Birgit Stammberger | Rezension | 23.02.2022
„Die Historisierung der eigenen Existenzweise“
Rezension zu „Anleitung zur Selbstregulation. Eine Wissensgeschichte der Therapeutisierung im 20. Jahrhundert“ von Jens Elberfeld

„Du musst Dein Leben ändern“, lautet ein neoliberales Credo der Gegenwart. Ob Ratgeber, therapeutische Beratung, Coachings oder Paartherapien – dem Subjekt steht dafür eine Fülle therapeutischer Angebote zur Verfügung. In der Moderne ist das Selbst zum Gegenstand der Wissensproduktion wie auch der praktischen Bearbeitung und Optimierung geworden. Psychologische Konzepte sind die Instrumente, mit deren Hilfe sich die Einzelnen entwerfen und in vermeintlich privater Weise auf sich selbst einwirken. Wie sehr psychologisches Wissen in moderne Selbst- und Fremdverhältnisse einfließt, zeigt sich an den zahlreichen Beratungsstellen, psychologischen Erklärungsmodellen und Deutungsangeboten. Mitnichten geht es dabei zwangsläufig um die therapeutische Behandlung psychiatrischer Störungsbilder oder um dezidiert herausfordernde Lebensphasen, sondern oftmals um alltägliche und soziale Beziehungsstrukturen. Gerade bezüglich Letzteren existiert mittlerweile ein breites, universell verfügbares Psychowissen. Die Verwissenschaftlichung der Selbstverhältnisse durch Psychologie und Psychoanalyse im 20. Jahrhundert hat nicht nur eine immer stärkere Durchdringung und Thematisierung des Selbst zur Folge, sondern stellt darüber hinaus einen bedeutsamen Rahmen dar, in dem sich das Individuum der Gegenwart unter Bezugnahme auf die psychologischen Konzepte selbst entwirft.
Psychowissen als gut etabliertes Forschungsfeld
Seit geraumer Zeit untersuchen vor allem die Sozial- und Kulturwissenschaften die enorme Ausweitung psychologischer Konzepte in der Gesellschaft sowie ihre politischen Technologien und wissenschaftlichen Rationalitäten. Das Selbst ist dabei nicht als abgrenzbare Kategorie adressiert, sondern wird als Schlüssel betrachtet, mit dem die damit verbundenen Menschenbilder, Identitätsvorstellungen und Subjektivierungsformen, aber auch die Heilserwartungen, wissenschaftlichen Diskurse, politischen Motivationen und ökonomischen Imperative untersucht werden können.[1] Die wechselseitigen Bedingtheiten und Verflechtungen von Psychowissen, Politik und Selbstverhältnissen sind jedoch noch immer ein Desiderat.
Hier setzt die vorliegende Studie von Jens Elberfeld an. Unter dem Titel Anleitungen zur Selbstregulation legt Elberfeld nicht ohne ironischen Verweis auf zeitgenössische Ratgeberliteratur eine Wissensgeschichte der Therapeutisierung im 20. Jahrhundert aus subjekt- und gesellschaftstheoretischer Perspektive vor.[2] „Therapeutisierung“ sei kein monolithisches oder statisches Gebilde, sondern ein lebendiges, in sich spezifisches und heterogenes Konzept, das mit der enormen Produktion des Psychowissens einhergehe. Die Arbeit fragt danach, wie dieses Psychowissen gesellschaftlich konstruiert, wie es für politische Zwecke nutzbar gemacht und wie es zum Maßstab individueller Selbstverständigung werden konnte. Wenn Elberfeld also von Therapeutisierung spricht, meint er damit die Diskurse, Praktiken und Effekte psychologischer Wissensproduktion in ihrer historischen Tiefendimension und im Hinblick auf gesellschaftlichen Wandel. Die Studie problematisiert solche Konzepte der Selbst- und Fremdführung. Sie versteht sich als Beitrag zur Zeitgeschichte des Selbst und plädiert im Sinne einer Geschichte der Gegenwart für eine „Historisierung der eigenen Existenzweise“ (S. 13).
