Yael Kupferberg, Till Wagner | Interview | 07.07.2023
„Die Kritische Theorie Max Horkheimers ist jüdische Philosophie“
Yael Kupferberg im Gespräch mit Till Wagner
[1]Frau Kupferberg, mit „Zum Bilderverbot“[2] haben Sie jüngst eine Studie zum Spätwerk Max Horkheimers veröffentlicht. Was hat Sie zu diesem Thema gebracht?
Bei der Themenfindung spielte meine „Positionalität“, ein Begriff Plessners, eine wichtige Rolle. Meine emphatische Lektüre Horkheimers ist auch eine persönlich-intellektuelle Selbstvergewisserung. Als Jüdin in Deutschland der dritten Generation bin ich daran interessiert, jüdische Erfahrung und Erkenntnis zu manifestieren. Max Horkheimer und sein engerer Kreis stehen für eine Haltung, für ein jüdisches Denken, das es heute kaum mehr gibt, nicht geben kann, dessen analytische Kraft und intellektueller Reiz für mich jedoch bis heute besteht – dies möchte ich aufzeigen. Das ist die persönliche Dimension des Buches. Darüber hinaus beschränkt sich die Rezeption der Kritischen Theorie gerade in Deutschland tendenziell auf ihr universalistisches philosophisches Angebot, während die jüdische Erfahrung und das Paradigma des Judentums als ihr Fundament – bewusst, unbewusst, kenntnislos – unterschlagen wurde und wird. Ich wollte kenntlich machen, dass es sich bei Horkheimers Denken auch um eine Übersetzung jüdischer Paradigmen handelt, dass also jüdisches Denken und jüdische Erfahrung von Horkheimer philosophisch aufgenommen wurden. Außerdem ging es mir darum, eine Linie aufzunehmen, die in der Philosophie, in der Antisemitismusforschung und in der Antisemitismustheorie kaum Erwähnung findet: das doppelte Potenzial des Bildverbots als Grundlage der subjekt-objektiven Kritikfähigkeit und als Paradigma des Judentums.
Worin besteht dieses Potenzial?
Das biblische Bilderverbot negiert die Dartstellungsmöglichkeit Gottes und postuliert das „ganz Andere“, das „Absolute“. Dies beschreibt ein Gedachtes, was außerhalb des ‚Daseins‘ ist, um es verkürzt zu sagen. Damit bietet das Bilderverbot eine Transzendenz an, die Kritikfähigkeit ermöglicht. Denn wenn das Göttliche menschlich und konkret wird, so wie mit Jesus als Erlöser geschehen, ist die Welt nicht zu kritisieren – weil die Korrekturmöglichkeit durch die Integration des Absoluten suspendiert ist.
Das Werk Horkheimers ist sehr umfangreich. Auch das Spätwerk, das Sie ab seiner Emeritierung 1959 ansetzen, besteht aus einer Vielzahl von Vorträgen, Gesprächen und Niederschriften, ist in seiner Form jedoch eher fragmenthaft. Wie sind Sie an das Material, das maßgeblich aus „Spänen“ besteht, herangegangen?
In der Tat ist Horkheimers Spätwerk durch kleinere literarische Formen gekennzeichnet, von denen es eine Vielzahl gibt, unter anderem intellektuelle „Späne“: Niedergeschriebene Gedanken, dokumentierte kurze und längere Gespräche, Einfälle, Notizen. Mich hat diese freiere und zugleich direkte Ausdrucksweise angesprochen, weil sie Spontaneität und Pointe zulässt und unzensierter erscheint. Die Texte sind nicht vorrangig für den Zweck der Publikation, also für die Öffentlichkeit niedergeschrieben, sondern bezeugen eher das private Denken. Und dieses Denken beherbergt, so stellt es sich für mich dar, maßgeblich die jüdische Erfahrung, die mich insbesondere interessiert hat. Auch habe ich diese späten Niederschriften als Beiträge wahrgenommen, die Horkheimers komplexere Schriften und Vorträge sowohl konzentrieren als auch flankieren und ihnen so einen Gehalt verleihen, der in der deutschsprachigen Rezeption eher unbelichtet bleibt.
