Jürgen Kaube, André Kieserling | Interview |

„Die komplexe Spaltung ist ein anderes Wort für Frieden“

Ein Gespräch mit André Kieserling und Jürgen Kaube über ihr Buch „Die gespaltene Gesellschaft“

Der Bundeskanzler hat am 7. September im Bundestag erklärt, wer die Spaltung herbeirede, gefährde den Zusammenhalt des Landes. Das sei jetzt das Falsche. Wie klingt eine solche Stellungnahme in Ihren Ohren, nachdem Sie gerade ein Buch über die „gespaltene Gesellschaft“ geschrieben haben?

André Kieserling: Ich habe nicht den Eindruck, dass wir in einer Gesellschaft leben, die man allein durch Reden spalten kann.

Jürgen Kaube: Im Ruanda des Jahres 1994 haben im Rundfunk gesendete Aufforderungen, ganze Bevölkerungsgruppen zu vernichten, eine verheerende Rolle gespielt. Von einer solchen Lage sind wir zum Glück doch weit entfernt.

Obwohl wir, so die Diagnose in Ihrem Buch, von einer Spaltung der Gesellschaft weit entfernt sind, wird darüber viel und gern geredet. Haben Sie eine Erklärung dafür?

Jürgen Kaube: Die Behauptung, ein Konflikt spalte die Gesellschaft, wertet nicht nur den Konflikt auf, sondern immer auch eine der Konfliktparteien. Wenn man sich beispielsweise nicht impfen lässt und dadurch Nachteile in Kauf nimmt, kann man dieser eigenen Entscheidung einen besonderen Glanz dadurch verleihen, dass man sie zur Entscheidung in einem drastischen, die Gesellschaft als Ganzes betreffendem Konflikt erklärt. So verhält es sich in vielen Konflikten und im Parteienstreit überhaupt. Wer den Gegner aufruft, nicht zur Spaltung beizutragen, bringt sich selbst auf die Seite der Friedliebenden. Die Behauptung, der eigene Konflikt sei geeignet, die Gesellschaft als Ganze in Mitleidenschaft zu ziehen, hat, verbunden mit dem Plädoyer, ebendies müsse jetzt verhindert werden, eine besondere rhetorische Qualität.

André Kieserling: In den 1950er-Jahren hat die Soziologie ausführlich diskutiert, woran man erkennt, dass der Bestand einer Gesellschaft gefährdet ist. Das Ergebnis dieser Diskussion war, dass der Fortbestand einer Gesellschaft eigentlich nur sehr selten auf dem Spiel steht – und dass die damals auch von Soziologen gern gestellte Frage, ob eine bestimmte Handlung den Bestand der Gesellschaft nun erhält oder nicht, viel mehr gefährdet und viel zu allgemein gestellt ist. Nur wenn man diese soziologische Einsicht ignoriert, kann man eigenen Forderungen dadurch Nachdruck verleihen, dass man vor den Gefahren einer andernfalls drohenden Spaltung warnt. Diese politische Rhetorik hat als solche ihr Recht, aber man darf sie nicht für bare Münze nehmen.

Wer von Polarisierung redet, äußert meist eine Warnung, verpackt als Diagnose. Es muss also überprüft werden können, ob Spaltung droht. Woran könnte man Spaltungstendenzen erkennen? Worauf wäre zu achten?

