Dirk Hohnsträter | Rezension |

Die Gesellschaft der Singularitäten 7

Kultur, Konsum und die Gesellschaft der Singularitäten

Andreas Reckwitz:
Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne
Deutschland
Berlin 2017: Suhrkamp
480 S., EUR 28,00
ISBN 978-3-518-58706-5

Zu den zahlreichen Vorzügen von Andreas Reckwitz’ Studie über Die Gesellschaft der Singularitäten zählt dessen bemerkenswerte disziplinäre und diskursive Anschlussfähigkeit. Dank seiner beeindruckenden kategorialen Klarheit, brillanten Verdichtungen, thematischen Breite und feinen Beobachtungen bietet das Buch einer Reihe von akademischen Fächern und öffentlichen Debatten Anregung und Anstoß zur Auseinandersetzung. Überzeugend nicht zuletzt durch einen ausgeprägten Sinn für Konflikte und Kehrseiten, gibt es den Leserinnen und Lesern zudem das aufregende Gefühl, ein wenig mehr zu begreifen von jener überwältigenden, tiefgreifenden Umstellung, in der wir uns als Zeitgenossen des frühen 21. Jahrhunderts befinden. Freilich nutzt Reckwitz zeitdiagnostische Elemente gleichsam nur als Trägerrakete zum Take-off einer transformierten Gesellschaftstheorie, die den Strukturwandel der Moderne gedanklich durchdringen will. An diesem Punkt wird Die Gesellschaft der Singularitäten – über ihre reichhaltigen Materialanalysen hinaus – für die Kulturwissenschaft(en) interessant. Denn die Pointe von Reckwitz’ Neuausrichtung der Gesellschaftstheorie liegt in dem, was er – in Erweiterung seiner Untersuchung gesellschaftlicher Ästhetisierungsprozesse[1] – als „Kulturalisierung“ (25) bezeichnet.[2] It’s not just the economy, stupid, it’s also culture (and tech), lautete der Schlachtruf dieser Studie, folgte sie nicht dem unaufgeregten Duktus des Wissenschaftlers. Eine solche Aufwertung des Kulturellen vernehmen Kulturwissenschaftler naturgemäß nicht ohne wohlwollendes Interesse, verlagert Reckwitz ihren ureigenen Gegenstandsbereich doch ins Zentrum der Gesellschaftstheorie. Auf den zweiten Blick kann sich freilich auch Skepsis einstellen und die Frage aufdrängen, welchen Preis die Kulturwissenschaft(en) dafür zahlen, als Hilfswissenschaft auf dem Weg zur nächsten soziologischen Supertheorie zu fungieren – und umgekehrt die Frage stellen, ob die von Reckwitz vorgenommene soziologische Aneignung kulturwissenschaftlichen Wissens zu überzeugen vermag. Im Folgenden setze ich mich mit der Gesellschaft der Singularitäten aus der Sicht eines Kulturwissenschaftlers auseinander. Neben theoretischen Überlegungen stehen dabei, meinen Erkenntnisinteressen als Konsumkulturforscher entsprechend, ökonomische Aspekte im Vordergrund.