Diese Nivellierung hat freilich einen historischen Grund; die Vertreibung und Vernichtung der europäischen beziehungsweise deutschen Juden bedeutete auch das gewaltsame Ende jüdischer Philosophie und Intellektualität in Deutschland. Wenn nach 1945 von jüdischem Geist beziehungsweise von Judentum und Juden gesprochen wurde, so geschah dies überwiegend gehemmt und von nicht-jüdischer Seite von Scham, Schuld oder Abwehr geprägt. Dieses Beschweigen zeugte auch von der Unfähigkeit, mit der Tatsache umzugehen, dass Auschwitz geschehen war beziehungsweise von den Deutschen getan wurde. Und so wurde Kritische Theorie nach 1945 kaum und wenn überhaupt dann von jüdischen Intellektuellen und Akademikern auch als jüdische Philosophie gelesen beziehungsweise erkannt.
Vor diesem Hintergrund erschien es mir angebracht, die prominenten Begriffe und Postulate Horkheimers näher zu betrachten, zu kontextualisieren und mit seinem Judentum und seinen biografischen Erfahrungen in Beziehung zu setzen. Insofern wollte ich mit der Studie „Zum Bilderverbot“ nicht nur auf ein Desiderat in der Rezeption hinweisen. Es ging mir um mehr: Für mich ist das jüdisch-philosophische Moment zentraler Bestandteil Horkheimers Philosophie. Dieses jüdische Moment als Erfahrung und Erkenntnis erschließt sich aus der Lektüre, muss jedoch als solches erkannt werden. Das ist vielleicht historisch erst jetzt möglich. Ich könnte auch sagen: die Studie ist eine Form der Restitution.
Sie beschreiben das Bilderverbot als „kritische Haltung in und an der Welt“. Was bedeutet diese Haltung für die Philosophie Horkheimers?
Kurz gesagt: Alles! Das Bilderverbot – in seinem philosophischen Gehalt – begründet eine denkerische Haltung zur Welt, es begründet Kritikfähigkeit. Denn es postuliert eine Transzendenz, die nicht vermittelbar ist. Gott als Idee ‚ist‘ absolut – nicht darstellbar, nicht im ‚Dasein‘, also nicht empirisch erfassbar. Insofern kann auch nichts und niemand seinen Platz einnehmen. Mit Kant und Hermann Cohen erkennt Horkheimer im Bilderverbot die Grenze, die jedes sich selbst bewusste Denken hat. Dieses Denken fordert eine Form der Selbstbeschränkung, der Reflexion ein, die das Bilderverbot garantiert. In der philosophischen Übersetzung Horkheimers heißt das: Jede Erkenntnis, jedes Dasein, ist relativ, nichts ist ‚absolut‘. Das „ganz Andere“ muss ein Gedachtes sein, weil die Vernunft sonst selbst absolut würde, sich nicht korrigieren könnte und damit mythologisch würde. Mit dem Bilderverbot ist indes der Modus der Kritik gewährleistet, weil es eine Distanz zum Objekt fordert. Insofern gilt es in Horkheimers Lesart als Garant der Aufklärung, der Ethik und als Fundament der reflexiven Vernunft – als Idee oder als, mit Kant gesprochen, „Leitung“ des Denkens.
Zudem ist das Bilderverbot eine mimetische Vorgabe. Es verlangt, dass sich das Subjekt nicht an das Objekt angleicht, sich nicht mit ihm identifiziert. Das Bilderverbot erhebt also Einspruch gegen die affirmative und resignative Aneignung der Welt; und dieser Einspruch, dieser Widerstand, besteht religionsphilosophisch darin, dass Gott – das „Absolute“ – nicht darstellbar ist.
In welchem Verhältnis steht das Bilderverbot zu den anderen relevanten Einflüssen in Horkheimers Denken wie dem deutschen Idealismus und dem Marx’schen Materialismus?
