Michael Riekenberg | Essay | 28.08.2015
Die Kategorie „Staatsferne“ am Beispiel Lateinamerikas
Wie verhalten sich die Dinge, wenn die Menschen, die in einem Staat leben, gar nicht erwarten, dass der Staat ihnen Schutz gibt?
Staatsferne ist kein Wort, das in historischen Quellen existieren würde. Es handelt sich vielmehr um eine künstliche Begriffsbildung, mit der wir die Hoffnung verbinden, sie könne uns etwas vor Augen führen, was wir ohne diesen Begriff nicht recht sehen oder anders bewerten würden. Dieses Bedürfnis geht auf ein Unbehagen zurück. Nach Max Weber ist der Staat, über den wir ja sprechen müssen, wenn es um Staatsferne geht, ein politischer Verband, der das Monopol legitimen physischen Zwangs ausübt, um Ordnungen durchzusetzen. Verstehen wir dieses Gewaltmonopol nun nicht, wie es häufig geschieht, als gegeben und stabil, sondern als veränderlich, so können wir Staatsferne nach dem gleichen Schema definieren, etwa indem wir die Schwäche oder das Aussetzen eines Gewaltmonopols in die Beschreibung des Staates integrieren. Aber wie verhalten sich die Dinge, wenn die Menschen, die in einem Staat leben, gar nicht erwarten, dass der Staat ihnen Schutz gibt und dazu ein Gewaltmonopol durchsetzt, weil sie ihm misstrauen oder weil sie Sicherheit in anderen Vergemeinschaftungen suchen? Müssen wir dann nicht auch unseren Begriff des Staates überdenken? Denn wenn Menschen keinen Schutz vom Staat erwarten, dann verändern sie den Staat selbst, weil dieser ja nicht isoliert, sondern nur in Gefügen existiert, die wir meist Gesellschaft nennen.
Dabei ist das Unbehagen, von dem ich sprach, keineswegs nur begrifflicher Natur, sondern ebenso empirischer. In der Literatur ist zu lesen, dass sich in Europa nach dem Westfälischen Frieden 1648 souveräne Staaten ausbildeten, die jeder für sich das Monopol legitimer Gewaltanwendung innerhalb ihres Staatsgebietes in Anspruch nahmen. Zwar wurde dieses Modell auch nach Amerika übertragen. Aber dort litt die Organisation des Staates maßgeblich darunter, dass es außer im Durchgangsraum der Karibik kaum Gewaltkonflikte zwischen Staaten gab, weshalb der Krieg nur wenig zu Ausbau und Festigung der politischen Ordnung beitragen konnte. Zudem bleibt die Fragmentierung des Raums zu bedenken: In den Hochländern Mexikos oder Perus mit ihren mächtigen gemeindlich-korporativen, auch ethnischen Strukturen brach sich das staatliche Gewaltmonopol, soweit man es überhaupt durchzusetzen versuchte, an Gewohnheitsrecht und moralischen Ökonomien; anders vermochte der Staat in lokalen Räumen nicht zu existieren. Mancherorts, in Lateinamerika wie in den nordamerikanischen frontiers, bildeten sich zudem Staaten oder staatenähnliche Gebilde, die keinerlei europäischen Ursprung besaßen.[1] In der republikanischen Ära schließlich richteten sich die neuen politischen Machthaber in Lateinamerika bei der Erschaffung ihres jeweiligen Nationalstaates keineswegs nach dem Westfälischen Modell. Sie orientierten sich vielmehr an dem nordamerikanischen von Philadelphia, in dem das Recht der Bürger, Waffen zu tragen, um über den Staat zu „wachen“, den Grundpfeiler der neuen politischen Ordnung bildete.[2] Somit wurde das Gewaltmonopol von vornherein aus der Begründung des (nationalen) Staates entfernt, was sich im Übrigen auf die Geschichte der Gewaltbeziehungen in Lateinamerika bis heute auswirkte.