Kultur und Kulturalisierung

Zunächst einmal muss gewürdigt werden, dass Reckwitz den notorisch schwierigen Kulturbegriff nicht, wie leider auch unter Kulturwissenschaftlern vielfach üblich, im Dunkel des Vagen und implizit Vorausgesetzten belässt, sondern einen präzisen Definitionsvorschlag unterbreitet. Was versteht er unter Kultur? Einleuchtenderweise reduziert Reckwitz Kultur weder auf ein normatives Kulturverständnis noch auf (hoch)kulturelle Institutionen im engeren Sinn. Er bemerkt, dass Kultur (in der Spätmoderne) quer zu den ausdifferenzierten Funktionssystemen der Gesellschaft verläuft, lehnt es jedoch gleichwohl ab, „jedes soziale Phänomen als kulturelles [zu] verstehen“ (76). Auf Basis seines praxeologischen Zugriffs spricht er weniger von Kultur als von den sozialen Praktiken des Kultivierens und Kulturalisierens: „Kultur ist dort, wo gesellschaftlich Wert zugeschrieben wird“ (79) oder „Kultur im starken Sinne bedeutet, dass Wertvolles von Wertlosem unterschieden wird“ (284). Es sind also Valorisierungsprozesse, die den Kern von Kultur ausmachen. Solche Valorisierungen zeichnen Reckwitz zufolge „Eigenkomplexitäten mit innerer Dichte“ (52, auch 75), eben „Singularitäten“ aus – und zwar mit einer besonderen affektiven Intensität (83). Kulturalisierung, Singularisierung und Affektivierung gehen in Reckwitz’ Ansatz Hand in Hand. Sie prägen eine soziale Logik des Besonderen aus, die im Kontrast zur rationalisierenden Logik des Allgemeinen steht. Beide zusammen bilden die konstitutiven Strukturprinzipien der Moderne, wobei sich in der Spätmoderne das soziale Primat von der Logik des Allgemeinen zur Logik des Besonderen verschiebt.

Reckwitz’ Kulturbegriff ist meines Erachtens in zweifacher Hinsicht problematisch: zum einen durch die Kopplung von Kulturalisierung und Singularisierung, zum anderen durch den Konnex von Kulturalisierung und Affektivierung (87). Denn warum sollte das Allgemeine, ja selbst das Formal-Rationale nicht Gegenstand von durchaus emphatischen Valorisierungsprozessen (gewesen) sein? Wo Mittel zum Zweck stärker wertgeschätzt werden als Selbstzwecke, herrscht(e) nicht etwa keine, sondern eine andere Kultur, eben die Kultur des Technischen, Ingenieurhaften, Bürokratischen etc. Zwar kommt diesen ‚Kulturen‘ eine andere Eigenkomplexität zu als etwa den Atmosphären spätmoderner Erlebniswelten, aber das ändert nichts daran, dass auch sie Valorisierungsprozessen unterlagen und weiterhin unterliegen. Analoges gilt für die affektive Besetzung des Allgemeinen, die Reckwitz in einer Fußnote selbst einräumt (36, FN 13). Man werfe nur einen Blick auf die künstlerische Feier von Fortschritt, Funktion und dem Neuen Menschen bei den historischen Avantgarden, betrachte den Enthusiasmus junger Bauhäusler im Dessau des Jahres 1926 oder versenke sich in frühe Großstadtromane, um die Affektintensität der Rationalisierungsmoderne in Erinnerung zu rufen. Selbst die beklemmende Anziehungskraft von Verwaltungsapparaten (Reckwitz selbst nennt die „Lust an der Ordnungsbildung“) oder der ästhetische Reiz serieller Industrieprodukte im Kaufhaus Schocken zeugen von einer affektiven Besetzung der Kultur des Allgemeinen. Kurzum, Rationalisierung ist eine spezifische Form von Kulturalisierung, nämlich von Valorisierung und (mit Einschränkungen) Affektivierung des Generellen, sei es bejahend, ambivalent oder ablehnend.[3]