Für das Denken Horkheimers sind, neben anderem, vor allem die Politische Ökonomie Marx sowie das Denken insbesondere Kants und Hegels zentral. Marx gehört zum philosophischen Gepäck, damit hat sich die Forschung hinlänglich befasst. Und auch Hegels Dialektik etwa, das Subjekt-Objekt-Verhältnis, ist in seinen Varianten selbstverständlich fundamental. Der positiven Aufhebung jedoch, der Synthese, musste sich Horkheimer aufgrund des Bilderverbots verweigern. Die Synthese, das heißt die Kongruenz beziehungsweise Identität von ‚Dasein‘ und ‚Sein‘ gibt es aus religionsphilosophisch-jüdischer Perspektive nicht. Es kann sie nicht geben, weil damit behauptet werden würde, dass der Mensch erlöst sei. Dem war weder historisch so noch ist es gegenwärtig der Fall. Negation galt Horkheimer hingegen als fortschrittlicher. Zum einen ist sie der philosophische Hort der unendlichen als offener Bewegung, zum anderen beinhaltet sie, gerade weil Geschichte weiter geht, auch die Hoffnung auf ein zukünftiges Besseres.
Von besonders großer Bedeutung für Horkheimers Spätwerk scheinen mir jedoch die Postulate Kants zu sein. Indem Kant die „Grenze“ zwischen „Glauben“ und „Wissen“ manifestierte übersetzte er das Bilderverbot in die Philosophie. Denn erst die Trennung von ‚Glaube‘ und ‚Wissen‘ ermöglicht einen reflexiven Umgang mit der Welt, wie auch das Bilderverbot durch die Anerkennung der Differenz von Subjekt und Objekt das Fundament für Kritik legt.
Gerade die Normativität von Kants Denken und sein Postulat der Vernunft waren nicht allein für Horkheimer, sondern für die jüdische Philosophie der Moderne – prominent ist Hermann Cohen zu nennen – insgesamt bedeutsam. Horkheimers Verhältnis zu Kant wurde insbesondere von jüdischen Rezipienten bedacht, zu nennen wäre etwa der Sozialphilosoph Joseph Maier.
Max Horkheimer ist vor allem für die gemeinsam mit Theodor W. Adorno verfasste Dialektik der Aufklärung und für den Begriff der „instrumentellen Vernunft“ bekannt, den er in Eclipse of Reason (1947) entwickelt. Damit beschreibt er eine Vernunft, die rein zweckrational agiert, sich aber der Herrschaft unterordnet und nicht auf Befreiung zielt. Ist in Horkheimers Kritik der instrumentellen Vernunft, die zu seinem früheren Werk gehört, die Kritik der Idolatrie – also einer das Bestehende affirmierenden und kritisches Denken hemmenden Geisteshaltung – bereits angelegt?
Die Kritische Theorie ist programmatisch vom Ethos getragen, die Gesellschaft und die von ihr erzeugte Ideologie zu analysieren und das heißt selbstverständlich: zu kritisieren. Zumindest bei Horkheimer ist das bereits in seinen frühen Schriften erkennbar, etwa in den Dramenfragmenten oder in Dämmerung (1934). In Dialektik der Aufklärung (1944/1947) ist das Bilderverbot bereits präsent. Eine dezidiertere und offen artikulierte philosophische Hinwendung zum Judentum erfolgt in der Emigration und nach Auschwitz, wenn ich es recht sehe. Gerade im späten Denken Horkheimers kommt ihm ein besonderes Gewicht zu, als philosophisch-analytisches Moment und als jüdisches Paradigma, das nach der Katastrophe und in der „verwalteten Welt“ zu retten ist. Freilich ist auch für den philosophische Marxismus, dem Horkheimer zugeneigt und der seinem Denken inhärent ist, die Kritik das wesentliche Moment. Bereits in seinen frühen Schriften wendet er sich gegen das Bestehende, also gegen die „instrumentelle Vernunft“. Horkheimers Ethos war immer das der Kritik – im späten Denken wird jedoch klarer artikuliert, dass diese Kritik von der Idee des „Absoluten“ getragen ist.
Inwiefern entwirft Horkheimer in seinem Spätwerk anhand seines Judentums eine Alternative zum instrumentellen Vernunftgebrauch?
