Jonas Bens | Rezension |

Die Klimaanlage des bürgerlichen Selbst

Rezension zu „Bürgerliche Kälte. Affekt und koloniale Subjektivität“ von Henrike Kohpeiß

Henrike Kohpeiß:
Bürgerliche Kälte. Affekt und koloniale Subjektivität
Deutschland
Frankfurt am Main 2023: Campus
406 S., 30,00 EUR
ISBN 9783593517100

„Bürgerliche Kälte ist eine der avanciertesten affektiven und ästhetischen Formen zur Erhaltung des strukturell-kolonialen Status quo. Sie kreiert in der Welt einen affektiven Schutzraum, in den die unmittelbaren Folgen vieler Katastrophen nicht vordringen. Sie hat die Funktion einer Klimaanlage – eine komplexe Technik, die ein Raumklima zuverlässig stabilisiert, bis die Personen darin es für natürlich halten. Bürgerliche Räume – institutionelle und affektive – bleiben kühl und angenehm, während es draußen brennt.“ (S. 13).

Wie kommt es, dass die Bourgeoisie in Europa und Nordamerika die offensichtlichen Widersprüche aushält, die sich aus der staatlichen und politischen Ordnung ergeben, die sie um sich herum errichtet hat und deren herrschende Klasse ist? Wie kann das Bürgertum leidenschaftlich an Werten wie Freiheit, Gleichheit, Fortschritt und der Universalität der Menschenrechte festhalten, wo es doch gleichzeitig dafür verantwortlich ist, dass sich diese Werte für die meisten Menschen nicht realisieren? Noch konkreter gefragt: Wie hält das bürgerliche Subjekt das Sterben im Mittelmeer, staatlich organisierten Rassismus oder massive Vermögensungleichheit aus, ohne an sich selbst zu verzweifeln? Ein wichtiger Grund, so argumentiert die Philosophin Henrike Kohpeiß, liegt darin, dass der Bourgeoisie eine zentrale Sozialtechnik zur Verfügung steht, die sie bürgerliche Kälte nennt: ein affektiver Modus, der es ermöglicht, das Leiden Anderer auszuhalten.

„Bürgerliche Kälte: Affekt und koloniale Subjektivität“ nimmt sich somit eine zentrale Frage der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule vor, für die Theoretiker*innen wie Theodor W. Adorno und Max Horkheimer stehen: Wie funktioniert die bürgerliche Gesellschaft? Aus der Dialektik der Aufklärung entnimmt Kohpeiß auch den Begriff der bürgerlichen Kälte und stellt das Konzept ins Zentrum ihrer Subjekttheorie. Nach ihrer Lesart hält das bürgerliche Subjekt das Leiden Anderer eben deshalb aus, weil das liberale Subjekt dialektisch mit dem unfreien Anderen verbunden ist: die Andere ist eben die Andere und nicht man selbst. Die essenzialistische Trennung zwischen freie*r Bürger*in und unfreie*r Sklav*in, Kolonisierendem und Kolonisierten, weiß und Schwarz ist konstitutiv für das bürgerliche Selbst. Kohpeiß‘ Ausgangsthese ist, dass die philosophische Tragweite dieser im Kern dialektischen Grundkonstellation, die besonders in der dekolonialen Theorietradition und den Black Studies herausgearbeitet worden ist, von der Frankfurter Schule, deren dialektisches Denken eigentlich höchst arriviert war, massiv unterschätzt worden ist. In Anlehnung an Horkheimer und Adornos „instrumentelle Vernunft“ argumentiert Kohpeiß deshalb, dass es eine „koloniale Vernunft“ ist, die es der bürgerlichen Klasse ermöglicht, mit dem Status quo emotional zurecht zu kommen (S. 127).