Mir scheint, dass sich Reckwitz seine eigentümliche Halbierung des Kulturellen durch die Art und Weise einhandelt, wie er Zeitdiagnose und Gesellschaftstheorie verbindet. Um seine Periodisierung der Moderne konstruieren zu können, fasst er „funktionale, standardisierte und generalisierte Einheiten des Sozialen“ (79) als das (zwar nicht normativ ausgezeichnete, aber doch fürs historische Narrativ notwendige) Andere von „Kulturqualität“ (79) auf. Er klappt das Erbe des bürgerlichen Kulturbegriffs (und der nietzscheanischen Dualismen) gleichsam in die historiografische Horizontale, schleppt es aber weiterhin im Theoriegepäck mit. Doch Kultur ist in der organisierten Moderne kein marginales „Subsystem“ (17, 76) gewesen (weshalb sie der Systemtheorie Luhmannschen Typs solche Schwierigkeiten bereitete), das sich erst in den vergangenen Jahrzehnten „in eine globale Hyperkultur transformiert“ (17; auch 108) hat. Vielmehr koexistierten verschiedenartige Kulturen in spannungsreichem Widerstreit. Allerdings wird Kultur erst in der Moderne reflexiv, d.h. Kultivierungen werden – etwa in den Künsten oder den Kulturwissenschaften – als Kultivierungen auffällig.[4] In der Spätmoderne schließlich wandeln sich die Valorisierungen – darin ist Reckwitz Recht zu geben – in Richtung einer weitreichenden Wertschätzung von Singularitäten und bestimmter Affektqualitäten (85). Nur bedeutet dieser Vorgang nicht, dass in der industriellen Moderne gleichsam weniger ‚Kultur‘ war. Es kommt darauf an, den Kulturbegriff vom Singularisierungs- und Affektbegriff zu entkoppeln. Nur so können auch die Valorisierung des Allgemeinen und ‚kühle Kultivierungen’ in den Blick geraten. Das historische Narrativ, das den Kern von Reckwitz‘ Diagnose bildet, muss deshalb nicht aufgegeben, sondern nur anders konzipiert werden, nämlich so, dass die spätmoderne Singularisierung nicht als Kulturalisierung, sondern als (selbstverständlich sozial strukturierte) Neukonfiguration des Kulturellen aufgefasst wird.

Was Reckwitz als kulturtheoretische Erneuerung der Soziologie präsentiert, ist zugleich eine modernetheoretische Verkürzung des Kulturellen. Man kann jedoch getrost „jedes soziale Phänomen als kulturelles verstehen“ (76), ohne das Kulturelle deshalb zu entsoziologisieren oder zu enthistorisieren. Ich plädiere dafür, Kultur nicht als historisch-sozialen Strukturbegriff, sondern als analytischen Begriff zur Untersuchung von bestimmten (sich selbstverständlich historisch wandelnden und sozioökonomisch eingebetteten) Formen menschlicher Selbst- und Weltverhältnisse aufzufassen. Damit wird der Kulturbegriff keineswegs nur bedeutungstheoretisch ausgelegt, sondern kann beispielsweise auch performative und materialästhetische Aspekte einschließen.

Konsum und Kultur

Neben der Kultur sind es Ökonomie und Digitalisierung, denen Reckwitz eine Schrittmacherfunktion bei der Singularisierung zuerkennt. Die entsprechenden Kapitel enthalten eine Fülle erhellender Einsichten, darunter originelle Ausführungen über Technologien als im Hintergrund mitlaufende „Infrastrukturen des Besonderen“ (73) sowie zur „maschinellen Singularisierung“. Zustimmen wird man auch Reckwitz’ grundsätzlicher Einschätzung des gegenwärtigen Konsums: „Die spätmoderne Ökonomie ist mehr und mehr an singulären Dingen, Diensten und Ereignissen ausgerichtet, und die Güter, die sie produziert, sind zunehmend solche, die nicht mehr rein funktional, sondern auch oder allein kulturell konnotiert sind und affektive Anziehungskraft ausüben.“ (7f.) Allerdings stellt sich die Frage, ob Reckwitz’ auffällig späte Datierung des Konsums als Kultursphäre zutrifft. Sie beginnt ihm zufolge in den 1920er Jahren (100) und transformiert sich wahlweise seit den 1970er Jahren (so auf Seite 113) oder seit den 1980er Jahren (so abweichend zwei Seiten zuvor) zu einer „Ökonomie des kulturell Besonderen“ (113). Gewiss sind Datierungs- und Periodisierungsfragen notorisch umstritten, und bekanntlich finden Historiker gerne Frühformen und Vorläufer erst später breitenwirksamer Phänomene. Im Fall der Konsumgeschichte geht man jedoch kaum fehl darin, das Aufkommen der modernen Warenhäuser seit der Mitte des 19. Jahrhunderts als den weichenstellenden Kulturalisierungsschub aufzufassen; Markenartikel und Werbung gab es bereits im späten 19. Jahrhundert; die Mode noch früher.[5] Das, was Reckwitz für die 1920er Jahre diagnostiziert, beobachtete Georg Simmel schon 1896 bei seinem Besuch der Berliner Gewerbeausstellung: „Wo die Konkurrenz in bezug auf Zweckmäßigkeit und innere Eigenschaften zu Ende ist – und oft genug schon vorher – muß man versuchen, durch den äußeren Reiz der Objekte, ja sogar durch die Art ihres Arrangements das Interesse der Käufer zu erregen.“[6]