Das Judentum in seiner idealistischen Ausprägung verweigert sich der Darstellung Gottes; jede Überhöhung des Weltlichen wird negiert. Diese Trennung ist, wie ausgeführt, Garant für Kritikfähigkeit. Doch mehr noch: Wenn es keine gedachte unbedingte Autorität, keine Idee vom Absoluten gibt, dann hat, so Horkheimer, auch das moralisch-ethische Handeln keine Begründung, keine Referenz. Die „instrumentelle Vernunft“ ist also auch Ausdruck eines fehlenden Korrektivs; sie ist plan, berechnend, hat keinen metaphysischen Begriff vom Menschen. Stattdessen wird der Mensch, wie Horkheimer auf den Kategorischen Imperativ Kants rekurrierend postuliert, selbst zum „Mittel“ und damit seiner Würde beraubt.
Horkheimer meint, dass das Judentum die Dialektik bewahrt ohne sie aufzuheben, weil es die Idee des „ganz Anderen“, des Absoluten, der Grenze fundiert. Und damit verweigert sich das Judentum seinem Verständnis nach der Affirmation des Bestehenden und erhält das Moment der Kritik, der Differenz, des ‚Nichtidentischen‘. In dem Widerstand, den es leistet, ist die nicht zu artikulierende Utopie aufbewahrt. Als ‚Leitung‘ des Denkens (Kant) setzt es damit der ‚instrumentellen Vernunft‘ ein unbedingtes Korrektiv und eine gedachte absolute Autorität entgegen. Das Ethos des Judentums ist insofern dem Kategorischen Imperativ Kants eingeschrieben: „Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“ Oder kürzer und biblisch, in Horkheimers Worten: „… denn er ist wie du.“ Damit ist die Würde des Menschen in der Idee des Absoluten – im Judentum – abgesichert. Kant hat das in die Philosophie übersetzt.
In ihrem Buch beschreiben sie, wie der Aufstieg des Nationalsozialismus Horkheimers Denken ebenso prägte wie sein Blick auf den Holocaust als ins Exil Entkommener. Diese Feststellung steht im Gegensatz zum in der Rezeption erhobenen Vorwurf, Horkheimer hätte sich in seinem Spätwerk von politisch gesellschaftlichen Problemen gelöst.[3] Inwiefern lässt sich die verstärkte Hinwendung zu Bilderverbot und Idolatriekritik als Reaktion auf den Zivilisationsbruch des Holocaust und die Geschichte des 20. Jahrhunderts begreifen?
Vielleicht war es mehr Selbstironie als eine Feststellung, aber Horkheimer wies bekanntlich darauf hin, dass die Menschen im fortgeschrittenen Lebensalter konservativ werden. Ich möchte diese Aussage nicht bewerten. Offenkundig scheint mir jedoch, dass Horkheimer, nachdem er sich philosophisch tendenziell der Universalität zugewandt hatte, in den späteren Jahren verstärkt auf die jüdische Existenz in der Welt rekurrierte, die ja seine eigene war. Und zwar mit dem Ziel, diese zumindest und gerade philosophisch zu retten. Sein Insistieren auf der Kritik an Idolatrie war nicht allein eine Reaktion auf Auschwitz, aber sie war es auch. Zwar argumentierte Horkheimer bereits zuvor im philosophischen Gestus des nichtdarstellbaren Utopischen. Nach Auschwitz jedoch wurde dieser Bezug – so meine Einschätzung – direkter, indem er postulierte, dass dieser Gestus im jüdischen Paradigma des Bilderverbots begründet liegt. Und – so verstehe ich es –, dass das Judentum das Utopische als Moment des zivilisatorischen Fortschritts rettete, indem es ihn manifestierte.