Von dieser Geschichte, wie sie hier in nur wenigen Sätzen grob umrissen ist, können wir nicht absehen, wenn wir über Staat und Staatsferne in Lateinamerika sprechen. Aus diesem Grund bezweckt die Kategorie der Staatsferne aber auch Anderes als die Begriffe oder Konzepte, die zwar ähnlich klingen, jedoch an der Hegemonie des Staates und des von ihm gesteuerten Gewaltmonopols im Sinn einer „effektiven Gebietsherrschaft“[3] als Ausgangspunkt ihrer Betrachtung festhalten. Denn die Kategorie der Staatsferne regt uns dazu an, unsere Sichtweise zu ändern und den Staat nicht als hegemonialen, sondern als symmetrisch gelagerten politischen Akteur neben anderen zu betrachten. Freilich handelt es sich dabei nicht um ein Raumkonzept. Zwar legt der Begriff selbst solch einen Irrtum nahe, weil er ja mit dem Bild der Ferne spielt. Auch gibt es in der Wissenschaft Konzepte, die den Staat in räumlichen Kategorien denken. So schlagen Verena Das und Deborah Poole in ihrer Anthropologie des Staates vor, den Staat von seinen „Rändern“ her zu sehen.[4] Aber Staatsferne ist kein Raum, an dessen Ende der Staat aufhört.
Die „alte“ Institutionen- und Rechtsgeschichte wie auch die moderne Sozialgeschichtsschreibung haben die staatliche Ordnung in Lateinamerika nicht aus dem Verhältnis heraus gedeutet, in dem Menschen zum Staat standen, sondern im Hinblick auf die Idee des Staates dargestellt. Dies überrascht auch nicht weiter, denn in den Quellen aus staatlichen Archiven (oder Sammlungen verwandter Art wie denen der Kirche) herrschen die Sprache des Staates und das darin verbürgte Selbstbild staatlicher Ordnung vor.[5] Diese Quellen reproduzieren deshalb, als folgten sie einem Naturgesetz, das Gedächtnis der Administration; das gilt auch für Klagen über Versuche, die staatliche Idee von Herrschaft zu unterhöhlen. Meldeten sich in diesen Quellen einmal Menschen zu Wort, denen der Staat in kultureller Hinsicht fremd war oder die ihm in unverhüllter Feindschaft gegenüberstanden, so geschah dies, weil sie ja nun mit dem Staat kommunizierten und diesem etwas mitteilen wollten, ebenfalls in der Sprache der Justiz und Verwaltung. Schreiber oder Juristen sorgten dafür, dass auch der Schrift unkundige oder fremdsprachige Akteure im Schriftverkehr mit dem Staat die „richtigen“ Worte fanden. In den Archiven spiegelt sich das, was hier als Staatsferne umschrieben ist, deshalb in der Sprache des Staates, eine andere gibt es dort nicht, und geriet dadurch zwangsläufig zu einem Mangel. Kam das zur Sprache, was hier Staatsferne genannt wird, so erschien es als Defizit.
Die Geschichtswissenschaft, die an die Macht der Quelle glauben muss, weil dieser Glaube erst ihren Status als Wissenschaft verbürgt, hat diese Sprachregelungen oft genug nur nacherzählt. Sie hat sich auf die Verbreitung der Korruption, die Bedeutung informeller Klientelsysteme oder die Existenz paralleler Strukturen „neben“ dem Staat konzentriert, wenn sie von Mängeln staatlicher Herrschaft in Lateinamerika sprach. Der Brennpunkt all dieser Defizite schien in dem während der Kolonialzeit vielzitierten Verwaltungsprinzip obedézcase, pero no se cumpla (dt.: Man gehorche, führe aber nicht aus) zu liegen, das in der Literatur schon einmal als Beleg für das Einwirken staatsfremder Interessen auf die Verwaltung missverstanden wurde. Tatsächlich handelte es sich bei diesem Satz, der in der kolonialen Administration ein geflügeltes Wort war, jedoch um ein von der spanischen Krone selbst erlassenes Rechtsprinzip, das angesichts der langen und unsicheren Kommunikationswege zwischen Spanien und Amerika den Amtsträgern in den Kolonien mehr Entscheidungsflexibilität gab, nicht aber um den Ausdruck des Ungehorsams staatlicher Beamter.[6] Zuvor, im iberischen Mittelalter, hatte das Prinzip Gemeinderechte gegen königliche Rechtsansprüche gestärkt.[7]
