Jochen Schwenk | Rezension |

Die Mühlen der Zivilisation 1

James C. Scott bürstet das Standardnarrativ der Menschheitsgeschichte gegen den Strich

James C. Scott:
Die Mühlen der Zivilisation. Eine Tiefengeschichte der frühesten Staaten
Deutschland
Berlin 2019: Suhrkamp
329 S., EUR 32,00
ISBN 978-3-518-58729-4

Dieser Tage erscheint beim Berliner Suhrkamp Verlag unter dem Titel Die Mühlen der Zivilisation. Eine Tiefengeschichte der frühesten Staaten[1] die deutsche Übersetzung der von James C. Scott (*1936) verfassten und 2017 auf Englisch als Against the Grain. A Deep History of the Earliest States[2] publizierten Studie über die Entstehung der ersten Staaten. Das ist erfreulich, weil damit ein äußerst produktiver und vor allem auch anregender Autor dem deutschen Lesepublikum (weiter) erschlossen wird. Aus der Feder von Scott war bislang auf Deutsch nur die beim Peter Hammer Verlag verlegte Übersetzung[3] des 2012 auf Englisch erschienen Essaybandes Two Cheers for Anarchism[4] zu erhalten. Das ist insofern erstaunlich, als dass das Wirken des an der Yale University beheimateten Sterling Professor of Political Science sowie Gründers und langjährigen Leiters des dortigen Program in Agrarian Studies nun bald eindrucksvolle fünf Jahrzehnte umfasst. In dieser Zeit hat Scott eine ganze Reihe teils umfänglicher Studien verfasst, die sich thematisch mit Formen des alltäglichen Widerstands gegen Herrschaft, Staatsflucht und nun eben auch Staatsgenese befassen. Lesenswert sind diese Arbeiten aus mindestens drei Gründen: Erstens ist es Scott auf diesem Weg gelungen, eine neue Sichtweise zu erschließen, indem er auf die im Sozialen eingelassenen, herrschaftsfreien Praktiken und deren Widerstandspotenzial gegen den Staat scharfstellt. Zweitens liefert Scott eine grundlegende Kritik an den staatszentrierten Erzählungen menschlicher Entwicklungsgeschichte. Damit stellt er nicht nur eine in der sozialwissenschaftlichen Forschung bis heute weit verbreitete Lehrmeinung infrage, sondern untergräbt zugleich auch ein für das euro-amerikanische Selbstverständnis bis heute zentrales Narrativ. Drittens eröffnet Scott, vor allem vor dem Hintergrund aktueller Debatten um Artenvielfalt und Klimawandel, neue Perspektiven.

Der nachfolgende Beitrag nimmt die deutsche Publikation der Mühlen der Zivilisation zum Anlass, einen Überblick über die in den Arbeiten dieses überaus produktiven und anregenden Autors versammelten Motivlagen und Frageperspektiven zu vermitteln. Dazu wird mit einer Rekonstruktion des Kernarguments der Mühlen der Zivilisation (I) begonnen. Diese Rekonstruktion führt zu der für Scotts Arbeiten charakteristischen Perspektivierung, mit der sich zugleich ein kurzer Abriss über die weiteren Arbeiten dieses Autors verbindet (II). Die letzten beiden Abschnitte nehmen einige von Scotts Überlegungen auf und diskutieren sie mit Blick auf die Gegenüberstellung von Staatlichkeit und Vielfalt (III) sowie abschließend von Demokratie und Staatlichkeit (IV).

I. Die Mühlen der Zivilisation – Against the Grain

Die Menschheitsgeschichte – Scott spricht vom „Standardnarrativ“[5] – wird üblicherweise wie folgt erzählt: Zu Beginn zogen die Menschen in egalitär organisierten Gruppen als Jäger und Sammler umher. Daraus entwickelte sich später die Lebensweise der viehhaltenden Nomaden. Die Erfindung des Ackerbaus ermöglichte Sesshaftigkeit und setzte der nomadischen Lebensweise ein Ende. Zugleich waren mit dem Ackerbau und der Sesshaftigkeit auch die nötigen Voraussetzungen für die Organisation des menschlichen Zusammenlebens in Form von Staaten geschaffen. Unterstellt wird für den Verlauf der Menschheitsgeschichte, dass jede jeweils vorangegangene Entwicklungsstufe von stärkeren Entbehrungen, Krankheitsrisiken und größeren Unsicherheiten geprägt war als die nachfolgende und folglich jede neue Organisationsform des Zusammenlebens erhebliche Erleichterungen mit sich brachte. Charakteristisch für dieses Standardnarrativ ist insbesondere die Aufeinanderfolge distinkter Entwicklungsstufen, die zwangsläufig auf den Staat zuführen. In diesem Narrativ stellt er den Höhe- und Endpunkt gesellschaftlicher Entwicklung dar. Die frühen (Stadt-)Staaten erscheinen so als notwendiger Abschluss einer ganzen Entwicklungssequenz, die zu einem Mehr an Versorgungssicherheit, Gesundheit, Freiheit und sozialer Ordnung führte.[6]

