer Betrachtung nicht besonders erstrebenswert. Seine Idealisierung einer von Männern ganz unproblematisch ausgelebten gleichgeschlechtlichen Sexualität ignoriert die Einschreibung dieser Praktiken in patriarchal geprägte Gesellschaften;[29] die auf einer strikten Geschlechtertrennung im öffentlichen Leben basieren. Die Männer, die – laut Massad – ganz unproblematisch gleichgeschlechtlichen Sex praktizieren können, sind in der Regel mit Frauen verheiratet.[30] Eine gleichberechtigte gleichgeschlechtliche Liebesbeziehung, jenseits des schnell praktizierten Geschlechtsverkehrs, bei dem zudem die Rollen von Top und Bottom strikt nach gesellschaftlichen Machtpositionen aufgeteilt sind,[31] ist nicht vorgesehen. Eine gleichgeschlechtliche Sexualität zwischen zwei Frauen kommt in dieser „arabischen Sexualität“ ebenfalls nicht vor.[32] Zudem befestigt er mit seinen Thesen die von den Orientalist*innen etablierte strikte Scheidung zwischen dem „Orient“ und dem Westen. Als wäre Kultur im 21. Jahrhundert nicht bereits auf vielfältige Weise kreolisiert und als gebe es nicht in vielen arabischen Gesellschaften Menschen, die sich eine homosexuelle Identität zuschreiben. So sind Massads Thesen letztlich Teil eines Kulturrelativismus, den der syrische Marxist Sadik Jalal al-‘Azm bereits 1980 unter dem Eindruck der iranischen (Konter-)Revolution als Orientalism in reverse[33] auf den Begriff brachte.
Bei aller notwendigen Kritik zeigen die Thesen von Joseph Massad dennoch, dass die Annahme, es gebe einen allgemeinen Weg der sexuellen Emanzipation, der sich evolutionär an den von westlichen Homosexuellenbewegungen entwickelten Strategien orientieren solle und der eine teleologische Bewegung von traditionellen hin zu liberal-modernen Gesellschaften vollziehe, sehr fragwürdig ist. Die westliche schwule und lesbische Kultur kann schon allein deswegen kein einfach zu übernehmendes Modell für LGBTIQʼs in arabischen oder vom Islam geprägten Gesellschaften sein, weil ihr von Beginn an eine koloniale und orientalistische Episteme inhärent ist. Selbst die progressiven Texte des FHAR zeigen, dass die schwule Kultur auf Machtverhältnissen zwischen westlichen Homosexuellen und nicht-westlichen Männern und Homosexuellen aufgebaut ist.[34] Es gibt eine ganze Reihe von arabischen Schriftstellern und Künstlern, die das mitdenken und dabei um einiges differenzierter vorgehen als Massad. Der marrokanische Künstler Sido Lansari porträtiert etwa in seiner fiktionalisierten Kurzdoku Les Derniers paradis[35] mit Sami aus Casablanca einen selbstbewussten homosexuellen Protagonisten, der auch ganz ohne die westliche Schwulenkultur ein glückliches Leben führt. Die französischen Schwulen lernt er hingegen als Menschen kennen, die ihn exotisieren. An den Stellen im Film, in denen es um sie geht, verwendet Lansari nicht zufällig Bildmaterial aus Trois Milliards des Pervers. Auch der in Paris lebende marokkanische Schriftsteller und Filmemacher Abdellah Taïa behandelt in seinen literarischen und filmischen Arbeiten das Problem, dass er nicht einfach die Befreiungsideale einer im westlichen Kontext entstandenen Homosexuellenkultur übernehmen kann. In seinem Roman Celui qui est digne d‘être aimé[36] spielt er das Dilemma anhand seines Protagonisten Ahmed durch. Dieser lernte bereits im jungen Alter seinen späteren Freund, den um einige Jahre älteren linksintellektuellen Franzosen Emmanuel, am Strand von Rabat-Salé kennen. Nach seinem Studium der französischen Literatur in Rabat geht Ahmed auf Emanuels Drängen nach Paris – nur dort hätte er als Homosexueller eine Zukunft – und macht an dessen Seite Karriere an den Pariser Unis. Im Moment seiner Trennung von Emmanuel schreibt er ihm einen bitteren Brief in dem er sich fragt, wann er angefangen hat, sich selbst unsichtbar zu machen. Es war der Moment, als er während seines Literaturstudiums anfing, sich mit André Gides homosexueller Emanzipation zu identifizieren. Gide machte im tunesischen Sousse 23-jährig seine ersten gleichgeschlechtlichen Erfahrungen mit dem 14-jährigen Ali[37] und vergnügte sich später zusammen mit Wilde im algerischen Biskra mit den lokalen männlichen Jugendlichen.