Hans-Peter Müller | Essay |

Die Geschlechterfrage

Ein Vergleich der Positionen von Robert Michels und Georg Simmel

Einleitung

Im Folgenden soll eine kleine, systematische Skizze zur Geschlechterproblematik bei Robert Michels und Georg Simmel gegeben werden. Allerdings bin ich weder Michels-Spezialist noch einschlägiger Geschlechterforscher. Vielmehr habe ich mich eher mit Georg Simmel beschäftigt[1] und arbeite gegenwärtig an einer intellektuellen Biografie. Mein Interesse hier ist theoretischer und historischer Natur: Haben die beiden Klassiker Umrisse einer tragfähigen Geschlechtertheorie formuliert? Und wie fügt sich ihre Beschäftigung mit der Geschlechterfrage in ihr Gesamtwerk ein?

Zur Beantwortung dieser Fragen gehe ich im ersten Schritt auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede der beiden Klassiker ein. Im zweiten Schritt werde ich die Geschlechterproblematik an drei Punkten exemplarisch illustrieren: Frauenfrage, Ehe und Prostitution, Liebe und Koketterie. Freilich zeichnet Michels ein dezidiertes Interesse an der rechtlichen Besserstellung vor allem arbeitender Frauen aus, während Simmel am Dualismus der Geschlechter und der geschlechtlichen Arbeitsteilung ansetzt. In einem knappen, dritten Schritt werden die Ergebnisse zusammengefasst und deren Stellenwert für die heutige Diskussion erörtert.

Gemeinsamkeiten und Unterschiede

Michels und Simmel gebührt das Verdienst, zu den klassischen Soziologen zu gehören, die sich der Geschlechter- und Frauenfrage systematisch angenommen haben. Die soziale Frage, die ihre Zeit beherrschte, wurde vor allem als Arbeiterfrage verstanden und soziologisch als Klassenfrage diskutiert. Noch heute werden Karl Marx und Max Weber angerufen, wenn es um die beiden zentralen und längst klassisch gewordenen Klassentheorien geht.

Aber schon Georg Simmel vermutete, dass die Frauenfrage eines Tages wichtiger werden würde als die Arbeiterfrage. Wie recht er mit dieser Einschätzung behalten sollte. Die feministische Bewegung und geschlechtertheoretisch motivierte Frauen dürften sich heute deutlich in der Überzahl gegenüber der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung in der westlichen Welt befinden. Auch das Proletariat ist deutlich kleiner geworden, weil es mehr Angestellte als Arbeiter gibt. Das multikulturelle Dienstleistungsprekariat, was an seine Stelle getreten ist, erweist sich als chronisch organisations- und konfliktunfähig. Längst schlägt „Geschlecht“ im sozialwissenschaftlichen Diskurs „Klasse“, an deren Stelle ein generelles Antirassismus-Engagement oder der Dreiklang von Sexismus, Rassismus und Klassismus getreten ist.

Robert Michels’ Reflexionen zur Geschlechtermoral thematisieren und problematisieren auf breiter Front die Benachteiligung von Frauen in allen Lebensbereichen. Simmel wird zwar von dem gleichen advokatorisch-feministischen Engagement getragen wie Michels, versucht aber so etwas wie eine Geschlechtertheorie in der Moderne zu entwerfen, die sein kulturtheoretisches Erkenntnisinteresse unterstreicht. Einerseits plädiert er für die Emanzipation der Frauen, so wie es Michels tat. Emanzipation hat mit ihrer Gleichstellung zu beginnen, denn nur wenn Frauen ihre Lebensführung selbst wählen können, gewinnen sie ihre Freiheit und können ihre Individualität ausbilden. Andererseits liegt Simmel aber auch die weibliche Kultur am Herzen, die er nicht auf dem Altar der modernen Gesellschaft und ihrer Entfremdung geopfert sehen will. Händeringend sucht er nach einer „objektiven Kultur“ beziehungsweise einem Äquivalent für Frauen, denn die objektive Kultur, so seine These, war bis dato stets männlich geprägt.

Versucht man, zugegebenermaßen etwas zugespitzt, ihre Beiträge auf den Begriff zu bringen, so lassen sich folgende Thesen entwickeln. Michels ist ein Einheitsdenker, der am liebsten die Kategorie der Geschlechtlichkeit als Differenzierungs- und Distinktionskriterium gänzlich zum Verschwinden bringen würde. Denn Mann und Frau als Gattungswesen „Mensch“ sind von Natur aus gleich und müssen nur noch gesellschaftlich gleichgestellt werden. Das ist sein menschenrechtlicher Ausgangspunkt, sowohl analytisch als auch normativ. Die gleichen Rechte für alle Menschen, gleich welcher „Rasse“, Klasse oder Geschlecht, lassen sich durch die breitenwirksame Etablierung der Demokratie realisieren. Menschenrechte und Demokratie sowie die Aufhebung der traditionellen Geschlechterrollen, so Michels’ zuversichtliche Prognose, werden die Geschlechterproblematik auf lange Sicht lösen. Sein Denken in dieser frühen Phase seines Werkes[2] kulminiert im kohärenten Dreiklang von Demokratie, Sozialismus und Feminismus.