Ein zweiter Einwand betrifft Reckwitz’ Güterbegriff. Der klassischen Unterscheidung von Tausch- und Gebrauchswert zunächst folgend, unterteilt er Güter im weiteren Argumentationsverlauf in funktionale und kulturelle (121) und hebt beide schließlich vom auf Dritte bezogenen sozialen Prestigefaktor ab. Erneut erweist sich die Gegenüberstellung von Rationalem und Kulturellem als problematisch. Bereits der Ausdruck Gebrauchswert signalisiert ja, dass auch funktionale Aspekte valorisiert werden können. Beispielsweise beruhen Designs von Werkbund, Bauhaus oder Ulmer Schule oder das Geschäftsmodell des Versand- und Warenhauses Manufactum gerade darauf, Gebrauchswerte als kulturelle Werte zu inszenieren (und – in letzterem Fall – nicht etwa nur darin, Güter mit nostalgischen Herkunftsgeschichten emotional aufzuladen). Überzeugender als die Reckwitz‘sche Dichotomisierung erscheint es mir daher, Güter als ein Ensemble von Tausch-, Gebrauchs-, Zeichen- und Ereigniswerten zu betrachten, von denen jeweils bestimmte Aspekte betrachterabhängig mehr oder weniger akzentuiert werden.[7]

Drittens treibt die Kopplung von Kulturalisierung mit Affektivierung und Singularisierung Reckwitz meines Erachtens in einen unbeabsichtigten „Entlarvungsreduktionismus“ (13). Dies wird am Beispiel des ethischen Konsums deutlich, den er vor allem als kontextuierende „Besetzung“ (130) und Ausdruck „differenzierende[r] Sensibilität“ (7) liest. So richtig es ist, ethischen Konsum als Exempel eines Kennerschaftsdiskurses zu begreifen, so sehr legt eine solche Lesart doch in impliziter Ideologiekritik nahe, die Selbstwahrnehmung der Akteure als politisch aktive verfehle die eigentlich erhebliche Dimension. Aber handelt es sich bei ethisch motivierten Kaufakten nicht auch um Unterschiede, die (wie begrenzt und von den Beteiligten überschätzt auch immer) materialiter Unterschiede machen – selbst dann, wenn die Akteure primär vom Wunsch nach Authentizitätserleben motiviert werden? Ästhetische Ökonomie ist auch Ökonomie in einem sehr robusten Sinn: mit Kollateraleffekten und Externalitäten.[8]

Die Wissenschaften und das Singuläre

Interessanterweise spielt in Reckwitz’ Buch, wiewohl es sich um eine Theorie der Moderne handelt, die Kategorie der Reflexivität kaum eine Rolle.[9] Entsprechend rudimentär fällt die reflexive Selbsteinholung des eigenen Ansatzes aus. Das ist nicht nur in Anbetracht des hohen Abstraktionsniveaus der Untersuchung auffällig, sondern auch, weil die im Kern auf Kultur abhebende Argumentation der Studie gleichsam eine Kulturalisierung der Kulturalisierung nahelegt. Genauer gefragt: Was bedeutet Singularisierung für das eigene Forschen und Schreiben?