[38] Im Interview mit dem Autor des vorliegenden Textes erläutert Taïa: „Als Ahmed sehr viel später aufwacht, wird ihm überhaupt erst bewusst, dass das, was dem arabischen Jungen passiert, den Oscar Wilde André Gide anbietet, vielleicht das ist, was er selbst sich angetan hat, als er in Frankreich angekommen ist, in seiner Beziehung zu Emmanuel.“[39] Taïa weist damit auf einen weiteren problematischen Aspekt des schwulen Orientalismus hin. Meist gründen die sexuellen Beziehungen zwischen westlichen Homosexuellen und Arabern nicht nur auf kolonialer Macht, sondern es liegt ihnen oftmals auch ein beträchtlicher Altersunterschied zugrunde. Dies macht es noch unwahrscheinlicher, dass diese Sexualität auch nur im Entferntesten auf Konsens und Gleichberechtigung beruht.[40] Wenn im Westen über LGBTIQʼs in islamisch geprägten Ländern gesprochen wird, bleiben Stimmen wie die von Lansari oder Taïa allerdings oft ungehört. Meist werden die dort lebenden Homosexuellen einzig durch die Brille des Leids und der erfahrenen Repression wahrgenommen. Was bei einer solchen Lesart hingegen außen vor bleibt, sind ihre konkreten Alltags- und Lebenswelten, einschließlich der dort stattfindenden Kämpfe und entwickelten Emanzipationsstrategien.[41]
Guy Hocquenghem hat sein Leben lang davor gewarnt, dass man, indem man sich auf die Homosexualität als Befreiungsideal bezieht, in einer ursprünglich pathologisierenden Kategorie der Psychiatrie und der Justiz verbleibt. Eine solche kann, weil sie sich nie vollkommen von der repressiven Logik, der sie entstammt, lösen kann, nur in engen Grenzen befreiend wirken. Die Homosexualität – so ließe sich nun ergänzen – ist auch eine vom Kolonialismus geformte Kategorie. Es ist daher ein Trugschluss, dass man die ganze Welt mit einem im Westen geformten Modell der (homo-)sexuellen Emanzipation beglücken könnte. Aber auch eine Rückkehr zu idealisierten, vorkolonialen gesellschaftliche Zuständen, in denen eine „arabische“, vom Westen noch unberührte Sexualität gelebt wurde, ist eine Schimäre. Der Hocquenghem‘sche Begriff des homosexuellen Begehrens,[42] das sich von einer molaren und ödipalisierten Homosexualität unterscheidet, könnte auch hier als utopisches Drittes fungieren. Ein solches könnte neue Allianzen und Kopplungen sowie wahrhaft universelle Verbindungen zwischen den Menschen schaffen, die durchaus auch leiblich sein können.
Fußnoten
- „In der Tat hatte ich mehr Liebhaber, mehr Freunde, im Ausland, aus der Fremde, als ich sie jemals unter meinen Landsleuten haben werde. Wie man vielleicht mit böser Zunge sagen könnte, bin ich ‚homosexuell‘ nur in dem Sinne, dass ich bloß in der Fremde existiere, ihr sozusagen angehöre und in ihr heimisch bin.“ Guy Hocquenghem, La beauté du métis, Paris 2015, S. 29.
- Guy Hocquenghem, Race dʼEp. Un siècle dʼimages de lʼhomosexualité, Bordeaux 2018, S. 209. Der Text des Films stammt von Guy Hocquenghem selbst. Er wurde begleitend als eigenständiges und textlich erweitertes Buch veröffentlicht und 2018 von der Édition la Tempête neu aufgelegt. Bei allen deutschen Zitationen aus französischsprachigen Texten, die noch nicht auf Deutsch veröffentlicht wurden, handelt es sich um Eigenübersetzungen.
- Lionel Soukaz, Guy Hocquenghem, Race d'Ep, Frankreich 1979, 95 Minuten.
- Hocquenghem, Race d’Ep, S. 208.