Leider ist vieles an dieser Erzählung „falsch oder ausgesprochen irreführend“.[7] Das zeigen jedenfalls die von Scott herangezogenen Forschungen der letzten Jahrzehnte, die in so unterschiedlichen Feldern wie der Archäologie, (Früh-)Geschichte, Epidemologie, Demografie oder auch der Anthropologie unternommen wurden. Die Mühlen der Zivilisation nehmen nun diesen aktuellen Forschungsstand – mit besonderem Fokus auf das durch Euphrat und Tigris geprägte Mesopotamien – auf, um ihn zusammenzuführen und kritisch gegen das Standardnarrativ in Anschlag zu bringen. Ziel des Buches sei es, so schreibt Scott, „dieses Narrativ auf der Grundlage meiner Lektüre der Fortschritte in der archäologischen und historischen Forschung der letzten beiden Jahrzehnte in Frage zu stellen“[8]. Der Autor argumentiert wie folgt:

Die neuere Forschung lässt Zweifel am notwendigen Zusammenhang von Sesshaftigkeit und Ackerbau aufkommen. Einerseits weisen die archäologischen Befunde aus dem Zweistromland auf sedentäre Bevölkerungen hin, die „mit wenig oder ohne Landwirtschaft“[9] auskamen. Andererseits ist auch die „entgegengesetzte Anomalie […] anzutreffen: Getreideanbau verbunden mit Mobilität und verstreuter Population“[10]. Der Ackerbau zieht also eine ortsgebundene Lebensweise nicht unmittelbar oder gar zwangsläufig nach sich. Wesentlich wichtiger ist etwas anderes: Sesshaftigkeit, notiert Scott, ist „in Wirklichkeit bereits in ökologisch reichen und variationsreichen voragrarischen Umgebungen weit verbreitet – besonders in Feuchtgebieten am Rande saisonaler Migrationswege von Fischen, Vögeln und größerem Wild“[11]. Der entscheidende Faktor ist demnach die Vielfalt und Reichhaltigkeit der Nahrungsmittelnetze, die ein Habitat bereithält. Der Ackerbau wurde der Palette bereits bestehender Subsistenzformen schlichtweg hinzugefügt.[12] Er war nur eine Ernährungsweise unter anderen. Für die damaligen Menschen bedeutete er folglich gar keinen so großen Einschnitt wie es im Rahmen des Standardnarrativs postuliert wird, weil er an im Grunde durch gemeinsame Jagd- und Fangtechniken sowie den damit verbundenen Kooperations- und Koordinierungsbedarf gut eingespielte Praktiken anschließen konnte.[13] Für die Periode, die sich zwischen den ersten Hinweisen auf menschliche Siedlungstätigkeiten im Zweistromland bis zu den ersten allein auf Ackerbau angewiesenen Dörfern erstreckt,[14] lässt sich ein durchaus farbenfrohes Bild zeichnen: Es war eine „Periode des ständigen Experimentierens“[15] mit unterschiedlichen Ernährungsweisen, die „beliebig zu erfinderischen Hybridformen“[16] kombiniert wurden. Gleichzeitig war damit keine Präferenz für die sesshafte oder nomadische Lebensweise verbunden. Vielmehr scheinen die Populationen beständig zwischen beiden Lebensformen gewechselt zu haben. Der Vorzug dieser Flexibilität liegt vor allem in ihrer geringeren Vulnerabilität: Verglichen mit den allein auf Ackerbau angewiesenen Gesellschaften, waren flexible, zwischen den Lebensweisen wechselnde widerstandsfähiger und ressourcensparender.[17] Durch kurzfristige, klimatische Veränderungen hervorgerufene Engpässe im Nahrungsangebot konnten sesshafte Gruppen etwa mit einem temporären Wechsel überbrücken, in dem sie sich zeitweilig andere Nahrungsnetze erschlossen. Und in Zeiten allerschlimmster Not konnte eine Siedlung auch völlig aufgegeben werden, um durch eine gänzlich nomadische Lebensweise die Menge der zur Verfügung stehenden Lebensmittelnetze wieder zu erhöhen. Gleichzeitig hatte diese Flexibilität aber auch eine politische Dimension. Die Vielfalt der Nahrungsnetze eröffnete die Möglichkeit, den herrschaftlichen Ambitionen einzelner Personen oder ganzer Gruppen ausweichen zu können. Auf Grundlage dieser „flüchtigen Diversität“[18] war es jedenfalls nicht möglich, Populationen einem Verwaltungsapparat zu unterwerfen und ihnen einen Anteil ihrer Erträge abzupressen. Zu diesem Zweck hätten sie territorial fixierbar und greifbar sein müssen. „Solange die Subsistenz sich über mehrere Nahrungsnetze verteilt“, argumentiert Scott daher, „ist das Entstehen eines Staates unwahrscheinlich.“[19]

Trotzdem entstanden ungefähr ab 3.200 v. d. Z. im Gebiet des Zweistromlands erste Staaten, die Scott als Institutionen definiert, die „über eine Beamtenschicht verfügen, die auf die Schätzung und Einnahme von Steuern spezialisiert ist […] und einem Herrscher oder Herrschern verantwortlich ist“.[20] Sie weisen zudem eine soziale Stratifizierung und Hierarchisierung auf. Durch den Einsatz administrativen oder militärischen Personals waren diese Staaten in der Lage, Macht über ein begrenztes Territorium und die dort lebende Bevölkerung auszuüben. Wie war es dazu gekommen?