Eine weitere Dimension des Verbots liegt in seinem analytischen und habituellen Gehalt: Es unterbindet die mimetische Aneignung des Projizierten. Die Aufweichung des Verbots bestärkt einen idolatrischen Habitus, der eine affirmative Angleichung an das Objekt, Identifikation, Irrationalität, Affektion, Antisemitismus, Ideologisierung, Fanatismus, Härte impliziert. In der bildhaften Aufhebung des Verbots sah Horkheimer, um es überspitzt zu formulieren, den Habitus des Antisemiten. Dieser hat – philosophisch ausgedrückt – ein distanzloses, rein instrumentelles Verhältnis zu sich selbst, zum Subjekt und zum Objekt. Insofern war Horkheimers philosophische Beschäftigung eine dezidierte analytisch-intellektuelle Reaktion auf den Nationalsozialismus, auf Antisemitismus, auf Auschwitz. Und sie war politisch, weil er das Subjekt in seiner historisch katastrophisch verwirklichten sozialisierten Haltung zur Welt bedachte, die ihn als Juden existenziell betraf.
Horkheimers Spätwerk wird wegen den deutlicheren religiösen Bezügen und der Verhandlung metaphysischer Fragen in der zeitgenössischen Rezeption als Bruch mit seinem früheren Werk wahrgenommen. Wie sehen Sie das Verhältnis von Horkheimers früheren zu seinen späteren Schriften; spielt das Judentum wirklich erst in den nach 1959 verfassten Texten eine Rolle?
Ich muss zugeben, dass mich insbesondere das Partikulare an Horkheimers Werk interessiert hat. Darin erkenne ich eine normative und eine jüdische Haltung, die von wenigen wahrgenommen beziehungsweise gewürdigt wurde. Sie tritt im späten Werk deutlicher hervor, ich würde aber dennoch behaupten, dass das jüdische Thema, die Frage nach der jüdischen Positionalität auch im Frühwerk von Bedeutung ist, etwa in den Dramenfragmenten. In seinem in der Emigration verfassten, prominenten und nicht unumstrittenen Aufsatz „Die Juden in Europa“ (1939) diskutiert Horkheimer jüdische Existenz im Angesicht des Nationalsozialismus und verweist dabei bereits auf das Bilderverbot als der Referenz des Judentums. In seinem späten Werk bleibt Horkheimer am Allgemeinen interessiert, zieht jedoch seine jüdische Existenz und seine jüdische Erfahrung als Erkenntniskategorie heran. Diese historisch-jüdische Erfahrung, die Vernichtung der europäischen Juden, hat Horkheimers Hinwendung forciert, aber nicht nivelliert, dass die umfassende bessere Einrichtung der Welt alle Menschen betreffen muss. Dieser Universalismus zieht sich als Tenor durch sein Werk.
Lässt sich die seltene und oft negative Bezugnahme auf Horkheimers Spätwerk in der Rezeption als Abwehr oder Ressentiment gegen das dort deutlicher hervortretende jüdische Denken deuten?
Ja. Die Rezeption wollte das Universale – das auch fraglos in der Kritischen Theorie enthalten ist – wahrnehmen und weiterschreiben. Gleichzeitig wurde aus Kenntnislosigkeit, Unsicherheit, Unbehagen und Befangenheit die jüdische Erbschaft verschwiegen, nivelliert oder abgewertet. Das ist bis heute so. Das jüdische Moment der Kritischen Theorie, dessen Gestus und Gehalt, wird eher verdrängt. Dagegen möchte ich Einspruch erheben: Die Kritische Theorie ist auch jüdische Philosophie, die in einer historischen Situation geschrieben wurde, die in einer bestimmten Sozialisation und einer bestimmten Erfahrung gründet. Das muss einerseits anerkannt, andererseits vor allem auch verstanden werden, will man die Tiefe der Philosophie Horkheimers nachvollziehen. Für mich ist das die berühmte „Flaschenpost“ Horkheimers und Adornos – eine Botschaft, die, so sie einmal in der Welt ist, irgendwann und irgendwo auf einen geneigten, interessierten Menschen trifft und damit Wissen, Erfahrung und Erinnerung weitergibt und so bewahrt.
Was wünschen Sie sich für die zukünftige Rezeption und Forschung zu Horkheimers Werk und zu seinem Beitrag zur Kritischen Theorie?