- Jean-Paul Sartres umfangreiche Studie Saint Genet. comédien et martyr, Paris 1952 (dt: Saint Genet, Komödiant und Märtyrer, Hamburg 1982) hob Genets Weltentwurf wiederum in den Rang einer wichtigen Quelle des Existenzialismus. Dass Sartres Schrift auch Hocquenghems Sicht auf die Homosexualität stark beeinflusst hat, zeigt sich daran, dass er diese in seinem Essay Das homosexuelle Begehren an vielen Stellen zitiert. Zur Inspiration Hocquenghems durch Genet und seiner Übernahme von dessen Konzeption der Homosexualität siehe: Antoine Idier, Les vies de Guy Hocquenghem. Politique, sexualité, culture, Paris 2017, S. 174 ff.
- Vgl. Guy Hocquenghem, Tout le monde ne peut pas mourir dans son lit, in: Guy Hocquenghem, Un journal de rêve. Articles de presse (1970–1987), Paris 2017, S. 40–46, hier S. 43. Eine gekürzte Version dieses Textes in deutschsprachiger Übersetzung findet sich in: Heinz-Jürgen Voß (Hg.), Die Idee der Homosexualität musikalisieren. Zur Aktualität von Guy Hocquenghem, Gießen 2018, S. 101–104.
- Der Club Méditerranée ist einer der größten französischen Anbieter für Cluburlaube. Der Kontakt mit der lokalen Bevölkerung beschränkt sich bei einem solchen Urlaub meist darauf, dass man von dieser bedient wird.
- Ebd.
- Für eine kritische Analyse des „Orients“ als schwulem Sehnsuchtsort, siehe: Joseph Allen Boone, The Homoerotics of Orientalism, New York 2014; Robert Aldrich, Colonialism and Homosexuality, London / New York 2003, S. 148–184. In Frankreich wurde diese Verbindung des „Orients“ mit männlicher Homoerotik vor allem von André Gides Schilderung seiner homosexuellen Erweckungsreisen nach Tunesien und Algerien in den Jahren 1893 und 1895 in seiner Autobiographie Si le grain ne meurt (dt.: Stirb und werde), Paris 1955 zum Teil des schwulen Wissens.
- Zum Begriff des Sexualitätsobjektivs, der auf einer materialistischen Aneignung des Foucaultʼschen Begriffs des Sexualitätsdispositivs beruht, siehe: Volkmar Sigusch, Sexualitäten. Eine kritische Theorie in 99 Fragmenten, Frankfurt am Main 2013, S. 33 f.
- In Race dʼEp gibt es noch eine andere Szene, die im Marrakesch spielt. Sie ist durchaus utopisch angelegt, aber dort spielt nicht der Sex mit der marokkanischen Bevölkerung eine Rolle, sondern die Gemeinschaft der französischen Schwulen, die sich in den 1960er-Jahren dort gemeinsam aufhalten. Die Kommune in Marrakesch weckt dabei Assoziationen mit der utopischen Schlussszene aus Rosa von Praunheims Film Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt.
- Tout!, Nr. 12, Paris 23.04.1971, http://archivesautonomies.org/IMG/pdf/maoisme/tout/tout-n12.pdf (12.05.2021)].
- Dt.: Alles! (Der Titel ist inspiriert von der Parole Vogliamo tutto! (dt. Wir wollen alles!) aus dem heißen italienischen Herbst 1969, der auf einer Welle wilder Streiks fußte.)
- Tout!, Nr. 12, S. 7.
- Todd Sheppard hat diese Debatten in einer umfangreichen Studie aufgearbeitet: Todd Sheppard, Sex, France & Arab Men. 1962–1979, Chicago/London 2017.
- So heißt es in einer anderen Publikation, die vom FHAR verantwortet wurde: „Die Liebe mit Arabern ist das Aufeinandertreffen zweier sexueller Miseren. Zwei Miseren, die sich gegenseitig verbinden.“ (O.V., Les Arabes et Nous, in: Félix Guattari (Hg.), Trois Milliards de pervers. La grande Encyclopédie des Homosexualités, Paris 1973, Neuauflage: La Bussière 2015, S. 9–25, hier S. 13. Auf Deutsch wurde der Band von Bernhard Dieckmann und François Pescatore 1980 unter dem Titel Drei Milliarden Perverse 1980 im Verlag Rosa Winkel herausgegeben.)