Die archäologischen Befunde zeigen, dass die Trophie des Zweistromlandes im Laufe der Zeit abgenommen hat, so dass eine zunehmende „Knappheit an Großwild […] als Proteinquelle“[21] angenommen wird. Die Gründe für diese Veränderungen sind bis heute nicht abschließend geklärt. Im Ergebnis führten sie aber dazu, dass die Nahrungsmittelausfälle durch den Wechsel auf andere Nahrungsmittelnetze nicht mehr ausreichend kompensiert werden konnten, wodurch die zuvor bereits praktizierten, landwirtschaftlichen Anbautechniken – insbesondere der Kornanbau – deutlich an Bedeutung gewannen. Was daraus entsteht, ist eine in der Menschheitsgeschichte völlig neue Subsistenz- und Lebensform, die Scott als „spätneolithische[s] Getreide- und Arbeitskraft-Modul“[22] bezeichnet. Es handelt sich dabei um eine zuvor nie dagewesene, auf landwirtschaftlichem Kornanbau basierende, durch Sesshaftigkeit hervorgerufene räumliche Verdichtung unterschiedlichster Lebewesen an einem Ort. Ackerbau und Sesshaftigkeit wurden für die Populationen des Zweistromlands zum dominierenden Muster.

Im Unterschied zum Standardnarrativ lässt sich diese Veränderung allerdings kaum als zivilisatorischer Gewinn verbuchen, sondern eher als erster „Schritt eines langen Weges zunehmender Mühsal“.[23] Denn der Kornanbau bringt ein entbehrungsreicheres Leben mit sich, handelt es sich bei der Bewirtschaftung von Ackerland doch um eine zeit- und arbeitsintensive Angelegenheit. Die Ackerfläche muss der sie umgebenden Natur abgetrotzt werden, das Korn braucht dauerhafte Pflege, die Äcker müssen für die Aussaat vorbereitet werden, während des Wachstums müssen die Äcker gejätet und gewässert, schließlich muss die Ernte eingebracht werden. „Für derlei Arbeiten“, heißt es bei Yuval Noah Harari, „ist der Körper des Homo sapiens vollkommen ungeeignet. Rücken, Knie, Gelenke und viele andere Körperteile zahlten einen hohen Preis für die landwirtschaftliche Revolution. Untersuchungen von fossilen Skeletten zeigen, dass der Übergang zur Landwirtschaft ein Füllhorn von Leiden mit sich brachte.“[24] Hinzu kommt, dass das neuartige Zusammenleben von Tieren und Menschen in den bäuerlichen Siedlungen einen idealen „Nährboden für Krankheitserreger“[25] schuf.

Im Unterschied zu den nomadischen Jäger- und Sammlergruppen ist auch die Keimbelastung durch Fäkalien in den neolithischen Siedlungen wesentlich höher und durch den dauerhaft engen Kontakt mit Tieren – Hunde, Katzen, Ziegen und Schafe, aber auch Ratten, Flöhe und Wanzen – stieg die Gefahr von Zoonosen[26]. Und da die bäuerlichen Populationen durch die mit ihrer Subsistenzweise verbundene einseitige Ernährung auch noch schlecht versorgten waren,[27] erhöhte sich das Ausmaß an Krankheiten wie auch Todesfällen in den Siedlungen automatisch. Aber auch die Siedlungen selbst waren, in dem Maße wie der Kornanbau zur einzigen Subsistenzgrundlage wurde, einem höheren Risiko ausgesetzt: Dürren, Unwetter oder Schädlingsplagen entwickelten sich schnell zu existenzbedrohenden Ereignissen. Das „Zusammenleben auf engem Raum“, stellt Scott daher lakonisch fest, „konnte tödlich sein“.[28]

Neben diesen unmittelbaren Risiken für Leib und Leben hatte die Entstehung bäuerlicher Siedlungen schließlich auch gravierende Folgen für das kulturelle Leben. Für sich genommen, schreibt Harari, „waren die Jäger und Sammler die klügsten und geschicktesten Menschen der Geschichte“.[29] Demgegenüber diagnostiziert Scott eine „Dequalifizierung“[30] des sesshaften und Ackerbau betreibenden Menschen, denn der Kornanbau nahm ihn vollkommen in Beschlag. Die gleichförmigen Tätigkeiten führten zur Verengung der „Aufmerksamkeit auf die natürliche Welt“,[31] so dass andere praktische Wissensbestände zunehmend nutzlos wurden und verkümmerten. Scott vermutet, dass sowohl die Verengung der Ernährungsweise als auch die Verengung des Lebensraums schließlich ebenso eine Verengung der Spannweite des rituellen Lebens herbeiführten.[32]