„Wir leben in einem therapeutischen Zeitalter“
Elberfelds Zeitdiagnostik (S. 9) steht ganz im Zeichen des bereits in den 1990er-Jahren konstatierten Psychobooms, der in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts anfing. Kulturwissenschaftliche, soziologische und wissenschaftshistorische Untersuchungen haben diese Entwicklung seitdem kritisch begleitet sowie in ihrem eklektischen und omnipräsenten Charakter bereits vielfach analysiert. Diesbezüglich ist Elberfeld jedoch äußerst skeptisch, denn die meisten Studien hätten die „Prämissen des Diskurses unbesehen“ übernommen und so „willentlich oder nicht“ den Diskurs der Therapeutisierung weiter vorangetrieben (S. 16).
Elberfeld hebt vier Forschungsrichtungen der Therapeutisierung hervor, auf die er in kritischer Absicht Bezug nimmt: gouvernementalitätstheoretische, systemtheoretische, akteurszentrierte und wissensgeschichtliche Ansätze (S. 18 ff.). Die von ihm beobachtete „Kultur der Therapeutisierung“ (S. 14) meint dabei keineswegs nur die Diffusion psychotherapeutischen Wissens in die Kultur, vielmehr geht es darum, wie die Konzepte therapeutisch-medizinischer Behandlungen entstanden sind, wie sie sich durch ihre Anwendung in anderen Kontexten wandelten, welche Formen der Aneignung sie unter bestimmten gesellschaftspolitischen Bedarfslagen erfahren haben und wie sie sich unter den je spezifischen Bedingungen transformierten.
Entscheidend ist für den Autor die Übertragung von Krankheitskonzepten aus dem medizinischen in den alltäglichen Bereich und die damit verknüpften Veränderungen. Seine Untersuchung ist dementsprechend nicht auf wissenschaftliches Expert:innenwissen begrenzt, sondern nimmt – viel umfassender – gesellschaftliche Normalisierungsprozesse in den Blick. Ausgehend von medizinischen Behandlungsmethoden sind Krankheitsauffassungen „zusehends in die alltägliche Lebensführung von ‚gesunden‘ Menschen eingegangen“ (S. 23). Die damit angezeigte Verschiebung ist nach Elberfeld „vielleicht der erklärungsbedürftigste Aspekt der Therapeutisierung“ (S. 23). Unter Verweis darauf, dass sie „alles andere als still und heimlich“ (S. 14) verlief, untersucht Elberfeld zugleich ein hoch dynamisches gesellschaftliches Aushandlungsgeschehen, das von zahlreichen Widersprüchen, Heterogenitäten und vielfältigen Kritiken geprägt ist.
Neurasthenie, Kybernetik, humanistische Psychologie, Familientherapie
Der Band ist in drei Abschnitte gegliedert. Im ersten Teil widmet sich Elberfeld der Herausbildung von gesellschaftlichen Krankheitsauffassungen im 19. und 20. Jahrhundert. Dabei geht er zunächst den sich veränderten Auffassungen von Krankheit und Gesundheit im Kontext von Psychiatrie und Psychologie sowie der Etablierung der Psychotherapie im deutschsprachigen Raum der Nachkriegszeit nach. Paradigmatisch steht hierbei der Neurasthenie-Diskurs, der für Elberfeld ein Übergangsphänomen von einem „somatischen zum psychischen Krankheitsmodell“ (S. 76) darstellt, da aus ihm erstmals ein psychologisches Verfahren im Sinne einer Psychotherapie hervorgegangen sei.
In vergleichender Perspektive widmet er sich dem in den 1950er-Jahren und unter Einfluss kybernetischer Kommunikationsmodelle neu entstandenen Krankheitsverständnis, das sich nicht mehr auf die biologischen oder psychischen Ursachen konzentrierte, sondern die funktionalen Störungen der Kommunikation zu beheben suchte. Auch wenn Elberfeld nahezu idealtypisch zwischen medizinisch-somatischen, psychoanalytisch-psychischen und sozialen Krankheitskonzeptionen unterscheidet, so geht es ihm keineswegs um klare Grenzziehungen, sondern um die konflikthaften Konstellationen, expansiven Dynamiken und fortschreitenden Spezialisierungen, die mit der Etablierung bestimmter Krankheitsauffassungen verbunden waren.