Simmel dagegen ist ein Differenzdenker. Die Kennzeichen für die Moderne sind Differenzierung, Fragmentierung und Zerrissenheit, was das Ende jeglicher Totalität oder Einheit impliziert. Auch sind Mann und Frau grundverschieden, weshalb Simmel ein Anhänger der Geschlechterpolarität und der Komplementaritätsthese ist.[3] Different und konvergent, verschieden, aber sich kongenial ergänzend nimmt Simmel das althergebrachte „Two-Sex-Model“ auf,[4] versucht ihm zugleich aber eine moderne Lesart angedeihen zu lassen. Freilich lässt sein feministischer Ausgangspunkt auch ihn daran zweifeln, dass aus den Geschlechter-Unterschieden Ungleichheit und Ungleichbehandlung folgen sollten, weshalb er sich strikt gegen den Ausschluss von Frauen aus Bildung und Beruf ausspricht. Gerade er hat in seinen Lehrveranstaltungen stets Frauen zugelassen, was ihm unter anderem zum karrieretechnischen Verhängnis werden sollte. Neben seiner Ehefrau, Gertrud Kinel, waren auch seine engsten Mitarbeiterinnen hochkluge Frauen wie Gertrud Kantorowicz und Margarete Susman. Tatsächlich hatte er die „neue Frau“, wie sie ihm vorschwebte, stets bereits im Plural an seiner Seite, so wie Robert Michels Gisela Michels-Lindner an seiner Seite wusste. Die beiden Soziologen hatten also ihre idealen Geschlechter- und Rollenmodelle bei ihren Ausführungen schon vor Augen. Dennoch konstatiert Michels ernüchtert: „Das intellektuelle Weib ist heute freilich noch in allen Gesellschaftsklassen dünn gesät.“[5]

Die Relevanz der Geschlechterproblematik als Gemeinsamkeit, die Geschlechterauffassung als zentraler Unterschied beschäftigen sich beide Denker mit den relevanten Problemen in diesem Feld. Michels und Simmel analysieren die Frauenfrage allgemein, Ehe und Prostitution, Liebe und Koketterie, um die Geschlechterverhältnisse in ihrer Zeit auszuleuchten. Beide argumentieren vornehmlich in soziologischer Absicht, weshalb die Gesellschaft oder die Vergesellschaftung im Simmelschen Sinne im Mittelpunkt stehen, nicht so sehr aber die Politik. Bewegungstheoretische und politische Fragen verfolgt Michels in weiteren Schriften, Simmel verbleibt in seinem Gesamtwerk (mit Ausnahme seiner existenziellen Stellungnahme im Ersten Weltkrieg) völlig unpolitisch.[6]

Freilich adressieren sie die Geschlechterproblematik auch in zweierlei Weise: Michels argumentiert eher sozial- oder gesellschaftspolitisch. Ausgehend von den empirischen Verhältnissen der Geschlechter analysiert er Missstände und die gesellschaftliche Benachteiligung der Frauen. Vor dem Hintergrund dieser Bestandsaufnahme setzen seine Forderungen nach Gleichberechtigung ein. Sie sind politischer und normativer Natur. Insgesamt gesehen sollte der Sozialismus als politische Rahmenordnung auf der Basis von Menschenrechten und Demokratie den entscheidenden Fortschritt nicht nur in den Geschlechterverhältnissen, sondern auch in den nationalen und klassenbezogenen Verhältnissen erbringen.

Simmel dagegen argumentiert eher sozialphilosophisch und psychologisch. Auch wenn er das moderne Weltbild – ähnlich wie Émile Durkheim in Frankreich – durch den Gegensatz von Individualismus und Sozialismus charakterisiert sieht, steht er dem Sozialismus als Lösungsschlüssel für alle gesellschaftlichen Probleme nach anfänglicher Sympathie in jungen Jahren später eher skeptisch gegenüber. Der Sozialismus mag durch Nivellement den Status von benachteiligten Gruppierungen zu heben – das steht auf seiner Habenseite und sein Gleichheitsversprechen dürfte für seine unwiderstehliche Attraktivität sorgen. Freilich, so Simmel, geht das meist nur auf Kosten der Freiheit und der schöpferischen Kräfteentwicklung von Unternehmern, Wissenschaftlern und Künstlern, die Gefahr laufen, in das bevormundende Korsett einer sozialistischen Ordnung gezwängt zu werden. Die „tragische Folge jeder Nivellierung […]: daß sie das Hohe mehr herunterzieht, als sie das Niedrige erhöhen kann“.[7] Das markiert die Sollseite des Sozialismus. Die Zeichen der Modernität mit ihrer Differenzierung und Spezialisierung aller gesellschaftlichen Verhältnisse stehen jedoch eher auf Individualisierung, um die weitere technische, wissenschaftliche, wirtschaftliche und soziale Entwicklung nicht zu behindern, sondern zu ermöglichen. Obgleich vor allem der Sozialismus den gesellschaftlichen Fortschritt auf seine Fahnen schreibt, sollte der Kapitalismus mit seiner überwältigenden Umwälzungskraft, wie sie schon Karl Marx im Kapital analysiert hatte, für den wissenschaftlichen, technischen und ökonomischen Fortschritt in modernen Gesellschaften sorgen. Genau vor diesem gesellschaftlichen Hintergrund – der Spannung zwischen Sozialismus und Individualismus als modernem Weltbild und der Differenzierung und Spezialisierung als Spezifika der modernen Gesellschaft – diskutiert Simmel den Wandel der Geschlechterverhältnisse. Freilich bleibt Simmel mit seinem Beharren auf der Komplementaritätsthese und der Rettung der „Weiblichen Kultur“ vor der subversiven Kraft der Modernität letztlich einem bürgerlichen Ideal der Frau als ,Spezialistin‘ für die Kultur der Familie und die Erziehung der Kinder verhaftet.

Und noch einen weiteren Unterschied gilt es eingangs zu konstatieren: Michels fasst seine Überlegungen in den Grenzen der Geschlechtsmoral in einer Monografie zusammen, obgleich es sich genau genommen nur um Essays handelt. Simmel hingegen, der bereits 1890 mit einer „Psychologie der Frauen“ hervortritt und in der Folge immer wieder Aufsätze zur Thematik verfasst, bündelt seine Reflexionen weder in einer Monografie noch setzt er sie ins Verhältnis zu seiner späten Lebensphilosophie. Immerhin erscheinen seine reifsten Texte – „Weibliche Kultur“ und „Das Relative und das Absolute im Geschlechter-Problem“ – in seinem Werk Philosophische Kultur just im Jahre 1911, in dem auch Michels’ Buch das Licht der Welt erblickten sollte. Diese zeitliche Koinzidenz – Geburtsjahr 1911 – birgt viele thematische Gemeinsamkeiten, aber auch zahlreiche konzeptuelle Unterschiede, wie wir sehen werden.