Die Entstehung des spätneolithischen Getreide- und Arbeitskraft-Moduls war also kein Fortschritt auf dem Weg in eine bessere Zukunft, sondern eher das Ergebnis einer unglücklichen Entwicklung, eine Art Notlösung, mit der die Menschen auf den entstandenen Existenzdruck reagierten. Ohne Notlage wäre diese gleichermaßen anstrengende wie riskante Lebens- und Subsistenzform kaum je attraktiv erschienen, zahlte man dafür – vor allem in gesundheitlicher Hinsicht – doch einen hohen Preis. Entsprechend zögerlich wurde dieser Weg beschritten. Im Ergebnis entstanden zunächst kleine, hauptsächlich auf Kornanbau spezialisierte Siedlungen. Sie waren die „notwendige, aber nicht hinreichende Grundlage für die Staatenbildung“.[33] Hinzu kamen klimatische Veränderungen sowie das damit verbundene Absinken des Meeresspiegels und eine Verringerung der Wassermenge in den Flüssen des Zweistromlands, die schließlich die ersten Staatsbildungen beförderten. Die zunehmende Trockenheit setzte die Menschen endgültig in ihren Siedlungen fest. Der Kornanbau blieb als einzige Möglichkeit zur dauerhaften Nahrungssicherung übrig. Die auf diese Weise entstandenen so genannten „Siedlungshügel“[34] bündelten ein „Konzentrat aus Bevölkerung und Getreide“[35], das einige der wesentlichen Eigenschaften aufwies, die nötig waren, um im Interesse einer herrschenden Elite ausgebeutet zu werden. Die Menschen waren von einer trockenen wie kargen Umwelt umgeben und saßen in den bäuerlichen Siedlungen fest, weshalb die Flucht kein denkbares Mittel war, sich dem herrschaftlichen Zugriff zu entziehen. Zugleich aber bot das Korn selbst – so Scotts Argument– die idealen Eigenschaften dafür, Abgaben und Besteuerung zu ermöglichen und einzufordern. Korn wächst oberirdisch und reift in etwa zeitgleich,[36] wodurch Erträge wie Erntezeitraum abschätzbar sind. Zudem lässt es sich gut abmessen, teilen,[37] transportieren,[38] und lagern, was zahlreiche administrative Vorteile bietet. Kurzum: Dem Eintreiben von Steuern und Abgaben kamen die Eigenschaften des Korns sehr entgegen. Durch sie wurde es überhaupt erst möglich, das spätneolithische Getreide- und Arbeitskraft-Modul effektiv in den Dienst einer herrschenden, selbst nicht produktiven Elite zu nehmen. Die frühen Staatsgründungen können auf diese Weise als „Nischenbau für eine Elite“[39] betrachtet werden, denn ihr Zweck war die Ausbeutung subalterner Gruppen. „Die Staatsform“, schreibt Scott, „kolonisiert diesen Nukleus [das spätneolithische Getreide- und Arbeitskraft-Modul] als ihre produktive Basis, vergrößert ihn, verstärkt ihn und liefert ihm gelegentlich eine Infrastruktur – etwa durch Transport- und Bewässerungskanäle –, um die Gans, die goldene Eier legt, zu mästen und zu schützen.“[40] Weizen, Gerste, Reis, Hirse und Mais erweisen sich so als „politische Feldfrüchte“,[41] zwischen denen und der Staatsform eine „Wahlverwandtschaft“[42] besteht. Durch das Korn wird Staatlichkeit möglich, gleichzeitig erlauben seine Eigenschaften, den „appropriierbaren Überschuss der agropastoralen Erzeugnisse“[43] abzuschöpfen, „um Nichtproduzenten zu ernähren: Beamten, Handwerker, Soldaten, Priester, Aristokraten“.[44] Aus diesem Grund handelt es sich bei den frühen Staaten durchweg um „Getreidestaaten“.[45]

Die Entstehung des Staates war für die kornanbauenden Populationen im spätneolithischen Mesopotamien – das wird aus der Darstellung Scotts mehr als deutlich – also alles andere als eine erfreuliche Entwicklung. Im Unterscheid zum Standardnarrativ erweist sich die Staatsgenese zumindest für den größeren Teil der Bevölkerung gerade nicht als Schritt heraus aus einem von Entbehrungen und alltäglichem Überlebenskampf geprägten Naturzustand hinein in die Annehmlichkeiten der Zivilisation. Das Gegenteil ist der Fall: War schon die Entstehung des spätneolithischen Getreide- und Arbeitskraft-Moduls aufgrund seiner Entbehrungen und Risiken ein unwahrscheinlicher Schritt, so gilt das für den Staat erst recht. Die notwendige Mehrarbeit kann den Kornanbau betreibenden Bevölkerungsteilen staatlicherseits nur unter Androhung und Anwendung von Gewalt abgerungen werden. Der dafür notwendige Militärapparat erhöht wiederum die Steuer- und Abgabelast. Für die Kornanbauenden erweist sich der Staat so vor allem als eine zusätzliche Belastung, die das Leben nicht leichter macht, sondern im Gegenteil neue und massive Schwierigkeiten mit sich bringt. Als menschheitsgeschichtlichen Fortschritt – wie es das Standardnarrativ gern möchte – lässt sich diese Entwicklung jedenfalls kaum mit gutem Gewissen verkaufen.

Die Mühlen der Zivilisation erweisen sich so im Kern als ein mit großer Kunstfertigkeit aus den Forschungsständen unterschiedlicher Fachdisziplinen zusammengesetztes Mahlwerk, das das zivilisationstheoretische Standardnarrativ geradezu pulverisiert. Dabei beeindruckt vor allem die intellektuelle Redlichkeit, mit der Scott sich auf die aktuellen Wissensstände einlässt. Er nimmt sie ernst genug, um sich von ihnen dazu bewegen zu lassen, bisherige Vorstellungen „against the grain“, also gegen den Strich, zu bürsten. Sein größtes Verdienst dabei ist sicherlich, die vielen bereits bekannten Details zu einem – im Vergleich zum Standnarrativ – umfassenden und schlüssigen Gegenentwurf zusammengefügt zu haben.