Ich meine, dass jede Generation eigene Lektüreerfahrungen macht und bestimmte, nämlich ihre eigenen Fragen an das Gelesene stellt. Ich wünsche mir – und das darf ich nicht wollen, denn es muss aus freien Stücken geschehen – dass diese spezifische jüdische Erbschaft in der Kritischen Theorie Horkheimers Anerkennung erfährt und nicht gänzlich im Allgemeinen und Indifferenten aufgeht, dass ihre Geschichte, ihr intellektueller Gehalt nicht suspendiert wird.
Für mich ist die Kritische Theorie auch als denkerischer Habitus und Gestus zutiefst von der jüdischen Erfahrung und vom jüdischen Paradigma geprägt. Wird dieses übergangen und ausgeklammert, so ist dessen erkenntnistheoretische, erkenntniskritische Potenzial kaum erfasst.
Sie machen deutlich, dass das Bilderverbot ein Denkmodus der Kritik ist, der gegen Affirmation und Ideologie aufbegehrt. Welche Relevanz messen Sie diesem spezifischen kritischen Denken in einer zunehmend von bildhafter Repräsentation dominierten Gegenwart bei?
Das „Bildverbot“ ist als Denkmodus analytisch hochrelevant. Gerade in einer Gegenwart, die zunehmend von bildhafter Repräsentation dominiert ist, ist es unabdingbar, über die spezifische zeitgenössische ästhetische Erfahrung und Aneignung von Welt nachzudenken und den Schein, die Ideologie zu kritisieren. Allerdings scheint mir weder das analytische noch das kritische Potenzial dieses Denkmodus ausgeschöpft. Daher plädiere ich sehr für seine Aktualisierung. Das Bilderverbot hat – in seiner philosophischen Übersetzung – eine epistemische Qualität, die darin besteht, Erfahrung und Erkenntnis zusammen zu denken. Angesichts der zeitgenössischen Digitalitäts- und Visualitätsdominanz formuliert es eine zeitgemäße Frage: Was passiert mit der relativen Autonomie des Subjekts, wenn sich die bildhaft vermittelte Erfahrung und die Wirklichkeit angleichen? Ich wage im Anschluss an Horkheimer zu behaupten, dass diese Angleichung die Transzendenz, das „ganz Andere“, die Grenze suspendiert und Kritik so unmöglich wird. Und das ist ein fundamentales Problem für das Subjekt und für die Gesellschaft.
Das Bilderverbot hat einen Imperativ: Es begründet eine distanzierte, mündige, also autonome Positionierung zum Objekt und postuliert damit einen emphatischen Begriff des Menschen, der sich gegen den ‚Naturzwang‘, gegen das identische Denken stellt. Die Kritische Theorie Horkheimers ist also jüdische Philosophie. Diese Philosophie kann universal und partikular gelesen und verstanden werden. Horkheimer hat ihre Universalität in seinem eigenen – jüdischen – Denken aufbewahrt.
Fußnoten
- Das Interview ist die überarbeitete deutsche Fassung eines Gesprächs, das im März 2023 unter dem Titel „Critical Theory’s paradigm is quintessentially Jewish“ auf dem Blog des Journal of the History of Ideas publiziert wurde und das unter https://jhiblog.org/2023/03/15/critical-theorys-paradigm-is-quintessentially-jewish-an-interview-with-yael-kupferberg/ abrufbar ist.
- Yael Kupferberg, „Zum Bilderverbot. Studien zum Judentum im späten Werk Max Horkheimers", Göttingen 2022.
- Vgl. Max Horkheimer, Was wir ‚Sinn‘ nennen, wird verschwinden, in: Ders., Gesammelte Schriften, Vorträge und Aufzeichnungen 1949–1973, hg. v. Gunzelin Schmid Noerr, Frankfurt am Main 1985, S. 345–357, urspr. in: Der Spiegel vom 5. Januar 1970; vgl. Juan José Sanchez, Wider die Logik der Geschichte. Religionskritik und die Frage nach Gott im Werk Max Horkheimers, Zürich 1980, u.a. S. 11; vgl. Pascal Eitler, „Gott ist tot – Gott ist rot“. Max Horkheimer und die Politisierung der Religion um 1968, Frankfurt am Main 2009.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Hannah Schmidt-Ott.
Kategorien: Kritische Theorie Philosophie Religion
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