In solchen Studien über die Defizite staatlicher Rationalität und Ordnung finden wir gewissermaßen eine klassische Sicht auf „Staatsferne“. Ihr zugrunde liegen gewisse Parameter wie die klare Unterscheidung von öffentlichem und privatem Handeln (die sich in Lateinamerika aber lange Zeit überlappten) oder die Trennung in Zentrum und Peripherie, die selbst zu Zeiten der europäischen Expansion etabliert wurde. Zeit wurde dadurch, wie Serge Gruzinski schreibt, in eine lineare und teleologisch interpretierte Form gegossen, während Raum in religiöser wie auch in politischer Hinsicht als „Möglichkeit der Missionierung“[8] begriffen wurde. So betrachtet geriet das, was wir hier Staatsferne nennen, zum Widerpart eines Zentrums, von dem aus Staatsferne beobachtet wurde und zu dem sie zugleich nicht gehören durfte. Diese Engführung der Perspektive, aus der die Welt betrachtet wurde, war derart wirksam, dass sie in der Folge auch die Wissenschaften in Beschlag nahm, ja, sie wurde von diesen selbst mit erzeugt und dadurch zugleich symbolisch reproduziert. So macht Charles Maier auf die Bedeutung aufmerksam, die beispielsweise das Konzept des Vektors in der Physik des 19. Jahrhunderts besaß, und weist auf die Analogien hin, die damals zwischen der Analyse von physikalischen Kraftfeldern einerseits und der politischen Ordnung von Räumen aus der Sicht eines Zentrums andererseits gesehen wurden.[9]
Diese Zentrierung der Perspektive wurde begleitet von einer Verallgemeinerung der Begriffe. Wiederum ist Max Weber zu nennen, der das Modell des reinen Begriffs schuf, an dem die Wirklichkeit gemessen werden solle. Nun ist diese Methode nicht allein in epistemologischer Hinsicht fragwürdig: Wolfgang Mommsen spricht in seinem Buch über Max Weber wohlwollend von „gewissen erkenntnistheoretischen Schwierigkeiten, die bei Weber selbst nicht restlos geklärt sind“.[10] Denn wie wollen wir eine Welt an einem Begriff messen, wenn dieser Begriff, wie wir seit Hegel wissen, diese Welt erst erzeugt? Können wir dann nicht lediglich Selbstgespräche führen? Hinzu kommt ein anderer Einwand, der sich auf die Sprachphilosophie von Ludwig Wittgenstein stützt. Nach Wittgenstein existiert die Bedeutung von Begriffen erst in ihrem Gebrauch, Wittgenstein nannte das Sprachspiele.[11] Diese sind nicht rein linguistische Phänomene, vielmehr sind sie Teil von Lebenswelten. Beide, Sprachspiel wie Lebenswelt, sind ineinander verwoben, weshalb wir nicht isoliert über Begriffe sprechen können. Wenn heutzutage in Mexiko Jugendliche, die in den sogenannten Drogenkriegen Gewalt ausüben, ihre automatische Schusswaffe „Ziegenhorn“ nennen,[12] ist dies Teil eines lokalen Sprachspiels wie auch einer konkreten Lebenswelt. Wir könnten nun lange in Kategorien wie „Tier“ oder „Schusswaffe“ über dieses Sprachspiel reden, ohne je zu verstehen, was dort vor sich geht.
Dieses Begriffsdilemma hat die Wissenschaften wiederholt beschäftigt, am stärksten wohl die Anthropologie bzw. Ethnologie. Wittgenstein schlug als Ausweg vor, den Begriff nicht in reiner Form definieren zu wollen, sondern nur in Gestalt seiner „Familienähnlichkeiten“ zu umschreiben. Mit Blick auf die Geschichte Lateinamerikas ist dies ein hilfreicher Gedanke. Denn er lässt Zweifel zu an der Autorität des allgemeinen Begriffs und fordert uns auf, genauer in die Bedeutungsfülle konkreter Lebenswelten einzudringen. In methodischer Hinsicht führt uns das auf einen anderen Weg, weg von der Suche nach dem reinen Begriff und der begrifflichen Deduktion, hin zu einer Art Ethnografie.