II. An Anarchist Squint – Eine produktive Verschiebung des Blickwinkels

So wertvoll Die Mühlen der Zivilisation als Summa des jüngeren Forschungsstands für die Fachdiskussion auch sein mögen, es bleibt die Frage offen, warum wir uns heutzutage überhaupt mit den mehr als 5000 Jahre zurückliegenden Vorgängen befassen sollten? Mit gutem Recht wäre zu fragen, was solche Formen archaischer Staatlichkeit[46] überhaupt mit unseren heutigen Gesellschaften gemein haben sollen und was sich in der Auseinandersetzung mit ihnen für unsere Gegenwart lernen lässt.

In seiner Religionssoziologie argumentiert Émile Durkheim, es seien gerade die „einfach[en] Fälle“,[47] die besonders aufschlussreich für die Entschlüsselung des Sozialen sein können. An ihnen trete das „Unumgängliche“[48] und „Wesentliche“[49] sozialer Institutionen am deutlichsten hervor. Sie stehen gewissermaßen „nackt da“[50] und bieten so einen Einblick in ihre grundlegende Funktionslogik. Folgt man diesem methodischen Hinweis Durkheims, eröffnet die Lektüre der Mühlen der Zivilisation irritierende Einsichten. Der archaische Staat fungiert dann als Brennglas, unter dem die grundlegenden Merkmale von Staatlichkeit besonders deutlich hervortreten und so auch als Struktureigenschaften moderner Staaten greifbar werden. Hinsichtlich der Subsistenzgrundlagen scheint sich wenig geändert zu haben: Auch heutige Staaten basieren – zumindest in letzter Instanz – auf verschiedenen Arten von Korn, mit all den ökologisch bedenklichen Konsequenzen, die der exzessive, technisch und chemisch hochgerüstete Ackerbau weltweit hat. Aber auch soziale Ungleichheit[51] und Herrschaftsausübung durch Eliten[52] erweisen sich nicht als vorübergehende Defizite, sondern vielmehr als wesentliche und vor allem auch historisch eingespielte Eigenschaften von Staatlichkeit. Umso irritierender ist daher die Beobachtung, dass die Staatsform seit ihrer „Erfindung“ vor rund 5.000 Jahren nicht nur Bestand hat, sondern die moderne Welt sogar zu einem Ort „des globalisierten Anspruchs auf Staatlichkeit“[53] geworden ist. Wer darauf eine Antwort sucht – und sich nicht vorschnell mit Thesen über die evolutionäre Überlegenheit des Staates zufriedengeben mag –, der wird mit Scott über die nachhaltige Wirkung des zivilisationstheoretischen Standardnarrativs nachdenken müssen. Die Argumentation des Autors zeigt, dass es sich dabei um ein „narzisstisches Selbstporträt“[54] des Staates handelt, an dem von Anfang an vor allem auch die schriftkundigen Verwaltungseliten (mit-)gearbeitet haben. Mit Bezugnahme auf Pierre Bourdieu ließe sich diese Art staatszentrierter Narration als „Staatsdenken“ [55] bezeichnen, dem eine performative Macht zukommt, mittels derer die staatlichen Kategorien und damit ebenso die staatliche Sichtweise der Welt in den Köpfen seiner Subjekte verankert. In Über den Staat[56] vermutet Bourdieu, dass „unser Denken, daß sogar die Strukturen des Bewußtseins, mit dem wir die soziale Welt und jenes eigentümliche Objekt Staat konstruieren, sehr wahrscheinlich vom Staat hervorgebracht worden sind“.[57] Dabei kommt ausgerechnet den Sozialwissenschaften im modernen Staat eine den schriftkundigen Verwaltungsexperten des archaischen Staates nicht unähnliche Rolle zu. Sie sind, gibt Bourdieu selbstkritisch an anderer Stelle zu Protokoll, „selber von Anfang an ein integraler Bestandteil dieses Bemühens um die Konstruktion der Darstellung des Staates gewesen, die Teil seiner Realität selbst ist.“[58] Im Ergebnis entsteht so eine überaus überzeugende Narration, die ihre Plausibilität gerade durch ihre zirkuläre Geschlossenheit gewinnt. Die Subjekte versuchen, ihre Welt mithilfe staatlicher Kategorien zu erfassen und finden so doch immer nur wieder den Staat. Dadurch scheint er ihnen aus der Wirklichkeit als Notwendigkeit entgegen zu kommen. Wer wie der Staat denkt, sieht am Ende auch nur noch Staat. Die Staatsform wird auf diese Weise zu einer Selbstverständlichkeit[59], mithin „erscheint die Permanenz des Staates und des von ihm verwalteten Raums als unausweichliche Konstante unserer Existenz.“[60]

Vor diesem Hintergrund eröffnen Die Mühlen der Zivilisation eine weitere Bedeutungsebene. Das Buch ist nicht nur eine fachliche Kritik des zivilisationstheoretischen Standardnarrativ, sondern identifiziert es zugleich als Staatsdenken, durch das sich der Staat vermittels seiner Subjekte als unausweichliche Tatsache in die Welt und ihre Geschichte einschreibt. Gegen diese alternativlos auf Staatlichkeit ausgerichtete Welt – Scott spricht von der „totalen Hegemonie der Staatsform heute“[61] – arbeitet das Buch an, um so Platz zu schaffen für das Andere des Staates. Dahinter steht eine epistemische Orientierung, die Scott als „anarchist squint“[62] bezeichnet. Diese Orientierung soll, vergleichbar mit einem kurzen Blinzeln, das staatszentrierte Zivilisationsnarrativ – in beinahe spielerischer Art und Weise – unterbrechen, um zumindest einen Augenblick lang für den Gedanken Platz zu schaffen, dass die „Staatsform alles andere als natürlich gegeben“[63] ist. Gemeint ist damit also eine erkenntniskritische Haltung, die sich von der unwahrscheinlichen Existenz des Staates irritieren lässt.