Kohpeiß‘ „Bürgerliche Kälte“ ist somit ein Plädoyer für eine Konversation der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule mit der Affekttheorie, geht aber zugleich darüber hinaus. Der Autorin geht es darum, aus ihrer Sicht naheliegende Verbindungslinien zwischen der Kritischen Theorie und dekolonialen und Black-Studies-Ansätzen von Autor*innen wie Denise Ferreira da Silva, Sylvia Wynter, Saidiya Hartman oder Fred Moten herauszuarbeiten. Dass ihr diese beiden ineinander verschränkten Theorieprojekte in so hervorragender Weise gelingen, macht „Bürgerliche Kälte“ zu einer ebenso anregenden wie wichtigen Intervention.

Im ersten Teil ihres Buches unterzieht Kohpeiß Homers Odyssee einer faszinierenden Neuinterpretation. Bereits Adorno und Horkheimer hatten in ihrer Dialektik der Aufklärung Odysseus als den mythologischen Prototyp des bürgerlichen Selbst charakterisiert. Kohpeiß fokussiert in ihrer Interpretation allerdings nicht Odysseus allein, sondern das dialektische Verhältnis zwischen Odysseus und seinen Gefährten. Odysseus irrt nicht einsam durch die Ägäis, sondern wird von ihm Untergebenen begleitet, deren Dienste er wieder und wieder in Anspruch nimmt. Charakteristisch ist die berühmte Szene, in der Odysseus mit seiner Besatzung die Insel der verführerischen Sirenen passiert. Während die Gefährten auf Befehl ihres Kapitäns mit verstopften Ohren rudern müssen und die künstlerische Darbietung ohne Ton und nur aus dem Augenwinkel verfolgen können, lässt sich Odysseus an den Hauptmast fesseln, um dem angeblich unwiderstehlichen Gesang der Sirenen lauschen zu können. Odysseus bürgerlich-ästhetische Erfahrung wird somit nur auf Grundlage kapitalistischer Arbeitsteilung möglich. Bekanntlich überlebt allein Odysseus seine lange Irrfahrt durch die Ägäis, während seine Gefährten allesamt umkommen. Sein bürgerliches Bildungserlebnis kann er also nur um den Preis des Opfers der ihm untergebenen Anderen absolvieren. Odysseus „entrinnt“ – ein Begriff, der auch für Adorno und Horkheimer wichtig ist. In der Dialektik der Aufklärung diskutieren sie das Entrinnen vor dem Holocaust – ein Entrinnen, das so vielen Anderen nicht gelungen ist –, just an der Stelle, an der sie den Begriff der „bürgerlichen Kälte“ einführen: Das Sterben der Anderen im Holocaust auszuhalten, ist nur durch Kälte möglich, will man nicht im Angesicht der Katastrophe verzweifeln.

An dieser Stelle zeigt sich die, für Kohpeiß sehr relevante, Ambivalenz des Begriffs der bürgerlichen Kälte: Bürgerliche Kälte ist nicht nur grausam, sondern auch verständlich. Und auch der Widerstand gegen die unmenschlichen Aspekte der bürgerlichen Gesellschaft ist auf Kälte angewiesen. „Mit kalten Institutionen umzugehen, erfordert Kälte“, schreibt Kohpeiß. Der bürgerliche Staat wird somit zum „Trainingslager der Kälte“ (S. 209), sowohl für diejenigen, die für als auch für diejenigen, die gegen seine Politik eintreten.