Das Feld der Geschlechter-Problematik: Frauenfrage, Ehe und Prostitution, Liebe und Koketterie

Michels und Simmel stimmen überein in der Analyse der gesellschaftlichen Situation der aktuellen Geschlechterverhältnisse. Der Strukturwandel von agrarisch-ländlichen zu industriell-städtischen, kapitalistischen Industriegesellschaften hat auch die Rolle der Frau auf die Agenda gesetzt. In den bürgerlichen Kreisen ist die Hausarbeit aufgrund maschineller Erleichterung nicht mehr der einzige Lebenszweck von bildungshungrigen und berufsneugierigen Frauen. Ihre alte Rolle erfüllt sie nicht mehr und sie sind auf der Suche nach einer neuen Rollenkonfiguration mit größerem Entwicklungspotenzial für die eigene Persönlichkeit. Drängen bürgerliche Frauen in den Beruf als Versprechen der eigenen Emanzipation, würden proletarische Frauen wohl nicht ungern zu Hause bleiben, um sich besser um Haushalt und Familie kümmern zu können ohne die Doppelbelastung, die ihnen die harte und lange Fabrikarbeit auferlegt. „Die eine Klasse der Frauen will in das Haus zurück, die andre aus dem Haus heraus“,[8] notiert auch schon Simmel in „Die Kreuzung sozialer Kreise“ im Jahre 1908. So verfolgen denn auch bürgerliche und proletarische Frauenbewegung letztlich unterschiedliche Ziele. Zwar ist ihnen gemeinsam, dass sie das Los der Frauen generell verbessern wollen, aber doch mit durchaus unterschiedlicher Stoßrichtung. Die bürgerlichen Frauen wollen stärker am gesellschaftlichen Leben partizipieren können, ohne den Charakter von Gesellschaft von Grund auf zu verändern. Die bürgerliche Frauenbewegung ist insofern eher reformorientiert. Die proletarische Frauenbewegung dagegen glaubt nur dann den Frauen helfen zu können, wenn eine sozialistische Gesellschaftsordnung errichtet wird. Sie sind insofern revolutionsorientiert, wie es zumindest die Sozialdemokratie vor dem Ersten Weltkrieg noch offiziell proklamierte. Michels als Sozialdemokrat steht in dieser Zeit politisch der proletarischen Frauenbewegung nahe, obwohl er in geistiger Hinsicht mit allen Richtungen dieser Bewegung kommuniziert. Simmel als klassischer Bildungsbürger hingegen neigt eher der bürgerlichen Frauenbewegung zu, mit der er in regem Austausch steht, vor allem mit Helene Lange, Gertrud Bäumer und Marianne Weber.

Neben dem Strukturwandel der Gesellschaft zeichnet sich auch ein Kulturwandel ab. Denn Michels wie Simmel erleben den „Beginn der sexuellen Revolution des 20. Jahrhunderts“.[9] Der Psychoanalytiker Otto Gross etwa wirbt massiv für die sexuelle Befreiung der Frau wie die freie Liebe und erobert das Heidelberger Bürgertum im Sturm. Das Bollwerk von Ehe und Familie wird erschüttert und setzt die Frauenfrage auf die Agenda. Es ist bemerkenswert, dass sich Michels und Simmel, bei aller Anerkennung der Kritik an der zeitgenössischen Verfasstheit von Ehe und Familie, doch vehement für die beiden Institutionen als stabile Grundlage auch der modernen Gesellschaft einsetzen. Michels kritisiert zwar schon im Vorwort „die Form als staatliches Zwangsmittel“, nur um sofort anzufügen, dass er „in der monogamischen und unzertrennlichen Familie“ „ein sittliches Ziel sieht, das gewiß niemals erreicht werden wird, dessen Anstrebung aber zugleich im individuellen wie im kollektiven Interesse der Menschheit liegt und beiden gleicherweise Früchte bringt“: dem Einzelnen gibt die Familie Halt und Hort, der Menschheit eine basale soziale Ordnung.[10] Auch Simmel, der sich in seiner „Soziologie der Familie“ mit Entstehung und Entwicklung der Familie und ihrer Formen auseinandersetzt, lässt keinen Zweifel an der Unersetzlichkeit der Institutionen von Ehe und Familie. Interessanterweise lehnen beide Denker indes die propagierte „freie Liebe“ wegen ihrer unabsehbaren Folgen und Nebenfolgen als „sittlich bedenklich“ ab. Alle menschliche Gesellschaftsformen haben die Sexualität als gleichsam sittliche Affektkontrolle stets reguliert und streng geregelt, um von dieser Seite die soziale Ordnung zu gewährleisten.