Scotts „anarchist squint“ umfasst mittlerweile fünf Jahrzehnte und hat sich als außerordentlich ergiebig erwiesen. Die in dieser Zeit geleistete Arbeit ist von dem anhaltenden Versuch geprägt, das Andere des Staates sichtbar werden zu lassen, was zugleich die Klammer benennt, die die unterschiedlichen Arbeiten dieses Autors zusammenhält. Denn der alltägliche Widerstand von „Bauern, Selbstversorger[n] und Landarbeiter[n]“[64] gegen Ausbeutung und Unterdrückung[65] markiert „das Thema, welches sich wie ein roter Faden“[66] durch Scotts Forschungsarbeiten zieht. Dahinter verbirgt sich eine gewisse Skepsis gegenüber der Nachhaltigkeit revolutionärer Großereignisse. Über sie notiert Scott, dass „virtually every major successful revolution ended by creating a state more powerful than the one it overthrew.“[67] Dementsprechend gewinnen der Alltag und die darin eingelassenen Formen des Widerstands an Bedeutung. Methodisch wird diese Umorientierung auf das Alltägliche durch die Hinwendung zur ethnologischen Feldforschung eingelöst. Ende der 1970er-Jahre verbringt Scott zwei Jahre in einem kleinen, malaiischen Dorf. Die Ergebnisse dieser Feldphase werden umfänglich in Weapons of the Weak[68] publiziert. In Fachkreisen gilt diese Studie noch heute – wie es in einem anlässlich des Erscheinens von Two Cheers for Anarchism verfassten Artikels in der New York Times heißt – als „a kind of bible“[69]. Was Scott durch diese ethnologische Erschließung des Alltags gewinnt, ist einerseits ein sehr fein justierter, geradezu mikrologischer Blick auf die Wirkungsmechanismen von Herrschaft. Anderseits ermöglicht ihm dieser methodologische Zugriff, den antiherrschaftlichen Widerstand in seiner praktischen, das heißt nicht-institutionellen und alltäglichen Form – Scott bezeichnet sie als „hidden transcripts“[70] oder „infrapolitics“[71] – zu erschließen. Widerstand ist dann keine Sache besonderer politischer Theorien oder Ideologien. Vielmehr erwachse er aus der Logik des Alltags heraus, in der die Betroffenen Herrschaft als soziale Wirklichkeit erfahren. Allerdings geht der Alltag nicht in Herrschaft auf, ist nicht vollständig von ihr durchdrängt. Vielmehr halte er auch Erfahrungen bereit, an denen die Praktiken des Widerstands anschließen können. „Forms of informal cooperation, coordination, and action that embody mutuality without hierarchy“, heißt es bei Scott, „are the quotidian experiences of most people“.[72] Den alltäglichen Erfahrungen mit Herrschaft stehen also nicht weniger alltägliche Erfahrungen mit Herrschaftslosigkeit gegenüber.

Dieses im Sozialen eingelassene Nebeneinander von Herrschaftslosigkeit hier und Herrschaft dort, wird von Scott in zwei seit Ende der 1990er-Jahre erschienenen, umfänglichen Studien gleichermaßen weiterentwickelt und auf ein höheres Abstraktionsniveau gehoben. Hinter dem Widerstand gegen Herrschaft und Staatlichkeit zeichnen sich die Konturen von Staatsflucht und Staatslosigkeit ab[73], hinter der Herrschaft tritt der Staat hervor. In Seeing Like a State[74] rekonstruiert Scott die Tätigkeit des modernen Staates als performative Macht. In ihr verschmilzt staatliche Herrschaftsfunktion mit modernistischen Planungsfantasien. Damit wird der Staat zu einer Macht, die die Welt – Landschaft, Flora wie Fauna und schließlich auch seine Bürger*innen – nach ihren Bedürfnissen formt. Der Staat ist also kein Mittel, sondern Zweck. Die Welt wird zu einem Abdruck staatlicher Interessen und Kategorien. Er schreibt sich förmlich in die Wirklichkeit ein, und indem er sie auf seine Zwecke hin ausrichtet, erscheint die Welt gleichzeitig homogener und einfacher. Diese Entwicklung geht zu Lasten des „valuable knowledge embodied in local pratices“[75] – Scott nutzt den Begiff der „mētis“[76] – und damit auf Kosten von „autonomy and diversity“[77] der Bürger*innen. Das ist umso dramatischer, als dass es gerade diese vielfältigen, unreglementierten, wechselseitig aufeinander bezogenen, kollektiven Handlungsformen sind, auf denen Sozialität fußt und auf die auch Staatlichkeit angewiesen bleibt. In letzter Konsequenz zerstört der Staat auf diese Weise gerade die vielfältigen, sozialen Ressourcen, die er selbst dringend braucht.[78] Der Hobbes’sche Naturzustand läge demnach nicht hinter, sondern vor uns. Er wird nicht vom Staat überwunden, sondern durch ihn überhaupt erst geschaffen. Der Kampf aller gegen alle entfaltet sich dort, wo der Staat sich selbst zu Fall bringt, indem er sein eigenes, soziales Fundament beschädigt. Das jedenfalls scheint Scott vor Augen zu haben, wenn er schreibt, „that we […] are in danger now of becoming precisely the dangerous predators that Hobbes thought populated the state of nature”[79]. Umso wichtiger sind die alltäglichen, in den Faltenwürfen des Staates verborgenen Experimente mit herrschaftsfreien Formen sozialer Kooperation und Wechselseitigkeit. Denn gerade sie sind es, die das Fortbestehen menschlicher Gesellschaft garantieren.