Staatsferne ist so betrachtet nicht nur ein Gegenstand der Forschung, sondern auch ein Programm, das sich vielleicht am besten als eine historische Ethnografie des Staates bezeichnen ließe. Freilich müssen wir uns dabei keinen Illusionen hingeben. Wir werden deswegen nicht aufhören, in unserer Sprache über andere Lebenswelten zu reden. Denn eine andere Sprache besitzen wir nicht. Also können wir auch nicht einfach damit aufhören, uns in das vergangene Andere hineinzuschreiben. Das wird uns nicht gelingen; es gelingt auch Ethnografen nicht, wenn sie andere Gemeinwesen oder Kulturen beschreiben.[13] Und es wäre, um dies hinzuzufügen, auch gar nicht erstrebenswert, weil wir Geschichte nicht zuletzt, wie der Anthropologe Eric J. Wolf es so wunderbar formuliert hat, aus Sorge um uns selbst schreiben.
Aber wir können, wenn wir über Staatsferne sprechen, fragen, was denn den Menschen nah war, wenn ihnen der Staat, weil sie von ihm keinen Schutz erwarteten, fern lag. Und wir können nach Möglichkeit in Erfahrung bringen, wie sie unter diesen Voraussetzungen Herrschaft, Gewalt und Ordnung verstanden und welche Erwartungen sie in ihren Verhaltensweisen, Mentalitäten und moralischen Ökonomien an den Staat richteten, um diesem in ihren Lebenswelten wie in ihren Sprachspielen erst zu seinem Dasein zu verhelfen. Selbsttäuschungen der Menschen wie auch ihre ungewollten und gewollten Missverständnisse darüber, was der Staat „ist“, die in mancher Forschungsarbeit bis heute als Hindernisse der Staatswerdung in Lateinamerika gewertet werden, entpuppen sich so betrachtet sowohl als konstitutive Bestandteile des Staates selbst als auch als Zeichen der Staatsferne, in der Menschen lebten.
Fußnoten
- Vgl. Michael Riekenberg, Staatsferne Gewalt. Eine Geschichte Lateinamerikas, 1500–1930, Frankfurt am Main 2014, S. 116.
- Vgl. Hilda Sabato, Gewalt, Staat und Politik, in: Hans W. Tobler / Peter Waldmann (Hrsg.), Lateinamerika und die USA im langen 19. Jahrhundert, Köln / Weimar / Wien 2009, S. 193–197, hier S. 194.
- Thomas Risse / Ursula Lehmkuhl, Governance in Räumen begrenzter Staatlichkeit, in: Marianne Beisheim / Gunnar F. Schuppert (Hrsg.), Staatszerfall und Governance, Baden-Baden 2007, S. 144–159, hier S. 155.
- Verena Das / Deborah Poole, State and its Margins, in: Dies. (Hrsg.), Anthropology in the Margins of the State, Santa Fe, S. 3–33, hier S. 4.
- Vgl. Nicholas B. Dirks, Annals of the Archive, in: Brian K. Axel (Hrsg.), From the Margins: Historical Anthropology and its Futures, Durham / London 2002, S. 47–65, hier S. 63.
- Arndt Brendecke, Imperium und Empire. Funktion des Wissens in der spanischen Kolonialherrschaft, Köln / Weimar / Wien 2009, S. 84.
- Vgl. Benjamin González Alonso, La formula „obedézcase, pero no se cumpla“ en el derecho castellano, in: Anuario de Historia del Derecho Español 50 (1980), S. 469–487.
- Serge Gruzinski, Drache und Federschlange. Europas Griff nach Amerika und China 1519/20, Frankfurt / New York 2014, S. 14.
- Charles Maier, Consigning the Twentieth Century to History, in: The American Historical Review 105 (2000), S. 807–831.
- Wolfgang Mommsen, Max Weber, Frankfurt am Main 1974, S. 26.
- Vgl. Anthony Grayling, Wittgenstein, Freiburg im Breisgau 1999.
- Peter Burghardt, Das Phantom mit den Ziegenhörnern, in: Süddeutsche Zeitung, 3.2.2011.
- Vgl. Eberhard Berg / Martin Fuchs, Reflexionsstufen ethnographischer Repräsentation, in: dies. (Hrsg.), Kultur, soziale Praxis, Text, Frankfurt am Main 1995, S. 11–108.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Matthias Häußler.
Kategorien: Politik Stadt / Raum Gewalt Recht
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