Jürgen Kaube: Wenn man glaubt, ein Konflikt spalte die Gesellschaft, müsste man nachweisen können, dass der Konflikt oder die mit ihm ins Spiel kommende Unterscheidung alle gesellschaftlichen Dimensionen des Handelns in Mitleidenschaft ziehen kann. Ein Beispiel dafür ist in unserem Buch Nordirland. Die eigene Konfession, die Tatsache, protestantisch oder katholisch zu sein, betrifft dort nicht nur religiöse Aspekte, sondern sehr viel mehr, etwa die Stellung am Arbeitsmarkt, den Zuschnitt der Wahlkreise, die Chancen, sich in Wahlen durchzusetzen. Selbst die Berechtigung, Grundstücke zu erwerben, war lange Zeit daran gebunden. Auch die Erziehung ist entlang dieser Konfessionslinie gestaltet. Wenn in so vielen gesellschaftlichen Dimensionen eine Unterscheidung auschlaggebend ist und diese Unterscheidung sich als Konflikt und dieser Konflikt dann auch noch als gewalttätiger Konflikt geltend macht, dann können wir langsam davon sprechen, dass Nordirland, wenn wir Nordirland eine Gesellschaft nennen wollen, eine starke Spaltungstendenz aufwies und vielleicht immer noch aufweist. Es wäre für uns gewöhnungsbedürftig, würden in ostdeutschen Städten die eher liberal Denkenden ihre Straßenzüge durch meterhohe Mauern von den Straßen der eher Pegida-haft Denkenden abtrennen. In Nordirland finden wir solche Mauern.

André Kieserling: Das Bild einer gespaltenen Gesellschaft suggeriert, dass es eine kleine Zahl von überschneidungsfrei getrennten Großgruppen gibt, die gegeneinander antreten. Jeder Beteiligte gehört einer und nur einer dieser Gruppen an, und umgekehrt beansprucht seine jeweilige Gruppe ihn gleichsam mit Haut und Haaren. Jede positive Sozialbeziehung zu Leuten aus der Gegengruppe käme einem Verrat gleich. Man ist dann in einer Lage, in der man die Gegengruppe jederzeit angreifen könnte, ohne Freunde, Verwandte, Glaubensgenossen oder Geschäftspartner zu vergraulen. Wie das Beispiel Nordirland zeigt, gibt es solche Fälle durchaus, aber von Spaltung wird heute auch dort geredet, wo man es in Wahrheit nicht mit einem großen und diffusen, sondern mit mehreren kleinen und spezifischen Konflikten zu tun hat, die dadurch gegeneinander differenziert werden, dass sich mit dem Thema des Konfliktes auch der Gegner ändert. Jemand, den man in dem einen Konflikt bekämpft, mag in dem anderen auf der eigenen Seite stehen, und das erzieht dazu, sich auch in der Rolle des Gegners zu schonen. In der Struktur der modernen Gesellschaft ist eine solche Differenzierung der Konfliktfronten angelegt. Es gibt viele Spaltungen, die jedoch nicht die Gesellschaft spalten, sondern einen engeren, sei es religiösen, sei es politischen oder ökonomischen Einzugsbereich haben. Es muss sehr viel passieren, bis es zu einem einheitlichen Konflikt kommt.

Die Vielzahl unterschiedlicher Konflikte, in denen wir alle in verschiedenen Rollen agieren, verhindert Spaltung ...

Jürgen Kaube: Sie macht es zumindest wahrscheinlich, dass sich die jeweils in den Konflikten engagierten Gruppen keineswegs so säuberlich trennen lassen, dass sie Stämme bilden, die in jeder sozialen Hinsicht in der Lage sind, diese eine Konfliktlinie zu reproduzieren. Wir beschreiben ausführlicher den historischen Fall der Niederlande, für den sich auch die Soziologie stark interessiert hat. In diesem Land existierte über einen langen Zeitraum hinweg das, was man ,Säulen‘ genannt hat, in denen man katholisch oder protestantisch oder sozialistisch leben konnte. Und zwar jeweils in einem derart umfassenden Sinne, dass man eine katholische Schule besuchte, sich aus katholischen Medien informierte, eine katholische Partei wählte, ein katholisches Krankenhaus aufsuchte, wenn man krank war usw. Die Frage ist, wie lange sich eine solche Versäulung überhaupt durchhalten lässt, da mit ihr gewisse Leistungsopfer einhergehen. Warum soll ich mich ausgerechnet von einem katholischen Internisten behandeln lassen? Vielleicht ist der protestantische ja besser. Entscheidend ist natürlich, ob die Versäulung auch die Politik prägt, also jenen Bereich, der per Gesetz und mittels Verwaltung ganze Bevölkerungen auf bestimmte Dinge festlegen kann. In den Niederlanden haben Regierungen mit katholischer oder protestantischer Dominanz die Versäulung nicht in der Absicht genutzt, das ganze Land auf ihre Linie zu bringen und dadurch böses Blut entstehen zu lassen. Die relative Friedlichkeit der Versäulung hing daran, dass sie politisch weitgehend ungenutzt blieb.