III. Staat vs. Vielfalt

Diese hier am Beispiel der vielfältigen Formen sozialer Kooperation durchgespielte Gegenüberstellung von Vielfalt und Staatlichkeit ist ein widerkehrendes Motiv in Scotts Arbeiten. In Die Mühlen der Zivilisation betont Scott die Vielfalt der Nahrungsmittelnetze. Sie – und nicht der Ackerbau – ermöglichte es den Menschen in Mesopotamien sesshaft zu werden[80]. Der Vorzug der Vielfalt ist, dass sie Risiken minimiert. Fällt beispielsweise ein Nahrungsmittelnetzwerk aus, kann es durch die Vielfalt anderer Nahrungsquellen ausgeglichen werden.[81] Dabei handelt es sich aus Scotts Perspektive um keine natürliche Vielfalt, sondern bereits um ein kulturelles Produkt. Er argumentiert, dass Menschen[82] bereits seit der Nutzung des Feuers ihre Umwelt formen. Der Mensch schafft sich so stets seine eigene Nische. Damit ist, worauf Marshall Sahlins hinweist, Kultur „older than Homo Sapiens“.[83] Entscheidend ist jedoch, dass er eine auf Vielfalt basierende Nische schafft – sie ist es, die ihm über die letzten gut 200.000 Jahre das Überleben gesichert hat.

Die im Verhältnis dazu kurze Geschichte des Staates folgt einer entgegengesetzten Logik. Der menschheitsgeschichtliche „Betriebsunfall“, der die Entstehung des Staates ermöglicht hat, setzt eine Dynamik der Standardisierung, Vereinfachung und Homogenisierung in Gang. Das spätneolithische Getreide- und Arbeitskraft-Modul ist Ausdruck einer Notlage. Die Menschen setzen nicht freiwillig alles auf Kornanbau, sie sind vielmehr dazu gezwungen, weil alle anderen Nahrungsmittelnetze nach und nach zusammenschrumpfen. Indem der Staat diese Notlösung zur weiteren Ausbeutung in seine Dienste nimmt, entsteht eine Gesellschaftsform, die schon von ihrer Subsistenzgrundlage her höchst einseitig ausgerichtet ist. Da die Staatsform zudem ressourcenintensiv ist – schließlich ist sie darauf angelegt, den Kornanbau betreibenden Populationen ein Surplus abzuringen, um die nicht-produktiven Eliten versorgen zu können – wird es nun umso wichtiger, die einmal erschlossene Nahrungs- und Abgabequelle möglichst effizient zu verwalten. Das setzt vor allem Vereinfachung und Standardisierung voraus. Das vom Staat verwaltete Territorium wird so immer gleichförmiger gestaltet. Scott argumentiert aus der „Sicht eines Steuereintreibers“[84] im Dienst eines archaischen Staates: Die Staatsabgaben lassen sich dort am einfachsten eintreiben, wo möglichst viele Pflanzen zur selben Zeit reif werden. Noch besser ist es, wenn man schon im Vorfeld abschätzen kann, wie viel Ertrag von einem zu besteuernden Feld in etwa zu erwarten ist. Das führt zur Standardisierung von Anbauflächen sowie zur Intensivierung monokulturellen Ackerbaus. Im Ergebnis entsteht eine Pfadabhängigkeit, die einer immer größere Einfältigkeit mit sich bringt und zwar auf verschiedenen Ebenen: Erstens verfestigt sich die Abhängigkeit vom Kornanbau, da die Einfältigkeit der Subsistenzformen geradezu eine Existenzbedingung von Staatlichkeit ist. Zweitens sind damit Folgen für die Ökologie des Staatsgebiets verbunden. Aus der Biologie etwa ist bekannt, dass ein Zusammenhang zwischen der Größe eines Gebiets und der Artenvielfalt besteht.[85] Werden nun Flächen durch intensive, monokulturelle Bewirtschaftung wie beispielsweise Getreideanbau diesem Gebiet entzogen, ist mit dem Sinken der Artenvielfalt zu rechnen. Die staatliche Nische führt also auch in ökologischer Hinsicht zu Homogenisierung. Ebenso ist soziale Verarmung die Folge, weil sowohl die menschlichen Arbeitsformen wie auch die Sozialformen einfältiger werden. Gleichzeitig sind die staatlich organisierten Gesellschaften auch fragiler. Die Einfalt des durch den Staat geschaffenen, ökologischen Habitats ebenso wie die Einfalt der Subsistenzweise und der Sozialformen machen die staatlichen Gesellschaften insgesamt verletzlicher. Entsprechend häufig – darauf weist Scott im sechsten Kapitel in Die Mühlen der Zivilisation ausführlich hin[86] – sind dann auch in der Geschichte die Zusammenbrüche staatlicher Gesellschaften.[87]