- Für eine ausführliche Kritik am Rassismus in den Schriften der FHAR über die Araber siehe: Gary Genosko, The Figure of the Arab in ‚Three Billion Perverts‘, in: Deleuze Studies (2007), 1, S. 60–78.
- In Antoine Idiers Aufsatz Silent Voices. The French Gay Liberation and the «Arabs», in: Glyn Davis / Laura Guy (Hg.), Queer Print in Europe, London 2022 (im Erscheinen) geht der Autor zentral auf die Frage ein, wie dieses „Wir“ definiert wird und welche Ein- und Ausschlüsse der FHAR produzierte. Ich bin Antoine Idier zu großem Dank verpflichtet für die vielen anregenden und freundschaftlichen Diskussionen zu der Frage von Kolonialismus und Homosexualität, ohne die ich den Text in dieser Form nicht hätte schreiben können.
- Tout!, Nr. 12, S. 1.
- O.V., Vingt Ans de Drague, in: Félix Guattari (Hg.), Trois Millards de Pervers, S. 52–63, hier S. 56.
- Dt.: Fass meinen Kumpel nicht an!
- Vgl. Guy Hocquenghem, Arabe, in: Ders., Un journal de rêve, S. 276–277, hier S. 277.
- Zu den schlechten Gründen gehört m.E. das Vorherrschen eines asketischen Antirassismus der sich im Moralisieren erschöpft., wie er etwa von einigen Auswüchsen der Critical Whiteness popularisiert wurde.
- Joseph Massad, Desiring Arabs, Chicago/London 2007, S. 188.
- In der deutschsprachigen Diskussion bezieht sich etwa Georg Klauda in seinem Buch „Die Vertreibung aus dem Serail. Europa und die Heteronormalisierung der islamischen Welt“ (Hamburg 2008) auf Massads Thesen. In Frankreich hat zuletzt Alain Naze in dem Kapitel „La ‚globalisation' Gay“ seines vieldiskutierten Buchs Manifeste contre la normalisation Gay (Paris 2017, S. 91–116) Massads Theorie neu aufgewärmt. Am entschiedensten vertritt aber Houria Bouteldja, die ehemalige, langjährige Wortführerin der antisemitischen Parti des Indigènes de la République Massads Thesen. In dem Artikel Universalisme gay, homoracialisme et « mariage pour tous », 12.03.2013, http://indigenes-republique.fr/universalisme-gay-homoracialisme-et-mariage-pour-tous-2/ (17.05.2021) formuliert sie etwa Verständnis für Übergriffe auf Homosexuelle in den „quartiers populaires“, da diese eine Reaktion auf einen vermeintlichen Homorassismus seien.
- Edward Said, Orientalism, New York 1978, S. 103.
- Vgl. Massad, Desiring Arabs, S. 15 ff.
- Vgl., Ghassen Makarem, We are not agents of the West, 14.12.2009, https://www.resetdoc.org/story/we-are-not-agents-of-the-west/ (17.05.2021).
- Selbstverständlich sollen mit dieser Feststellung die patriarchalen Strukturen in westlichen Gesellschaften nicht relativiert werden.
- Vgl. Boone, The homoerotics of Orientalism, S. 15.
- Vgl. Khaled El-Rouayheb, Before homosexuality in the Arab-Islamic world, 1500–1800, Chicago/London 2005, S. 153.
- Vgl. Dror Ze’evi, Producing Desire. Changing Sexual Discourse in the Ottoman Middle East, 1500–1900, Berkeley / Los Angeles 2006, S. 167.
- Vgl. Sadid Jalal Al-’Azm, Orientalism and Orientalism in reverse, 1980, https://libcom.org/library/orientalism-orientalism-reverse-sadik-jalal-al-%E2%80%99azm (17.05.2021).
- In Frankreich, das durch Napoleons Ägyptenfeldzüge (1789–1801) und die langanhaltende Kolonisierung weiter Teile des Maghrebs neben England zu einem der Kernländer des Orientalismus gehört, ist dieses Muster besonders virulent. Dennoch ist auch bei Deutschlands Schwulen ein solches orientalistisches Wissen durchaus präsent. Rainer Werner Fassbinder hat dies in den in Marrakesch spielenden Teilen seines Films Faustrecht der Freiheit (1975) in Szene gesetzt. Auch heute ist diese Spielart des Orientalismus ein verbreitetes Denkmuster in der westlichen schwulen Subkultur.