Auch im zweiten Teil ihres Buches, in dem sie die Leserin vom antiken Sterben in der Ägäis zum gegenwärtigen Sterben im Mittelmeer führt, geht es Kohpeiß nicht vorrangig darum, die Guten von den Schlechten zu unterscheiden, sondern zu beobachten, wie sich bürgerliche Subjektivität im Angesicht offensichtlicher Widersprüche selbst aushält. Hier beschreibt sie etwa die affektiven Politiken, die in der medialen Vermittlung der Auseinandersetzung am Werk sind, die die Seenotretterin Carola Rackete, die als Kapitänin gegen die Anweisung der italienischen Küstenwache geflüchtete Menschen an Land bringt und so vor dem Ertrinken rettet, mit dem italienischen Innenminister Mateo Salvini, der eine konsequente Abschottungspolitik betreibt, führt: Das Hervorrufen von individuellem Mitleid gegenüber Geflüchteten, das eine Wut gegen die strukturelle Dimension der Ausgrenzung so kanalisiert, dass der Status quo nicht destabilisiert wird. Die Inszenierung von Empörung gegenüber dem bösen Innenminister und der Verehrung für die heldenhafte Widerstandskämpferin bleibt gegenüber dem Regimecharakter des Unrechts ebenso unschädlich. Kohpeiß macht damit deutlich, dass bürgerliche Kälte keineswegs die Abwesenheit von Gefühlen meint. Das leidenschaftliche Plädoyer für die faire rechtlich-bürokratische Abwägung von Interessen und die passionierte Hinwendung zum vernünftigen Diskurs von Argumenten können ebenso Ausdruck bürgerlicher Kälte sein. Insofern passt die Metapher der Klimaanlage fast noch besser: eine Technologie, die für eine angenehme Temperatur im bürgerlichen Wohnzimmer sorgt. Denn von den bürgerlichen Subjekten bleiben die Anderen, die im Mittelmeer ertrinken, durch Klassen- und rassifizierte und Schranken isoliert.

Es ist also die Trennung zwischen dem bürgerlichen Subjekt und seinem Anderen, das die bürgerliche Kälte ermöglicht. Das lässt sich, so Kohpeiß, mit der Perspektive der dekolonialen und Black-Studies-Theorie verständlich machen. Der dritte Teil ihres Buches führt die Lesenden dann konsequenterweise auch vom Mittelmeer in den Atlantik. Denn für die dort behandelten Theoretiker*innen wie Denise Ferreira da Silva und Sylvia Wynter müssen die „subjekttheoretischen Konsequenzen des transatlantischen Sklavenhandels“ (S. 247) in den Blick kommen: die grundlegend rassifizierte Anlage des bürgerlichen Subjekts. Die wird aber durch die bürgerliche Leidenschaft für das Transparente und Objektive systematisch verdeckt. Da Silva und Wynter kritisieren weiße marxistische und feministische Ansätze dafür, dass sie für alle Menschen transparente Interessenlagen postulieren. Tatsächlich unterschätzen diese Ansätze die Rassifizierung bürgerlicher Subjekte und universalisieren damit gleichsam weiße Erfahrungswelten gegenüber Schwarzen sozialen Wirklichkeiten.

Kohpeiß verdeutlicht das beispielhaft anhand Fred Motens Kritik an Hannah Arendts berühmtem Essay über die Little-Rock-Kontroverse. Arendt kritisierte die gewaltsame Durchsetzung der Aufhebung der Rassentrennung an Schulen in den US-amerikanischen Südstaaten mit dem Argument, Eltern würden ihre politischen Konflikte auf dem Rücken ihrer Kinder austragen. Zu dieser Zeit ging ein Zeitungsfoto um die Welt, das die Schwarze Schülerin Elizabeth Eckford zeigt, wie sie von der Polizei begleitet ihre neue Schule betritt. Arendt imaginiert Eckfords Mutter als die eigentlich politisch Handelnde, die ihr Kind für den Protest gegen Rassismus missbraucht. Doch tatsächlich lag die Sache anders. Eckford meldete sich selbst freiwillig für die Protestaktion und erzählte ihren Eltern, von denen sie Widerrede erwartete, erst im letzten Moment davon. Warum konnte Arendts klarer analytischer Blick, ihr berühmtes „Denken ohne Geländer“, Elizabeth Eckfords Handlungsmacht und ihren Freiheitsdrang nicht erkennen? Arendt stand, so Kohpeiß, ihre eigene politische Theorie im Weg. Die Trennung zwischen Öffentlichem und Privatem und damit auch die Unterscheidung von Politischem und Sozialem sind für Arendt konstitutiv. Doch es ist diese Abwertung von privater, sozialer Wirklichkeit des Schwarzseins in einem System weißer Vorherrschaft, die Elizabeth Eckford für Arendt unlesbar macht. Stattdessen plädiert Kohpeiß mit Fred Moten für eine Priorisierung des Sozialen über das Politische und damit auch für eine Kritik am bürgerlichen Subjekt selbst.