Was aber bedeutet diese Positionierung für die Stellung der Frauen in der Gesellschaft? Es scheint fast so, als ob beide Denker die einflussreiche Erklärung von Herbert Spencer teilen. Spencer hatte die Moderne durch den Übergang von kriegerischen Militärgesellschaften zu friedlichen Industriegesellschaften zu erklären versucht. Simmel greift diese These in seinem Aufsatz „Der Militarismus und die Stellung der Frauen“ aus dem Jahre 1894 auf, nur um Spencers These im Großen und Ganzen zu untermauern. Denn: „wo die kriegerische Tüchtigkeit zum Maßstab aller Werte wird, finden auf der Skala derselben die Frauen im ganzen nur den untersten Platz“.[11] Simmel diskutiert in der Folge verschiedene Gesellschaftsformationen in der Menschheitsgeschichte zur Bestätigung des Zusammenhangs „für die Vorherrschaft des männlichen Prinzips, die derjenigen der Kriegsinteressen parallel gehen muß“.[12] Die einzige Ausnahme von dieser historisch-empirischen „Gesetzmäßigkeit“ ist nur da gegeben, wo Frauen am Kriegsdienst teilnehmen und selbst aktiv kämpfen. Das tut ihrer sozialen Stellung gut, weshalb die Frauen bei den Spartanern in höherem Ansehen standen „als in dem unvergleichlich gebildeteren und humaneren Athen“.[13] Die Korrelation zwischen kriegerischer Gewalt und Statusniveau der Frauen ist damit klar, erbringt doch „die Ausnahme die volle Bestätigung der Regel: wo das kriegerische Interesse nicht, wie gewöhnlich, die Frauen ausschließt, sondern geradezu einschließt, muß das Vorherrschen desselben sie ebenso erhöhen, wie es sie sonst erniedrigt“.[14] Dennoch ist für beide Denker die Richtung der historischen Entwicklung klar. Die Superiorität des männlichen Prinzips geht einher mit der Inferiorität des weiblichen Prinzips. Die männliche Herrschaft,[15] so Michels kurz und bündig, macht die Frau zur „Beute für den Mann“.[16] Die Rede vom „starken Geschlecht“ und vom „schwachen Geschlecht“ scheint für das Gros der Menschheitsgeschichte Geltung beanspruchen zu dürfen.

Auch die Ehe und Familienbildung scheinen da zunächst keine Abhilfe zu schaffen. Simmel schildert in seiner Philosophie des Geldes die historischen Typen und die Abfolge der Heiratsstrategien. Die erste Stufe, kompatibel mit der Gewaltgeschichte des Krieges, ist die Raubehe, auf die auch Michels en passant zu sprechen kommt. „Die Männer werden als Feinde erschlagen, die Frauen werden, soweit sie willig – und es finden sich stets willige genug – zum Beischlaf begehrt, während zu Hause die Ehefrauen in Todesängsten der Heimkehr der Helden harren und inzwischen ihre Siegerkränze winden.“[17] Hier wird die Frau buchstäblich zum Beutegut, „so daß Vielweiberei oft das Ergebnis erfolgreichen Kriegertums ist“.[18]

Auf der nächsten Stufe findet sich die Kaufehe. Für Simmel ist das schon ein echter sozialer Fortschritt, wird doch der Mann zum Brautpreis gezwungen. Je höher der ausfällt, desto „wertvoller“ wird die erworbene Frau in den Augen ihres zukünftigen Ehemanns und der sozialen Umwelt, die an der Höhe des entrichteten Preises Status und Stellenwert der erworbenen Braut ablesen kann. Statt sich einfach zu nehmen, was er kriegen kann, muss der Mann hier ein „Opfer“ erbringen, um in den Besitz des begehrten Liebesobjekts zu kommen. Je größer das „Opfer“ ausfällt, desto höher steigt der „Wert“ der Frau. Es ist nun interessant, dass dieser Zusammenhang, der für die Kaufehe gilt, Simmel zufolge in allen Prozessen der Wertbildung eine entscheidende Rolle spielt. Der Wert hängt nicht wie selbstverständlich an der Haut eines begehrten Objektes so wie ein Preisschild; sondern erst im Tauschprozess nach dem reziprozitätsorientierten Prinzip des do ut des wird ein Opfer eingesetzt, in der Hoffnung, dafür das begehrte Gut zu erlangen. Für Simmel repräsentiert dieser Prozess das Geheimnis der Wertbildung. Werte gibt es demnach nicht an sich, sondern sie bilden sich an-, mit-, für- und gegeneinander. Kurzum: Sie sind der Logik und ultimativen Dynamik der wechselseitigen Erwägung, Vergleichung und Abschätzung ausgesetzt. Für Simmel begründet diese zentrale Einsicht den absoluten Werterelativismus in der Moderne, in der auch Frauen wie alle anderen wertgeschätzten Objekte und Güter ihren Preis als Ausdruck ihres Werts in Vergleichsprozessen erst gewinnen. Erst im kompetitiven Vergleich wird der Wert eines Status, hier der Frau, ermittelt. Immerhin gewinnt die Frau im Übergang von der Raub- zur Kaufehe, denn sie wird nicht einfach gewalttätig angeeignet, sondern nur nach Verhandlungen über ihren Kaufpreis im Zuge der Heiratsgespräche gleichsam kontraktuell erworben. Genau das markiert für Simmel den kulturellen Fortschritt: „die Frauen sind etwas wert – und zwar in dem psychologischen Zusammenhange, daß man nicht nur für sie bezahlt, weil sie etwas wert sind, sondern daß sie etwas wert sind, weil man für sie bezahlt hat“.[19]

Der nächste Schritt, so Simmel, ist dann schließlich die Mitgift der Braut. Den Eltern der Braut gibt die Mitgift die Zuversicht, dass der zukünftige Ehemann seine „wertvolle“ Gattin anständig behandeln wird. Der Ehemann dagegen wird durch die Mitgift entscheidend darin gestützt, eine Familie zu gründen und in Zukunft dann auch die Versorgung seiner Frau und seiner Kinder zu übernehmen.

Dennoch erfolgt auch selbst hier noch die Behandlung der Frau nur als „Sache“ und nicht als Mensch, dessen Eigenart wie Einzigartigkeit der Person erst die notwendige Wertschätzung noch erfahren sollte. Michels wie Simmel scheinen ihre Beurteilung der Frauenfrage von dem modernen „Gradmesser des kategorischen Imperativs“ von Kant abhängig zu machen,[20] wonach im menschlichen Verkehr das Gegenüber niemals als bloßes Instrument eigener Interessenverfolgung, sondern stets als Person auf gleicher Augenhöhe zu behandeln ist.