André Kieserling: Das ist deshalb so erstaunlich, weil die niederländischen Parteien ja an diese soziale Differenzierung angepasst waren, jede Säule hatte ihre eigene politische Organisation. In einer solchen Situation droht die Gefahr, dass eine sozialstrukturell vorgegebene Spaltung politisch eins zu eins reproduziert wird. Die Partei der größeren Gruppe gewinnt dann zuverlässig alle Wahlen, und folglich wird die kleinere Gruppe diese Hegemonie als eine Art politischer Enteignung wahrnehmen. Für sie ist der Staat dann das Instrument in den Händen der anderen. Häufig werden Mehrheitsverhältnisse tatsächlich in dieser Weise missbraucht. Dann versagt die Politik an der Stelle, an der sie eigentlich gebraucht wird, nämlich in ihrer Aufgabe, soziale Konflikte so lange umzuleiten und umzuformen, bis man sie politisch gefahrlos entscheiden kann.

Jürgen Kaube: Auch dafür wäre Nordirland ein Beispiel, das über Jahrzehnte dank des Zuschnitts der Wahlkreise von Protestanten regiert wurde, sodass die Katholiken nicht ganz ohne Grund den Eindruck hatten, sie sollten von kollektiven Entscheidungen ferngehalten werden.

André Kieserling: In den Niederlanden wäre dagegen keine Säule groß genug gewesen, alle anderen zu unterdrücken, und auch von einer Koalitionsbildung auf Kosten einzelner Säulen wurde abgesehen. Stattdessen hatte man eine Art Allparteienregierung, in der die Macht nach Proporzgesichtspunkten aufgeteilt wurde. Politikwissenschaftler, die darin das Geheimnis des inneren Friedens sehen, haben versucht, daraus ein Modell für Entwicklungsländer zu entwerfen. Mit mehr oder weniger Erfolg – im Libanon etwa hat es nicht funktioniert.

Aber in den Niederlanden hat sich die Versäulung friedlich aufgelöst. Hatte das ausschließlich politische Gründe?

André Kieserling: Eine Erklärung dieser Auflösung liegt sicher in den „Leistungsopfern“, von denen Jürgen Kaube schon gesprochen hat: Diskriminierung nach sachfremden Gesichtspunkten hat ihren Preis. Aber ich würde gerne noch eine zweite Erklärung für die politische Stabilität der Niederlande in der Zeit der Versäulung selbst hinzufügen, die die Erklärung aus der Kompromissbereitschaft der politischen Führer ergänzt. Wir haben sie dem Buch Dutch Society (1967) des niederländischen Soziologen Johan Goudsblom entnommen, der später im Umkreis von Norbert Elias bekannt wurde. Goudsblom hat schon früh darauf hingewiesen, dass zwei Prinzipien in der Großgruppenbildung wirksam waren, die ihrerseits quer zueinanderstanden. Einerseits gehörte man dieser oder jener Konfession an, konnte entweder Protestant oder Katholik sein, und dies in allen sozialen Schichten. Andererseits gab es eine Art Klassenspaltung, die jeweils Protestanten und Katholiken aufgrund ihrer gleichen sozialen Lage zusammenfasste. Die Parteien griffen teils das eine, teils das andere Spaltungsmotiv auf, um sich voneinander zu unterscheiden und für Identifizierbarkeit zu sorgen. Unter diesen Umständen wird eine Klassenpartei verhindern wollen, dass sich die Leute allzu sehr für Religion interessieren, weil das zu ihrer eigenen Spaltung führen würde, für eine Konfessionspartei gilt dasselbe in Bezug auf sozioökonomische Unterschiede. Also ist es gewissermaßen ein Glücksfall gewesen, vielleicht sogar ein Glücksfall der europäischen Geschichte insgesamt, dass sich zwei Riesenkonflikte überlagerten: die konfessionelle Spaltung und die Klassenkonflikte des 19. Jahrhunderts, die untereinander nicht versäult waren. Wann immer man den einen Konflikt betonte, hatte man Motive dafür, an der anderen Front Frieden zu halten. Sozialer Ausgleich und religiöse Toleranz hatten je eigene Sprecher gefunden.