Die „Psychologie der seelischen Gesundheit“ erklärte jeden Menschen zum (potenziellen) Gegenstand einer Therapie; mithilfe der neuen Techniken waren alle dazu angehalten, ihre eigene Persönlichkeit aktiv auszubilden.
Der zweite Teil handelt von den Akteur:innen, Prozessen und Konflikten des therapeutischen Feldes in den 1970er-Jahren sowie von den gesellschaftspolitischen Debatten um den Wohlfahrtsstaat. Letztere drehten sich unter anderem um die Wirksamkeit psychotherapeutischer Praxis und deren Integration in ein neues institutionalisiertes Gefüge des Gesundheitssystems. Somit waren die nachgezeichneten Entwicklungen auch Distinktions- und Positionskämpfe in den Kontroversen um eine psychosoziale Versorgungsstruktur. Am Beispiel der humanistischen Psychologie zeigt Elberfeld, wie man – mit kulturkritischem Gestus – psychische Krankheiten als gesellschaftliche Pathologien betrachtete, die ihre Ursache in „einer Entfremdung von sich selbst“ (S. 186) hatten. Folgerichtig zielten therapeutische Konzepte vor allem auf die Selbstentfaltung im Sinne der Authentizität der Person ab. Die „Psychologie der seelischen Gesundheit“ erklärte jeden Menschen zum (potenziellen) Gegenstand einer Therapie; mithilfe der neuen Techniken waren alle dazu angehalten, ihre eigene Persönlichkeit aktiv auszubilden.
Im letzten und dritten Teil beschäftigt sich Elberfeld mit der Entstehung und Geschichte der Familientherapie in der Bundesrepublik der 1960er- bis 1990er-Jahre. Dies ist für ihn ein paradigmatischer Fall für die Professionalisierung und Institutionalisierung des Psychowissens. Gewinnbringend beschreibt er Bereiche, die in wissensgeschichtlichen Analysen bisher so gut wie ausgeblendet wurden, und solche, in denen sich ihm zufolge spätestens seit den 1960er-Jahren gesellschaftlicher Wandel manifestiert habe.
Chancen und Risiken der Arbeit am Selbst
Wie Elberfeld zeigt, konnte die von ihm ausgemachte Therapeutisierung erst dann wirklich durchschlagen, als man sich – bereits unter dem Einfluss psychotherapeutischer Biopolitiken – allmählich von normierenden, pathologischen und exkludierenden Sichtweisen auf Therapie verabschiedete. Damit war es überhaupt möglich, den Menschen nicht als festgeschrieben, sondern als optimierbares und veränderbares Wesen zu verstehen. Nicht Erkrankungen oder Heilungskonzepte, sondern der ‚normale‘ Mensch, der natürlicherweise auf seine Selbstverwirklichung drängt, waren der Boden, auf dem der Psychoboom der 1970er-Jahre gedeihen konnte. Eingebettet in kulturelle Transformationsprozesse und politische Debatten entfaltete das Psychowissen sukzessive seine „gesellschaftliche Breitenwirkung“ (S. 585).
Psychowissen generiert sich im Duktus eines emanzipatorischen Erfolgsnarrativs, das das Subjekt fortwährend auffordert, es selbst zu sein und, vor allem, es selbst zu werden.
Die Betrachtung der Therapeutisierung in ihren historischen Transformationen ist gerade deshalb von Bedeutung, weil mit ihnen eine „substanzielle Zunahme der gesellschaftlichen Arbeit am Selbst“ (S. 601) vonstattenging. Die Arbeit am Selbst zeichnet sich nicht durch die „Unterdrückung einer vermeintlichen Individualität“ aus, sondern „im Gegenteil durch die Förderung einer spezifischen Subjektivität“ (S. 588). Anders gesagt: Psychowissen generiert sich im Duktus eines emanzipatorischen Erfolgsnarrativs, das das Subjekt fortwährend auffordert, es selbst zu sein und, vor allem, es selbst zu werden. In diesem Sinne ist kritischen Stimmen, die in der Herausbildung des Psychowissens nur eine weitere Form der Repression durch Medikalisierung und Psychiatrisierung der Gesellschaft erkennen, eine radikale Absage erteilt. Aber auch die Tendenz – oder vielmehr der Zwang – zur Therapeutisierung und die ständige Verfügbarkeit des Psychowissens schüren Erwartungen. Authentizität, Selbstgestaltung und Selbstentfaltung sind die Kategorien, in denen das Individuum der Gegenwart geradezu brillieren muss.