Raub, Kauf und Mitgift markieren die Formen, unter denen Frauen den Weg ihres vermeintlichen Geschlechterschicksals beschreiten, denn das scheint seit jeher ihr vorherbestimmter Gang in die Ehe zu sein. Während der Mann, so heißt es gern, den „Kampf ums Dasein“ führt, ist die Frau mit dem „Kampf um den Mann“ beschäftigt. Freilich ist dieses sogenannte „Geschlechterschicksal“ nur eine Möglichkeit, um über das Segeln in den Hafen der Ehe eine dauerhafte Versorgung zu erlangen. Die andere Möglichkeit besteht darin, auf eigenen Füßen zu stehen und sich selbst zu versorgen. Allerdings sind in diesem Ehelosigkeitsspiel die Karten extrem ungleich verteilt, je nach sozialer Klassenlage der Frau und ihrer Familie, aus der sie entstammt. Michels und Simmel interessieren sich in diesem Fall vor allem für schlechter gestellte und daher minder bemittelte Frauen, denn denen bleibt scheinbar nur der Weg oder vielleicht besser: der Ausweg in die Prostitution.

Die soziale Frage, sofern sie eben nicht nur Arbeiter-, sondern auch Frauenfrage war, drehte sich vornehmlich um das Problem der Prostitution. In den 1890er-Jahren hatten sich Sittlichkeitsvereine gegründet, deren Ziel die konsequente Abschaffung jeglicher Art von käuflicher Liebe war. Der junge Georg Simmel, noch Privatdozent, aber schon mit kräftigen Werken hervorgetreten wie „Über soziale Differenzierung“, „Einleitung in die Moralwissenschaft“ und „Probleme der Geschichtsphilosophie“, deshalb noch in guter Hoffnung auf einen philosophischen Lehrstuhl, wagte nicht, seine Überlegungen zum Thema unter seinem Namen zu veröffentlichen. Vielmehr publizierte er „Ex malis minima! Reflexionen zur Prostitutionsfrage“ (1891) und „Einiges über Prostitution in Gegenwart und Zukunft“ (1892) jeweils anonym. Das war wohl eine nicht ganz unbegründete Vorsicht, denn sonst hätte Simmel seine Auffassung vermutlich kaum so ungeschminkt vortragen können. Michels wie Simmel verurteilen unisono die käufliche Liebe, die es seit Menschengedenken gibt. Aber Simmel weist daraufhin, dass „mit wachsender Kultur ein gewachsener Bedarf an Prostitution“ einhergeht.[21] Dieser auf Anhieb überraschende Befund resultiert aus dem Missverhältnis zwischen Geschlechts- und Berufsreife beim Mann. „Die Nothwendigkeit der Prostitution in höheren Kulturen gründet sich auf der Zeitdifferenz zwischen der eintretenden Geschlechtsreife und der geistigen, ökonomischen und Charakterreife des Mannes. Denn diese letztere wird mit Recht gefordert, ehe die Gesellschaft ihm die Gründung eines eigenen Hauses gestattet. Aber immer weiter schiebt der gesteigerte Kampf ums Dasein die wirtschaftliche Selbständigkeit hinaus; immer später gewahren die komplizirten Ansprüche der Berufstechnik und der Lebenskunst die volle Ausbildung des Geistes; […]. So rückt der Zeitpunkt, zu dem ein Mann ein Weib legitim besitzen kann, immer höher“.[22] Die Folge, so Simmel, ist der wachsende Bedarf an Prostitution, weil einerseits der Mann sich nicht in der Lage sieht, mit dem Geschlechtsverkehr bis zur späteren Eheschließung zu warten, und weil andererseits „anständige“ Mädchen ihre Heiratschancen nicht durch voreheliche Liebeshändel gefährden wollen. Das Resultat ist die käufliche Liebe.

Michels tritt diesem Missstand entgegen, indem er die Keuschheit des Mannes fordert: „Das sittliche Geschlechtsideal des Mannes kann nur in der strengsten Monogamie bestehen.“[23] Und an anderer Stelle: „Die Jungfräulichkeit des Mannes vor der Ehe empfiehlt sich aber auch aus rassehygienischen und medizinischen Gründen.“[24] So glaubt Michels zum einen sexualwissenschaftlich nachweisen zu können, dass Sexualverzicht keine bleibenden Schäden bei den Männern verursacht. Zum anderen beweisen die statistisch hohen Zahlen von Geschlechtskrankheiten, dass „die Jugendkrankheit des sogenannten ‚geschlechtlichen Auslebens‘“eben auch ihren Gesundheitspreis hat.[25] Wenn also von heiratswilligen Frauen sexuelle Askese gefordert wird, so sollte das – ein weiteres Mal aus Gründen der Gleichberechtigung – auch dem Manne zuzumuten sein. Michels’ Fazit: „Die männliche Unberührtheit vor der Ehe ist an sich ein Gut.“[26] Obgleich Michels’ Ausführungen seinem eigenen Anspruch nach stets empirisch fundiert sein sollen, verschließt sein normatives Pathos die Augen vor der unangenehmen Realität. Statt Reformen vorzuschlagen, wie der Prostitution erfolgreich zu begegnen wäre, flüchtet er sich in normativen Heroismus utopischer Natur. Wer so argumentiert, verfährt aus soziologischer Sicht mit geradezu gnadenloser Naivität: „Nur eine auf ökonomischer Basis beruhende relative Kulturgleichheit aller Volksgenossen ohne Unterschied des Geschlechtes kann der Ritter Georg sein, welcher den Drachen Prostitution in seiner heutigen Form wird erledigen können.“[27] Auf den Ritter Georg warten wir noch heute und der Drache hat gut lachen.