Jürgen Kaube: Im deutschen Kontext ist die Geschichte der ehemals größten Parteien CDU und SPD in dieser Hinsicht ganz interessant. Die CDU, die sich ursprünglich aus einem katholischen politischen Spektrum rekrutierte, hat irgendwann verstanden, dass man die Hälfte der Bevölkerung als Wähler verliert, wird zu stark auf dem Katholizismus herumgeritten. Daher hat die CDU in der Bundesrepublik das Christliche und nicht mehr das Konfessionelle betont. Inzwischen ist auch ein Muslim bei den Christdemokraten willkommen. Bei der SPD ist Ähnliches in Bezug auf die Klassenkonflikte geschehen. Wenn man sich im strikten Sinne als Arbeiterpartei versteht, leidet man am Schrumpfen der Arbeiterschaft in Gesellschaften mit vielen Dienstleistungen und einer personalstarken Verwaltung. Manche werfen der SPD vor, dass sie nicht mehr als Repräsentant einer Konfliktlinie im Klassenkampf agiert. Olaf Scholz würde gewiss nicht sagen: „Ich führe hier Klassenkampf“. Er würde vielmehr sagen: „Wir brauchen mehr Respekt für Leute mit geringem Einkommen“.

Welche Rolle spielen ökonomische Ungleichheiten, sozialökonomische Lagen bei der Entwicklung von Spaltungstendenzen?

André Kieserling: Das ist bis heute Gegenstand wissenschaftlicher Kontroversen geblieben. Einerseits gibt es so gut wie keine Klassenparteien und keine Konfessionsparteien mehr. Die Parteien unterscheiden sich nicht nach Maßgabe einer Großgruppendifferenzierung, die der Politik vorgegeben wäre, sondern nach Maßgabe von Ideologien, von denen jede die Gesamtbevölkerung adressiert. Andererseits gibt es natürlich nach wie vor statistische Zusammenhänge zwischen der sozialen und ökonomischen Lage einer Person, und ganz ähnlich auch zwischen ihrer religiösen Einstellung oder ihrer ethnischen Zugehörigkeit und ihrem Wahlverhalten. Vielen Wahlforschern genügen diese Zusammenhänge, um nach wie vor von einer „politisierten Sozialstruktur“ zu sprechen. Wir sehen den entscheidenden Sachverhalt demgegenüber eher darin, dass die politische Unterstützung gegenüber der Sozialstruktur und insbesondere gegenüber der Struktur ungleicher Verteilungen mobilisiert worden ist. Gleiche Interessen können verschiedene Parteien unterstützen, und umgekehrt kann ein Kandidat, wie man nicht zuletzt aus der aktuellen Diskussion über Populismus weiß, über größere Interessengegensätze hinweg unterstützt werden.