Reckwitz betont, dass die Soziologie eine Erfindung der industriellen Moderne war (429), mithin aus der Logik des Allgemeinen stammt und „für eine Analytik von Singularisierungsprozessen bisher nicht gut gerüstet“ (47) sei. Gleichwohl schließt sich seine Untersuchung dieser Logik zunächst einmal an und will sie sogar auf die Spitze treiben, nämlich „noch abstrakter und grundsätzlicher“ (29) als bisherige Theorien der Moderne ansetzen. Typisch dafür ist das in dieser Rezension ausgiebig adressierte Operieren mit Dichotomien. Stilistisch schlägt es sich in einem bisweilen von Substantivierungskaskaden („Allgemeinisierung“, „Kulturökonomisierung“, „Starifizierung“) geprägten Schreiben nieder. Ein solches Vorgehen ist sicherlich normal science, wird allerdings vor dem Hintergrund der Hauptthese des Buches auffällig: der einer umfassenden Singularisierung. In dieser Perspektive erscheint Die Gesellschaft der Singularitäten nämlich als eine Studie über die Spätmoderne, geschrieben im Modus der klassischen Moderne. Handelt es sich um ein Buch über das Einzelne ohne das Einzelne? Das zu behaupten wäre unfair. Vielmehr ist Reckwitz’ Untersuchung von genau jenen widerstreitenden Logiken durchzogen, die seiner Ansicht nach die Moderne selbst ausmachen: Generalisierung und Singularisierung. In gewisser Weise könnte man sagen, dass das Allgemeine den Fließtext formt, während das Singuläre in den Fußnoten nuancierend mitläuft. Oben werden kulturelle Sachverhalte und ästhetische Artefakte nach einem type-token-Schema als zumeist zwar treffende, aber eben illustrative Beispiele erfasst, während unten Raum ist für vielschichtiges, dynamisches Ineinander, Ausnahmen und Abweichungen. Sein Buch, sagt Reckwitz, sei „eigentlich (sic) ziemlich neugierig auf die soziale Realität“ (25). Aber wie weit reicht das Interesse am Singulären? Wenn etwa Weine oder Designobjekte als „sinnlich doch verhältnismäßig beschränkte Güter“ (130) abgewertet werden, dann ist daran sicherlich richtig, dass ein Eames-Chair nicht die gleiche Tiefe und Komplexität aufweist wie Shakespeares Dramen, doch umgekehrt wird eine in der – sagen wir – Tradition Simmels, Benjamins, Adornos oder Barthes’ liegende Analyse dinglicher Affordanzen gar nicht erst in Angriff genommen. Zudem schreibt Reckwitz – darin der Kulturkritik Frankfurter Provenienz überraschend nah – Kunstwerken allzu pauschal den auf dem zeitgenössischen Kunstmarkt leicht zu widerlegenden Adel des Sperrigen zu (140). Dass – salopp gesagt – ein großer Wein komplexer ist als ein flaches Kunstwerk, muss einer solchen Perspektive entgehen. Wichtig sind diese Einwände, weil ein dichotomisierender Zugriff die sich möglicherweise längst anbahnende Emergenz ‚postdualistischer‘ Kulturen zu verfehlen droht. Ich nenne nur ein Beispiel aus jedem Bereich, den Reckwitz an der Spitze der Singularisierung sieht: der Digitalisierung. In ihrem Zentrum steht sicherlich die Kultur der Softwarentwickler. Wer nun die Blogs führender Developer verfolgt, bemerkt rasch, dass wir es hier weder nur mit der Produktion einer rationalistisch-technologischen Hintergrundstruktur noch bloß mit singularistischen Arbeitsformen zu tun haben. Vielmehr stößt man auf eine sehr spezifische Kultur, die sich durch ihre Amalgamierung von Technologie und handwerklichem Ethos, politischem Verantwortungsernst und Introvertiertheit zu einer speziellen Melange verdichtet, die weder mit den Begriffen des Allgemeinen noch mit denen des Affektiven angemessen beschrieben wäre. Welche Denkfiguren, Formen und Formulierungen werden ihnen und dem, was sie hervorbringen, gerecht?