Obgleich beide Denker die Prostitution strikt perhorreszieren, ist Georg Simmel ungleich realistischer als sein jüngerer Kollege. Jede Gesellschaft hat analytisch gesehen genau vier Optionen, wie mit dem moralischen Übel umgegangen werden kann. 1. Der Staat kann sie einfach zugunsten des Marktes freigeben und ansonsten die Prostitution geflissentlich ignorieren. Die Folge: „diese Anwendung des Freihandels-Prinzips würde nur bedeuten, daß jede Dirne die Freiheit hätte, ganze Generationen zu vergiften“.[28] 2. Der Staat verbietet die Prostitution nach dem Motto: „Was nicht sein soll, darf auch nicht sein.“ Mit dem Erfolg, dass die käufliche Liebe in die dunklen Ecken der Gesellschaft verschoben wird, wo Zuhälter und Freier mit den ,gefallenen Mädchen‘ machen können, was sie wollen. Da die ,gute Gesellschaft‘ davon aber nichts mehr mitbekommt, weil die Problematik unter den Teppich gekehrt worden ist, könnte man diese Alternative irrtümlicherweise für eine vernünftige Lösung halten. Das scheint Michels’ Position zu sein. 3. Der Staat knüpft die Erlaubnis zur Prostitution an eine engmaschige „sanitätspolitische Kontrolle“. Das mag zwar die einzelne Dirne schützen, setzt aber der Ausweitung des Übels keine Grenzen. 4. Schließlich kaserniert man die Prostitution, zentralisiert sie in staatlich überwachten Bordellen und verbietet die Straßenprostitution. Das hält Simmel für das geringste Übel, weil es mit maximaler „Sicherheit der Gesundheitskontrolle der Prostituierten“ einhergeht.[29] „Der Kampf gegen die thatsächlich vorhandene Prostitution stellt sich hauptsächlich als Kampf gegen das Zuhältertum, gegen die rapide Zunahme der Zahl der Prostituierten dar, und die kasernierte Prostitution muß die freie ablösen, wenn sie eine Station des Weges zum Sieg sein soll.“[30]

Simmel hält die letztgenannte Lösung für die beste, weil sie das moralische Übel zwar nicht komplett beseitigt, aber in einer Sonderwelt zu isolieren und die Gesellschaft von der vergiftenden Wirkung der Prostitution freizuhalten vermag. Der Schutz vor ihrer Pathologie, so Simmels Hoffnung, könnte auch die Ehe auf der Basis wechselseitiger Zuneigung und gegenseitiger Anerkennung der jeweiligen Persönlichkeit begünstigen. Zwar lässt sich nach Simmel die Prostitution nicht vollständig abschaffen, aber immerhin stark einschränken. Und genau diese Reduktion wertet im Gegenzug die legitimen Intimitätsverhältnisse auf.

Dieses Ideal, die Individualität der Person zu respektieren, gilt vor allem in der Liebe als Basis der modernen Ehe. Michels wie Simmel verstehen darunter primär die heterosexuelle Liebe zwischen Mann und Frau. „Liebe ist Geschlechtsliebe.“[31] Zwar betont Michels durch die Parallelisierung von Liebe und Hunger, dass Erotik ein menschliches Grundbedürfnis ist, das keine gesellschaftliche Regelung auf Dauer einfach unterdrücken darf. Dennoch unterstreicht er im gleichen Atemzug die Notwendigkeit der Freiwilligkeit im Geschlechtsakt. „Danach wäre jeder Geschlechtsgenuß als unsittlich zu betrachten, der unter Verletzung der physischen oder der moralischen Persönlichkeit des Einen vor sich geht.“[32] Freilich vertieft Michels seine Überlegungen zur Liebe nicht weiter, sondern konstatiert mit seinen erotischen Streifzügen nur den überlegenen erotischen Wert der Französin gegenüber der plumpen Deutschen. Ja, er zitiert sogar eine Bulle von Papst Alexander VI., die den deutschen Frauen anrät, „sich im Liebesgenuß mehr aktiv und lebendig zu bezeigen, um dadurch die Ehe vitaler zu gestalten und den Mann mehr zu befriedigen“.[33] Das Wesen der Liebe versucht dagegen Simmel eingehender in einem Fragment aus seinem Nachlass zu erkunden. „Daß die Liebe zu den großen Gestaltungskategorien des Daseienden gehört“, dass „sie aus völlig irrationalen Lebenstiefen aufsteigt“, dass sie „ein originäres einheitliches Gebilde“, ja „eine unbegründete primäre Kategorie“ ist, zeigt, dass „das Lieben als eine immanente, […] formale Funktion seelischen Lebens anzuerkennen“ ist.[34] Als Beispiel für die absolute Liebe nennt Simmel das Paar Eduard und Ottilie aus Goethes Roman Die Wahlverwandtschaften, ist doch hier „alles Gattungsmäßige […] hinweggeläutert […] und das Gefühl ausschließlich der unersetzbaren Persönlichkeit als solcher“ verwirklicht.[35] Freilich: So wichtig die Liebe als Phänomen sui generis auch als zentrale Lebensmacht sein mag, so labil ist sie als Gefühl. Genau deshalb, so Simmel, muss sie institutionell durch die Ehe und die Familie, sozial und emotional durch die Treue geschützt werden.

Die Koketterie dagegen ist eine Spielform der Liebe, wie Michels und Simmel übereinstimmend feststellen. Michels möchte „die Koketterie […] als einen häufig unbewußten Versuch bezeichnen, den polygamen Geschlechtstrieb ohne Begehung materiell grob-sinnlicher Akte zu befriedigen“.[36] Koketterie spielt an auf Gefallsucht und Michels warnt, „die Gefallsucht wird leicht zur Fallsucht, wenn sie nichts weiter sein soll als die Eroberung des Mannes zum Zwecke der Liebe“.[37] Simmel hingegen knüpft an Platons Definition von Liebe an, „daß sie ein mittlerer Zustand zwischen Haben und Nicht-Haben sei“ und wendet diese Bestimmung auch auf die Koketterie an.[38] „Durch Abwechslung oder Gleichzeitigkeit von Entgegenkommen und Versagen, durch symbolisches, angedeutetes, ‚wie aus der Ferne‘ wirksames Ja- und Neinsagen, durch Geben und Nichtgeben oder, platonisch zu reden, von Haben und Nichthaben, die sie gegeneinander spannt, indem sie sie doch wie mit einem Schlage fühlen läßt – es ist ihr eigen, durch diese einzigartige Antithese und Synthese Gefallen und Begehren zu wecken.“[39] Eingebunden in die Geschlechterverhältnisse ist die Frau die Kokette, der Mann der Eroberer. Aber Simmel sieht in der Koketterie gleichsam eine Attitüde des modernen Lebens: „Es ist die Form, in der die Unentschiedenheit des Lebens zu einem ganz positiven Verhalten kristallisiert ist, und die aus der Not zwar keine Tugend, aber eine Lust macht.“[40]