Jürgen Kaube: Die Leute haben nicht nur einen ökonomischen Grund dafür, eine bestimmte Partei zu wählen. Nehmen wir das Beispiel der Grünen. Man hört, dass die Durchschnittswähler der Grünen gar nicht so schlecht verdienen, vielleicht sogar besser als die Durchschnittsparteimitglieder der Grünen. Daraus mögen gelegentlich auch gewisse Spannungen in der Partei resultieren. Doch existiert ein übergreifendes, ökologisches Interesse. Man hält es für eine gute Sache, dass sich die Grünen gegen den Klimawandel wenden und für den Naturschutz engagieren. Also muss im Einzelnen nicht mehr nachgefragt werden, was die Partei für Steuersätze durchzusetzen beabsichtigt. Man nimmt diese Dinge halt hin und lernt, damit als Wähler leben zu müssen. Wichtig für die Argumentation in unserem Buch sind die Wechselwähler. Zumindest für Deutschland fällt auf, wie stark doch von Wahl zu Wahl neu entschieden wird. Hierzulande haben wir inzwischen einen Wechselwähleranteil von annähernd vierzig, fünfzig Prozent. Ständig wird in den Wahlkabinen gewechselt – und zwar in den überraschendsten Richtungen, von den Grünen zur CDU, von der SPD zur AfD oder von der AfD zur FDP. Diese Wechselwähler sind eine für jede Partei außerordentlich bedeutsame Gruppe, gäbe es sie nicht, könnten sich die Parteien einfach auf ihre Stammklientel konzentrieren und wären auch programmatisch auf sie festgelegt. Also ist jede Wahl ein Kampf um Leute, die nicht so festgelegt sind; Letzteres bedeutet unter anderem offenbar auch, durch die eigene ökonomische Position nicht so festgelegt zu sein. Aus diesem Grund müssen in den Parteien Anpassungsprozesse stattfinden, die CDU hat dann einen Arbeitnehmerflügel und eine Frauengruppe, die Grünen eine Fraktion von Realos usw. Das ist der Typ von Politik, der Spaltung unwahrscheinlicher macht. Hartnäckigkeit in der Durchsetzung von Konfliktlinien, mit denen man zunächst angetreten ist, prämiert diese Art der Politik jedenfalls nicht.

Die Kontrastfolie in Ihrem Buch und in der Wirklichkeit liefern die USA eines Donald Trumps. Was hat sich dort anders entwickelt? Wie ist die starke Polarisierung jenseits des Atlantiks zu erklären?

Jürgen Kaube: Auch in den Vereinigten Staaten wird lebhaft diskutiert, wie ausgeprägt die Spaltung der Gesellschaft tatsächlich ist. Einige Sozialwissenschaftler und Journalisten beobachten eine vollständige Polarisierung. Gemeint ist damit, dass sich die Parteien insofern selbst polarisiert haben, als sich die Republikaner und Demokraten nicht mehr als politische Gegner, sondern als Feinde betrachten. Durch Donald Trump herrscht im Grunde immer Wahlkampf. In Wahlkämpfen werden übertriebene Beschreibungen der anderen Seite akzeptiert, auch Warnungen, das Land werde untergehen, sollte die andere Partei an die Macht kommen. Wenn ständig Wahlkampf betrieben wird, jagt eine Feinderklärung die andere. Diese Inflation erklärt allerdings noch nicht, warum sich Wähler solchen Feinderklärungen überhaupt anschließen und glauben, wichtiger als das, was die Republikaner faktisch tun oder lassen, sei, dass die Demokraten auf keinen Fall eine nächste Wahl gewinnen. Und vice versa. Augenscheinlich haben wir es mit einer dem Sport abgeguckten Perspektive auf Politik zu tun. Dennoch finden sich unter den Sozialwissenschaftlern in den USA durchaus auch Stimmen, die sagen, die Polarisierung erfasse nicht das gesamte Land. Die Leute wohnen nicht republikanisch, schauen Filme auch nicht republikanisch.