Jens Elberfelds über 600-seitige Studie ist das Paradebeispiel einer Wissensgeschichte der Psychologie: Zum einen zeigt sie die vielfältigen Verflechtungen von innerakademischen Diskursen und gesellschaftspolitischen Debatten mit den Transformationen des Selbst in der Moderne auf, zum anderen erschließt sie in ihrer Analyse bisher wenig beachtete Felder wie Familientherapie oder Paarbeziehung. Obwohl Elberfeld seine Untersuchung in einem historisch weiten Zeitraum vom 18. bis zum 20. Jahrhundert ansiedelt, entfaltet er keine Großnarrative, sondern konzentriert sich dezidiert und sorgfältig auf die politischen Technologien und wissenschaftlichen Rationalitäten in ihren spezifischen und lokalen Eigenlogiken. Allerdings bedarf es meines Erachtens einer weiteren Differenzierung, um Selbstbestimmung nicht gänzlich dem Paradigma der Selbstoptimierung zuzuschlagen. Selbstbestimmung ist und muss in politischen Arenen und privaten Selbstentwürfen auch weiterhin als etwas verstanden werden, das Menschen selbst(-bewusst) darüber entscheiden lässt, wie sie leben möchten, ohne zwangsläufig und naiv die damit verbundenen Ambivalenzen und Paradoxien aus den Augen zu verlieren.
Dem Band ist eine breite und kritische Leserschaft zu wünschen. Er hat das Potenzial, zu einem Standardwerk der Wissensgeschichte der Psychologie und Psychotherapie zu werden. Elberfeld liefert keine abschließenden Antworten, vielmehr regen seine Analysen den Diskurs an und werfen neue spannende Fragen auf – etwa hinsichtlich einer noch ausstehenden Wissensgeschichte der Psychoanalyse.[3] Die Psy-Disziplinen sind auch weiterhin auf einen solchen kritischen und interdisziplinär geführten Begleitdiskurs angewiesen. Dass der Band dabei vor allem die Geschichte der bundesrepublikanischen Psychologie adressiert, sollte darüber hinaus Antrieb und Anlass sein, die Wissensgeschichte der westdeutschen Psychologie um eine kritische Analyse des ostdeutschen Raums zu ergänzen.
Fußnoten
- Maik Tändler / Uffa Jensen (Hg.), Das Selbst zwischen Anpassung und Befreiung. Psychowissen und Politik im 20. Jahrhundert, Göttingen 2012.
- Die Studie basiert auf einem beachtlichen Quellenkorpus: Neben fachwissenschaftlichen Publikationen, psychologischen und medizinischen Zeitschriften bezieht der Autor auch Bücher aus dem grauen Markt der Ratgeberliteratur sowie populärwissenschaftliche Quellen ein, vereinzelt rekurriert er auch auf eigens geführte Expert:inneninterviews. Größtenteils gründet der Band auf bereits veröffentlichtem Material, was aber kein Defizit darstellt.
- Die Frage nach Wissenschaftlichkeit ist zentral in den bis in die Gegenwart geführten Kontroversen um die Relevanz und Anerkennung psychoanalytischen Wissens. Welchen Einfluss die Expansion und Ausdifferenzierung des therapeutischen Feldes auf die entsprechenden Debatten hatte und hat, wäre im Anschluss an Elberfelds Studie genauer zu erforschen.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Wibke Liebhart.
Kategorien: Familie / Jugend / Alter Geschichte der Sozialwissenschaften Gesundheit / Medizin Psychologie / Psychoanalyse Wissenschaft
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