Schlussbetrachtung

Vielleicht hat ja Lewis A. Coser mit seiner Einschätzung zu Simmels Behandlung der Geschlechterproblematik Recht: „Simmels Diagnose war äußerst modern, seine Behandlung aber wilhelmisch.“[41] Gleiches ließe sich vielleicht auch über Michels sagen. Beide verbleiben in ihrem advokatorischen Feminismus am Ende doch ihrer eingefleischten männlichen Rolle verhaftet. Beide geben eine zutreffende Diagnose der wilhelminischen Geschlechterverhältnisse und beide glauben auch gleich zu wissen, wie sich die Probleme lösen lassen. Michels ruft eine sozialistische Gesellschaftsordnung an, in der durch Menschenrechte und Demokratie die Aufteilung in Geschlechtsrollen aufgehoben und dadurch die Geschlechterfrage ein für allemal gelöst sein sollen. Die Erfahrungen des real existierenden Sozialismus blieben ihm erspart. Tatsächlich wurden dort die traditionellen Rollen kontinuiert, nur dass alle Frauen der Doppelbelastung von Arbeit und Familie ausgesetzt wurden, ohne dass der „sozialistische Mann“ bei Hausarbeit und Erziehung geholfen hätte, wie Michels sich das erhofft hatte.

Simmel möchte die weibliche Kultur vor der Kolonisierung durch die moderne Gesellschaft retten. Die Frau ist ihm das undifferenzierte und dadurch einheitliche Wesen, dass der Totalität des Seins, die die Moderne aufgesprengt hat, noch nähersteht. Gerade weil er von der Geschlechterpolarität ausgeht, vermag die Frau als unentfremdetes Wesen der Hyperdifferenziertheit und einseitigen Spezialisiertheit des Mannes komplementär entgegenzuwirken. Freilich verlangt auch die moderne Frau ihre Partizipation an der objektiven Kultur, die aber kategorial einseitig männlich konnotiert ist. Aus diesem Dilemma hat Simmel nicht herausgefunden, denn auch die weibliche objektive Kultur bleibt der Komplementaritätsperspektive verpflichtet mit der Folge, dass Frauen in seinen Augen vor allem in dem Bereich segensreich wirken können, der heute mit dem „Care“-Komplex im weitesten Sinne umschrieben wird. Warum die Frauen nicht einfach ihrerseits zur objektiven Kultur beitragen sollten, haben schon seine Ehefrau und auch Marianne Weber nicht so recht verstanden.[42]

Eine ausgearbeitete Geschlechtertheorie haben beide Denker nicht aufzuweisen. Bei Michels sind seine Überlegungen Ausfluss seiner politischen Soziologie und in seiner frühen Werkphase Teil des Kampfes um den Sozialismus. Seine normativen Vorschläge – Verbot der Prostitution, sexuelle Enthaltsamkeit für Mann und Frau vor der Ehe, lebenslange partnerschaftliche Monogamie und Familienbildung – mögen moralisch wertvoll und idealiter erstrebenswert sein. Aber sie sind weder realistisch noch erfüllen sie die Kriterien einer „realen Utopie“:[43] Wünschbarkeit, Machbarkeit, Erreichbarkeit. Simmels Behandlung der Geschlechterfrage ist einerseits eingebettet in seine Theorie der Vergesellschaftung, andererseits in seine Theorie der Emotionen. Das gibt seinen Überlegungen mehr analytische Tiefe. Und doch stehen sie quer zu seiner Theorie der Modernität und seiner späten Lebensphilosophie. Die Frau als undifferenziertes und einheitliches Wesen scheint regelrecht vormodern zu sein und soll doch die Männerwelt vor der Entfremdung durch Modernität retten. Ihr berufliches Engagement wird sie aber nolens volens in die Welt der Differenzierung und Spezialisierung hineinreißen und es fragt sich natürlich, was dann aus ihrem ganzheitlichen Wesen wird.[44] Zudem spielt die Geschlechterdifferenz in seiner späten Lebensphilosophie gar keine Rolle mehr. „Das individuelle Gesetz“ wird geschlechterneutral formuliert, so als ob es die Geschlechterpolarität gar nicht mehr gäbe. Trotz dieses kritischen Resümees sind beide Klassiker die einzigen Soziologen, die sich ernsthaft um eine Auseinandersetzung mit der Geschlechterproblematik bemüht und Wege zu ihrer konstruktiven Bearbeitung aufgezeigt haben.