André Kieserling: Die Situation in den Vereinigten Staaten ist deswegen so interessant, weil nicht bestritten werden kann, dass eine politische Polarisierung vorliegt. Die Parteien schenken sich gegenseitig nichts, die Bereitschaft zu parteiübergreifenden Kooperationen schwindet, obwohl Kompromissbereitschaft eigentlich im institutionellen Arrangement der US-amerikanischen Entscheidungsprozesse angelegt ist. Allenthalben wird ein Stillstand der Gesetzgebung beklagt. Auf beiden Seiten ist die übermächtige Tendenz sichtbar, der anderen Seite den guten Willen und damit die Wählbarkeit abzusprechen. Die politische Polarisierung erreicht sicherlich extreme Werte. Aber wie weit reicht das in den Alltag und in andere politikferne Lebensbereiche hinein? Die Frage ist umso wichtiger, als ja auch die beiden Hauptparteien in den USA nicht vorbestehenden sozialen Gruppen entsprechen. Selbstverständlich lassen sich auch hier wieder statistische Trends im Wahlverhalten beobachten: Schwarze etwa wählen eher demokratisch als republikanisch, und zwar heute mehr als früher, doch reden wir allenfalls von Tendenzen, nicht von exklusiven und zwingenden Vorgaben. Es fällt schwer, die Parteien in den USA auf ein vorpolitisches soziales Substrat zu beziehen und zu behaupten, sie verstärkten den dort bereits bestehenden Konflikt, indem sie ihn in die politische Arena und den Kampf um die Besetzung der höchsten Ämter hinein verlängern. Stattdessen wuchert der politische Konflikt und zieht andere Bereiche in Mitleidenschaft, was beispielsweise heißt, dass die politisch Andersdenkenden nicht mehr als Ehepartner oder als Nachbarn in Betracht kommen. Die Situation ist insofern eine andere als in den Zeiten der versäulten Niederlande.

Trotz der extremen politischen Polarisierung ist, wie Sie im Buch schreiben, der Aufstand ausgeblieben. Warum?

André Kieserling: Natürlich hat es den sogenannten Sturm aufs Kapitol gegeben, und in der Presse wurde er mitunter als Aufstand beschrieben. Randall Collins hat ihn inzwischen mit den Aufständen im Zusammenhang mit der französischen respektive der russischen Revolution verglichen – mit dem Ergebnis, dass ihm viele wichtige Merkmale eines richtigen Aufstandes fehlen. Aber auch unabhängig von der mangelnden Vorbereitung dieser Aktion muss man sich über die geringe Beteiligung wundern. Glaubt man den Umfragen, sind die Hälfte der Wähler Donald Trumps bereit, ihm die These von der gestohlenen Wahl abzunehmen. Es gibt demnach zig Millionen Amerikaner, die sich seit dem Wahlsieg Joe Bidens von einer Partei regiert glauben, die sich schon einmal an den Spielregeln der Demokratie versündigt hat und die das sicher auch beim nächsten Mal tun wird, sofern es ihr nützt. Misst man sie an der Größe dieser Gruppe, dann war die soziale Beteiligung am sogenannten Sturm auf das Kapitol minimal. So gut wie niemand ist dem Ruf gefolgt, sich an der Rettung der Demokratie zu beteiligen. Aber warum nicht? Der amerikanische Soziologe Musa al-Gharbi hat aus diesem Missverhältnis den Schluss gezogen, dass man den Leuten nicht abnehmen darf, was sie in Umfragen sagen. Er erklärt das wie folgt: Die Sozialwissenschaftler in den Vereinigten Staaten stehen in dem nicht unbegründeten Ruf, samt und sonders Demokraten zu sein. Kommt nun so jemand, um einem Republikaner eine Frage zu stellen, wird dieser Befragte leicht den Eindruck gewinnen, er solle aufs Kreuz gelegt werden. Würde er bekennen, er glaube Trump nicht, dass die Wahl gestohlen wurde, stünde anderntags in der Zeitung, nicht einmal seine Anhänger nähmen dem abgewählten Präsidenten die These vom Wahlbetrug ab. Also verhält er sich solidarisch, erzählt lieber Unsinn, als seinen Präsidenten bloßzustellen und Männchen für dubiose Leute von der Gegenseite zu machen. Das ist eine mögliche Erklärung, wahrscheinlich ließen sich noch andere finden.