Wie gesagt: Generalisierungen gehören zum Geschäft einer jeden Wissenschaft, die sich nicht selbst aufgeben will. Zugleich drängt sich vor dem Hintergrund von Reckwitz’ Diagnose allerdings die Frage auf, ob die Eigenkomplexität des Kulturellen, insbesondere in der Spätmoderne, auf generalisierende Weise hinreichend erfasst werden kann und eine dualisierende Theoriearchitektur der kulturellen Situation der Gegenwart gerecht wird. Es ist sicherlich kein Zufall, dass die Kulturwissenschaften seit den 1970ern einen bemerkenswerten Aufschwung erfahren haben und sich im deutschsprachigen Wissenschaftsraum die Kulturwissenschaft als grundständiges Fach just in jenem Moment etablieren konnte, als die Singularisierung ihren bisherigen Höhepunkt erreichte.[10] Die Erträge der Kulturforschung, seien es solche der Semiotik, der Performanztheorie oder insgesamt der Ästhetik, werden von Reckwitz in einem für die Soziologie ungewöhnlich hohen, nur zu begrüßenden Maße rezipiert. Darüber hinaus stellt sich jedoch die Frage, wie die Sozial- und/oder Kulturwissenschaft/en der Logik des Besonderen gerecht werden können und wie ein sozusagen singularitätenadäquater Wissenschaftsstil – bei der Wissenserzeugung ebenso wie beim wissenschaftlichen Sprechen – eigentlich aussähe. Die Kulturwissenschaften haben dazu in den vergangenen Jahrzehnten zwei Vorschläge unterbreitet: zum einen neuartige Formen der Wissensgewinnung wie die künstlerische und gestalterische Forschung, zum anderen die Suche nach Schreibweisen, die der Eigenkomplexität ihrer Gegenstände gerecht werden. Erstere zielt darauf ab, ästhetische Praxis – etwa Probenprozesse im Theater – von innen kennenzulernen, um sie besser erforschen zu können.[11] Letztere zählte zu den Leitanliegen des Poststruktualismus und trieb beispielsweise den späten Roland Barthes um.[12] An einer leicht überlesenen Stelle seiner Studie deutet Reckwitz selbst an, dass die so selbstverständlich gewordenen differenztheoretischen Ansätze der Beschäftigung mit Eigenkomplexität möglicherweise nicht gerecht werden (53). Leider ordnet er ein gleichsam qualitatives Schreiben, das die Eigenkomplexität von Singularitäten weniger reduziert als bewahrt (vgl. 176 zur Kunstkritik) der „Expertenvalorisierung“ (169) zu, während er eine entsprechend ‚dichte’ Verfahrensweise für die Gesellschaftstheorie mit dem Hinweis auf Borges’ unmögliche Landkarte zurückweist.[13] Diesen Faden gleichwohl wieder aufzugreifen, zählt zu den zahlreichen Anschlüssen, die sein so anregungsreiches Buch für den kulturwissenschaftlichen Diskurs bereithält.