  1. Vgl. u.a. Hans-Peter Müller / Tilman Reitz (Hg.), Simmel-Handbuch. Begriffe, Hauptwerke, Aktualität, Berlin 2018.
  2. Siehe dazu Timm Genett, Der Fremde im Kriege. Zur politischen Theorie und Biographie von Robert Michels 1876–1936, Berlin 2008.
  3. Vgl. Cornelia Klinger, Kultur, weiblich, in: Müller/Reitz (Hg.), Simmel-Handbuch, S. 335–341, hier S. 341.
  4. Siehe die Ausführungen bei Thomas Laqueur, Auf den Leib geschrieben. Die Inszenierung der Geschlechter von der Antike bis Freud, Frankfurt am Main / New York 1992.
  5. Robert Michels, Die Grenzen der Geschlechtsmoral. Prolegomena. Gedanken und Untersuchungen [1911], in: Vincent Streichhahn / Hans Geske, Die Grenzen der Geschlechtsmoral und weitere Schriften. Robert Michels zu Sexualmoral und Frauenbewegung vor dem Ersten Weltkrieg, Berlin 2021, S. 23–162, hier S. 150.
  6. Vgl. Hans-Peter Müller, Die Deutschen und Europa. Georg Simmel als politischer Denker, in: Leviathan 49 (2021), 4, S. 527–544.
  7. Georg Simmel, Gesamtausgabe, hrsg. von Otthein Rammstedt (im Folgenden GSG), Bd. 6: Philosophie des Geldes [1900], hrsg. von David P. Frisby und Klaus Christian Köhnke, Frankfurt am Main 1989, S. 537.
  8. Georg Simmel, Die Kreuzung sozialer Kreise [1908], in: GSG, Bd. 11: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, hrsg. von Otthein Rammstedt, Frankfurt am Main 1992, S. 456–511, hier S. 502.
  9. Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd. 1: Arbeitswelt und Bürgergeist, München 1990, S. 104.
  10. Michels, Die Grenzen der Geschlechtsmoral, S. 24.
  11. Georg Simmel, Der Militarismus und die Stellung der Frauen [1894], in: ders., Schriften zur Philosophie und Soziologie der Geschlechter, hrsg. von Heinz-Jürgen Dahme und Klaus Christian Köhnke, Frankfurt am Main 1985, S. 106–118, hier S. 110.
  12. Ebd., S. 113.
  13. Ebd., S. 117.
  14. Ebd.
  15. Vgl. Pierre Bourdieu, Die männliche Herrschaft, übers. von Jürgen Bolder, Frankfurt am Main 2012.
  16. Michels, Die Grenzen der Geschlechtsmoral, S. 37.
  17. Ebd., S. 39.
  18. Simmel, Der Militarismus und die Stellung der Frauen, S. 107.
  19. Simmel, Philosophie des Geldes, S. 507.
  20. Michels, Die Grenzen der Geschlechtsmoral, S. 40.
  21. Georg Simmel, Einiges über Prostitution in Gegenwart und Zukunft [1891/1892], in: GSG, Bd. 17: Miszellen, Glossen, Stellungnahmen, Umfrageantworten, Leserbriefe, Diskussionsbeiträge 1889–1918, anonyme und pseudonyme Veröffentlichungen 1888–1920, bearb. und hrsg. von Klaus Christian Köhnke unter Mitarb. von Cornelia Jaenichen und Erwin Schullerus, Berlin 2005, S. 261–273, hier S. 266.
  22. Ebd., S. 265 f.
  23. Michels, Die Grenzen der Geschlechtsmoral, S. 92.
  24. Ebd., S. 97.
  25. Ebd.
  26. Ebd., S. 101.
  27. Ebd., S. 80.
  28. Georg Simmel, Ex malis minima! Reflexionen zur Prostitutionsfrage [1891], in: GSG, Bd. 17: Miszellen, Glossen, Stellungnahmen, Umfrageantworten, Leserbriefe, Diskussionsbeiträge 1889–1918, anonyme und pseudonyme Veröffentlichungen 1888–1920, bearb. und hrsg. von Klaus Christian Köhnke unter Mitarb. von Cornelia Jaenichen und Erwin Schullerus, Berlin 2005, S. 251–260, hier S. 253.
  29. Ebd., S. 255.
  30. Ebd., S. 258.
  31. Michels, Die Grenzen der Geschlechtsmoral, S. 126.
  32. Ebd., S. 40.
  33. Ebd., S. 132.
  34. Georg Simmel, Über die Liebe [1921], in: GSG, Bd. 20: Postume Veröffentlichungen, Schulpädagogik, hrsg. von Torge Karlsruhen und Otthein Rammstedt, Frankfurt am Main 2004, S. 116–175, hier S. 123, 122, 124, 125.
  35. Ebd., S. 139.
  36. Michels, Die Grenzen der Geschlechtsmoral, S. 244.
  37. Ebd.
  38. Georg Simmel, Philosophische Kultur. Gesammelte Essais [1911], in: GSG, Bd. 14: Hauptprobleme der Philosophie. Philosophische Kultur, hrsg. von Rüdiger Kramme und Otthein Rammstedt, Frankfurt am Main 1996, S. 159–460, hier S. 256.
  39. Ebd., S. 257.
  40. Ebd., S. 276.
  41. Lewis A. Coser, Georg Simmels vernachlässigter Beitrag zur Soziologie der Frau, in: Georg Simmel und die Moderne, hrsg. von Heinz-Jürgen Dahme und Otthein Rammstedt, Frankfurt am Main 1984, S. 80–90, hier S. 89.
  42. Vgl. Marianne Weber, Die Frau und die objektive Kultur, in: dies., Frauenfragen und Frauengedanken. Gesammelte Aufsätze, Tübingen 1913, S. 238–261.
  43. Erik Olin Wright, Reale Utopien. Wege aus dem Kapitalismus, übers. von Max Henninger, Berlin 2017.
  44. Siehe dazu Cornelia Klinger, Simmels Geschlechtertheorie zwischen kritischer Beobachtung und Metaphysik, in: Müller/Reitz (Hg.), Simmel-Handbuch, S. 828–843.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Karsten Malowitz.

Kategorien: Familie / Jugend / Alter Feminismus Gender Geschichte der Sozialwissenschaften Gesellschaft Gesundheit / Medizin Körper Kultur Normen / Regeln / Konventionen Politische Theorie und Ideengeschichte Wissenschaft

Hans-Peter Müller

Prof. Dr. Hans-Peter Müller ist Professor für Allgemeine Soziologie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Seine Arbeitsgebiete umfassen u. a. klassische und moderne Sozialtheorie, Sozialstruktur und Soziale Ungleichheit, Kultur und Lebensführung.

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