Ich suche nach einem guten Gegenbegriff zur Rede von der „gespaltenen Gesellschaft“. Was ist eine „nicht gespaltene Gesellschaft“?

Jürgen Kaube: Es gibt eine prominente Tradition, die gesellschaftlichen Zusammenhalt mit Spaltung kontrastiert. Doch enthält das Wort „Zusammenhalt“ durchaus irreführende Komponenten, etwa die Vorstellung, die Leute müssten, damit Zusammenhalt funktioniert, in wesentlichen Dingen einer Meinung und sich überhaupt möglichst ähnlich sein. Aber diese Idee wäre nur schwer mit der Individualisierung der Lebensverhältnisse in Übereinstimmung zu bringen. Auch die Vorstellung, der Frieden hänge an der Homogenität der Bevölkerung, liefert keine sinnvolle Beschreibung. Wäre es tatsächlich so, müssten die modernen Gesellschaften oder Nationalstaaten allesamt verzweifeln, sind sie doch ausgesprochen heterogen. Faktisch leben sie von ihren Inhomogenitäten, zum Beispiel in Hinblick auf die Karrieren, die aus Herkunftsfamilien und -milieus herausführen. In vielen gesellschaftlichen Bereichen muss man sich andauernd auf Neues und Abweichendes einstellen. Würde jede Abweichung den Zusammenhalt oder – wie es früher einmal hieß – „die Gemeinschaft“ gefährden, müsste man jeden Tag und jede Nacht nervös sein. Faktisch hat diese Nervosität aber gar keine Anlässe. Lange Listen von Gemeinsamkeiten zwischen den Bürgerinnen und Bürgern sind nicht nötig, die Gesellschaft ist durch Devianz nicht in ihrem Bestand bedroht. Auch ein Begriff wie „Arbeitsteilung“ besagt, dass Integration durch Differenzierung bewerkstelligt wird. Wenn ich in der FAZ jeden Tag eine Zeitung mache, kann ich nicht meinen eigenen Garten bestellen, muss das Gemüse also von jemandem beziehen, der sich beruflich auf Gartenbau spezialisiert hat. Mit ihm oder ihr bin ich insofern integriert als uns wechselseitige Angewiesenheit aufeinander vereint. In diesem Sinne von Integration leben, so mein Eindruck, die allermeisten Menschen. Für sie geht von dem Umstand, dass andere Menschen etwas anderes machen oder denken als sie, keine Gefahr aus. Und selbst dort, wo Dissens auftritt, kann man mit der Differenzierung leben. Häufig wird Dissens doch umgetopft, sei es in Debatte oder Indifferenz: Na gut, die sind anderer Ansicht, gehen wir halt unserer Wege.

André Kieserling: Es läge nahe, an den Gegenbegriff Gemeinschaft zu denken. Aber empirisch gesehen sind es ja immer Konfliktparteien und speziell Kampfverbände, in denen besonders hohe Werte für sozialen Zusammenhalt erreicht werden. Der Gemeinschaftsbegriff gehört also selbst noch in die Konfliktsoziologie. Vielleicht genügt es ja, zwischen zwei verschiedenen Arten von Spaltung zu unterscheiden, einer einfachen Spaltung, bei der alle Konflikte sich zu einer Front aufsummieren, und einer komplexen Spaltung, bei der eine Konfliktfront die andere neutralisiert. Die komplexe Spaltung ist ein anderes Wort für Frieden oder Gewaltferne, das heißt für eine gesellschaftliche Situation, in der man von Spaltung in der gängigen Bedeutung des Wortes gerade nicht bedroht ist.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Jens Bisky.

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Jürgen Kaube

Jürgen Kaube ist Journalist und Soziologe. Er ist Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und zuständig für das Feuilleton.

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André Kieserling

Professor Dr. André Kieserling ist Professor für Allgemeine Soziologie / Soziologische Theorie an der Universität Bielefeld.

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