  1. Andreas Reckwitz, Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung, Berlin 2012.
  2. Alle nicht näher gekennzeichneten Seitenangaben beziehen sich auf das hier besprochene Buch.
  3. Sie fällt insofern unter Reckwitz’ spezifischen, nicht nur unter seinen weiten Begriff von Kultur, in dessen Rahmen er auch „die gesellschaftliche Rationalisierung als kulturell“ (77) bezeichnet.
  4. Hartmut Böhme, „Stufen der Reflexion. Die Kulturwissenschaften in der Kultur“, in: Friedrich Jaeger, Jürgen Straub (Hg.), Handbuch der Kulturwissenschaften. Bd. 2: Paradigmen und Disziplinen, Stuttgart & Weimar 2004, S. 1-15, bes. 11.
  5. Vgl. nur den instruktiven Überblicksartikel von Manuel Schramm, „Konsumgeschichte“, in: Docupedia-Zeitgeschichte, letzter Zugriff am 23.01.2018; sowie Uwe Lindemann, Das Warenhaus. Schauplatz der Moderne, Köln Weimar Wien 2015.
  6. Georg Simmel, „Berliner Gewerbe-Ausstellung“, in: Soziologische Ästhetik, hg. von Klaus Lichtblau, Wiesbaden 2009, S. 61-65, hier 63f.
  7. Theoriegeschichtlich muss Reckwitz’ Einschätzung korrigiert werden, Baudrillard habe den Zeichencharakter der Güter „schon früh und bahnbrechend“ (122) beschrieben. Barthes’ bereits 1957 erschienenen Mythologies kommt dieses Verdienst – trotz ihrer ideologiekritischen Stoßrichtung – deutlich früher zu. Im Grunde war es aber Veblen, der in seiner Theory of the Leisure Class schon 1899 den Zeichencharakter der Waren erkannte, selbst wenn er ihn in später unhaltbar gewordener Weise lediglich auf das Anzeigen finanziellen Wohlstands hin referentialisierte.
  8. Ein weiterer Punkt, den ich nur am Rande anreißen möchte, betrifft den Konsum der neuen Unterklasse. Hier scheint mir Reckwitz das gleichsam selbstbewusst Unsensible zu unterschätzen, das zum einen als Gegenreaktion auf den korrekten Konsum der Mittelklasse, zum anderen aber auch als willkommenes Material zur Anverwandlung durch die ästhetische Ökonomie aufgefasst werden kann. Vgl. Wolfgang Ullrich, Alles nur Konsum. Kritik der warenästhetischen Erziehung, Berlin 2013, S. 141-149.
  9. Dies zeigt sich auch daran, dass er Ullrich Beck als Soziologen der Individualisierung, nicht aber der reflexiven Modernisierung rezipiert.
  10. Vgl. nur die wirkmächtige Denkschrift von Wolfgang Frühwald et al., Geisteswissenschaften heute, Frankfurt am Main 1996; oder die 1993 erfolgte Neugründung des Instituts für Kulturwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin.
  11. Vgl. Rolf Elberfeld, Stefan Krankenhagen (Hg.), Ästhetische Praxis als Gegenstand und Methode kulturwissenschaftlicher Forschung, München 2017.
  12. Vgl. etwa Roland Barthes, Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Kritische Schriften Essays III, Frankfurt am Main 1990.
  13. Siehe hierzu „Reckwitz-Buchforum (4): Die Gesellschaft der Singularitäten“ von Andreas Reckwitz, letzter Zugriff am 23.01.2018.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Martin Bauer.

Kategorien: Moderne / Postmoderne

Dirk Hohnsträter

Dr. Dirk Hohnsträter leitet die Forschungsstelle Konsumkultur an der Universität Hildesheim. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten zählen Kulturtheorie, Design und Ästhetik. Foto: © Alain Roux

Alle Artikel

PDF

Zur PDF-Datei dieses Artikels im Social Science Open Access Repository (SSOAR) der GESIS – Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften gelangen Sie hier.

Teil von Buchforum

Reckwitz-Buchforum

Empfehlungen

Eva-Maria Roelevink

Deutschlands Wege in die Moderne

Rezension zu „From Old Regime to Industrial State. A History of German Industrialization from the Eighteenth Century to World War I“ von Richard H. Tilly und Michael Kopsidis

Artikel lesen

Newsletter