In The Undercommons[1] sprechen Fred Moten und Stefano Harney von einem „antisocial contract“, der die bürgerliche Gesellschaft begründet. Saidiya Hartman bringt das Verhältnis von Freiheit und Unfreiheit in ihrem Buch Scenes of Subjection[2] mit der „burdened individuality of freedom“ auf den Begriff. Beide Existenzweisen sind also für die von Kohpeiß diskutierten Ansätze keine sich ausschließenden Subjektpositionen, sondern bedingen sich gegenseitig. „Bürgerliche Subjekte, als sich selbst besitzende, und versklavte Subjekte, als sich selbst enteignete, bilden die Dialektik moderner Subjektivität“ (S. 293). Hier zieht Kohpeiß dann auch die Verbindungslinien zwischen der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule und den dekolonialen und Black-Studies-Ansätzen, insbesondere afropessimistischen Stimmen. Freiheit ist die „Bruchstelle, die bürgerliche und versklavte Subjekte miteinander verbindet” (S. 341) und diese Freiheit ist nicht, wie in der liberalen Lesart, ein natürlicher Zustand, sondern immer dialektisch mit der Unfreiheit verknüpft. Das hat, so Kohpeiß, methodische Konsequenzen für die Philosophie als bürgerliche Wissenschaft. Adornos Methode der negativen Dialektik und afropessimistische Forderungen nach Abolition überschneiden sich. Beiden geht es darum, „Kritik und Affirmation gleichzeitig zu denken“ (S. 365) und eine Philosophie zu betreiben, „die angemessenen Gebrauch von Fluchtlinien aus Sehnsucht und Spekulation macht“ (S. 357).

„Bürgerliche Kälte“ ist ein inspiriertes und inspirierendes Buch, das überzeugende Brücken schlägt zwischen der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule, den Affekttheorien und den Theorien der Dekolonisierung und der Blackness. Die wissenschaftliche Analyse der Funktionsweise der Bourgeoisie ist aktueller denn je. Doch um sie durchzuführen, müssen Kapitalismuskritik und Kolonialismuskritik gemeinsam angegangen, marxistische, feministische und dekoloniale Theorie miteinander und gegeneinander gelesen werden. Wie fruchtbar solche Grenzüberschreitungen sein können, zeigt Henrike Kohpeiß in sehr eindrücklicher Weise.

  1. Harney, Stefano / Fred Moten, The Undercommons. Fugitive Planning and Black Study, New York 2013.
  2. Saidiya V. Hartman, Scenes of Subjection. Terror, Slavery, and Self-Making in Nineteenth-Century America, Oxford 1997.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Hannah Schmidt-Ott.

Kategorien: Affekte / Emotionen Gesellschaft Gesellschaftstheorie Kapitalismus / Postkapitalismus Kolonialismus / Postkolonialismus Kritische Theorie Rassismus / Diskriminierung Soziale Ungleichheit

Jonas Bens

Jonas Bens ist Vertretungsprofessor am Institut für Ethnologie der Universität Hamburg. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Politik- und Rechtsanthropologie. Zu seinen Büchern gehören The Indigenous Paradox: Rights, Sovereignty, and Culture in the Americas (University of Pennsylvania Press, 2020) und The Sentimental Court: The Affective Life of International Criminal Justice (Cambridge University Press, 2022).

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