- Sido Lansari, Les Derniers paradis, Frankreich 2019, 14 Min.
- Abdellah Taïa, Celui qui est digne d'être aimé, Paris 2017.
- Vgl. André Gide, Si le grain ne meurt, Paris 1955, S. 299.
- Ebd. 339 ff.
- Das Gespräch fand am 10. Februar 2019 in Paris statt.
- Der angeblich unter Schwulen verbreitete Kindesmissbrauch hat sich nun wiederum selbst in eine homophobe Figur verwandelt. Prominent verwendete diese im Frühjahr 2021 der rechte Publizist Guy Sorman, um Michel Foucault zu diskreditieren. Ohne jegliche Belege behauptete er, Foucault habe während seiner Zeit in Tunesien bei Vollmond Geschlechtsverkehr mit Kindern auf dem Friedhof von Sidi Bou Saïd gehabt. Eine Journalistin vor Ort konnte rasch und ohne Mühe recherchieren, dass es sich dabei um eine der Fantasie Sormans entsprungene Lügengeschichte handelt. Dennoch hatte Foucault wohl mit geschlechtsreifen Jugendlichen in Tunesien Sex (nicht auf dem Friedhof in Sidi Bou Said, sondern in dem Leuchtturm nebenan), vgl. Frida Dahmani, Tunisie: Michel Foucault n’était pas pédophile, mais il était séduit par les jeunes éphèbes, in: Jeune Afrique, 01.04.2021, https://www.jeuneafrique.com/1147268/politique/tunisie-michel-foucault-netait-pas-pedophile-mais-il-etait-seduit-par-les-jeunes-ephebes/ (26.11.2021) Auch dies schreibt sich natürlich in einen neokolonialen und schwulen Orientalismus ein. Ein Fakt, der in ansonsten sehr guten Texten, die sich mit dem Fall beschäftigen, leider verschwiegen wurde. Siehe für einen solchen Text etwa: O.V. Les messes noires de Michel Foucault, le bullshit de Guy Sorman, in: lundimatin 282 (2021), https://lundi.am/Les-messes-noires-de-Michel-Foucault-le-bullshit-de-Guy-Sorman (26.11.2021). Siehe zu diesem Thema auch den Beitrag von Julia König in diesem Dossier.
- Ein aktuelles Beispiel für eine solche Vorgehensweise sind etwa die Beiträge von Patsy lʼAmour LaLove, Jann Schweitzer und Tjark Kunstreich in dem Buch: Patsy lʼAmour LaLove (Hg.), Beissreflexe. Kritik an queerem Aktivismus, autoritären Sehnsüchten, Sprechverboten, Berlin 2017.
- Lukas Betzler und Hauke Branding verweisen darauf, dass Hocquenghems Begriff des homosexuellen Begehrens nicht im Sinne einer Regression auf ein vermeintlich ursprüngliches und gesellschaftlich unvermitteltes Begehren (das es gar nicht geben kann) verstanden werden sollte, sondern als utopische Kategorie, die auf die Zukunft und wirklich menschenwürdige gesellschaftliche Bedingungen verweist. Vgl. Lukas Betzler / Hauke Branding, Guy Hocquenghems radikale Theorie des Begehrens. Nachwort zur Neuherausgabe, in: Guy Hocquenghem, Das homosexuelle Begehren, Hamburg 2019, S. 151–187, hier S. 174.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Hannah Schmidt-Ott.
Zur PDF-Datei dieses Artikels im Social Science Open Access Repository (SSOAR) der GESIS – Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften gelangen Sie hier.
Teil von Dossier
Eine Revolution des Begehrens?
Vorheriger Artikel aus Dossier:
Von hinten alle gleich?
Nächster Artikel aus Dossier:
Im Widerspruch zur identitären Ordnung
Empfehlungen
Weiterkämpfen, auch nach dem Erfolg
Rezension zu „Queer Legacies. Stories from Chicago’s LGBTQ Archives“ von John D’Emilio
Eine kritische Theorie im Interregnum
Rezension zu „Queere Theorien zur Einführung“ von Mike Laufenberg
Judith von der Heyde, Francesca Barp
„Der Prototyp Ultra ist ein Mann“
Judith von der Heyde im Gespräch über ihre Forschungen zur Fankultur