Freilich sind diese Zusammenhänge auf den archaischen Staat gemünzt, wie er sich im Zweistromland des Spätneolithikums formiert hat. Trotzdem scheint damit eine Dynamik beschrieben zu sein, die sich auch für moderne Staaten nicht ganz von der Hand weisen lässt. Scott verdeutlicht das am Beispiel des deutschen Waldes und der Entstehung der Forstwissenschaften im 18. Jahrhundert.[88] Die Entdeckung des Waldes als besteuerbare Ressource führte zu einer geplanten Bewirtschaftung des Waldes. Dabei übersetzten sich die Fiskalinteressen der preußischen Krone zunächst in eine bestimmte Art und Weise, den Wald zu sehen und zu bewerten. An die Stelle echter Bäume – mit ihrer „vast number of possible uses“[89] – tritt der so genannte „Normalbaum“[90], eine Abstraktion, die nur dem Zweck dient, das „volume of lumber or firewood“[91] eines Waldes zu bestimmen, womit den „direct needs of the state“[92] entsprochen wird. Allerdings bleibt es nicht bei der bloßen Abstraktion: Die Gemeine Fichte (Picea abies) wächst schnell und gerade. Neben diesen nützlichen Eigenschaften ist sie für ihre hohe Widerstandsfähigkeit bekannt.[93] Aufgrund dieser Merkmale kommt sie den staatlichen Bedürfnissen nach Übersichtlichkeit und Planbarkeit entgegen. Als „bread-and-butter-tree“[94] der Forstwirtschaft wurde sie vermehrt angepflanzt und ist auch heute noch weit verbreitet. In der Folge der damaligen Pflanzinitiative nahm der Mischwaldbestand dramatisch ab. An seine Stelle trat der „monocropped forest“[95], in dem sich Fichte an Fichte reiht. Zunächst schien diese Strategie gut zu funktionieren: Im Vergleich zum Mischwald waren die Holzerträge deutlich höher. Nachdem aber die Folgegeneration an Bäumen[96] großgezogen worden war, offenbarte sich ein schwerwiegendes Problem: Der einseitige Nährstoffbedarf der Monokulturen schädigte den Waldboden. Er wurde zunehmend unfruchtbar. Das große Waldsterben der 1980er-Jahre[97] kann in einem nicht unerheblichen Maß auf das „experiment in the radical simplification of the forest”[98] zurückgeführt werden. Hinter dieser Entwicklung stehen freilich Staatsinteressen und -tätigkeiten, die aus der staatlichen Sicht auf den Wald die Wirklichkeit des Staatswaldes hervorgebracht haben. Die Vielfalt der Flora und Fauna des Mischwaldes hatte darin keinen Platz mehr. Die Wälder sind dadurch an ihre Existenzgrenzen gebracht worden. Für ihre Rettung waren umfangreiche – wiederum staatlich organisierte – Aufforstungsprogramme und Waldschutzschutzmaßnahmen notwendig.

Diese von Scott nachgezeichnete Entwicklung ist ein aufschlussreiches Beispiel. Es zeigt erstens, dass im Kern auch die modernen Staaten nach derselben Logik operieren wie die archaischen. Die Macht des Staates besteht nicht nur in seinem Gewaltmonopol, sondern auch in der Möglichkeit, die Welt nach seinen Vorstellungen zu formen. Die Kategorien der staatlichen Weltsicht sind selbst wirkmächtig und organisieren die Welt nach den Prinzipien von Standardisierung und Vereinfachung. Damit wird die durch den Staat geschaffene, kulturelle Nische ökologisch – aber auch sozial – immer ärmer. Der Staat zerstört die Vielfalt im Namen der Einfalt. Er ist ein „great project of homogenization“.[99] Aus der Perspektive soziokultureller Evolution handelt es sich um eine hochriskante Strategie, weil sie die Menschheit auf einen alternativlosen Entwicklungspfad zwingt, der sich am Ende als Falle erweisen könnte. Zweitens zeigt dieses Beispiel aber auch, dass die staatliche Organisationsform extrem ressourcenintensiv ist. Um ihre Verwaltungseliten mitzuversorgen, ist sie auf die anhaltende Erzeugung eines Surplus angewiesen. Darüber hinaus muss sie aber auch erhebliche Mengen an Ressourcen mobilisieren, um die Katastrophen zu beheben, die durch staatliches Handeln überhaupt erst erzeugt werden. Dieser hohe Ressourcenbedarf der Staatsform scheint eine nicht unerhebliche Triebfeder für die Ausweitung staatlicher Herrschaft zu sein.[100] Jedenfalls stellt sich vor diesem Hintergrund die drängende Frage, ob in den Debatten um Artensterben und Klimawandel die Rolle des Staates als Mitverantwortlicher bislang nicht zu wenig beleuchtet worden ist.

IV. Zum Schluss: Demokratie vs. Staat

Aus der Perspektive der Menschheitsgeschichte ist Staatlichkeit eine höchst riskante Organisationsform. Ausbeutung, Ressourcenverschwendung sowie die Zerstörung ökologischer und sozialer Vielfalt sind keine gelegentlich auftretenden Unglücke, sondern grundlegende Eigenschaften von Staatlichkeit. Die früheren Menschen haben versucht, sich diesem Leviathan – oder besser: Behemoth – durch Flucht in das staatslose Umland zu entziehen.[101] Der heutigen Zeit attestiert Scott jedoch die „totale[n] Hegemonie der Staatsform“.[102] Exil ist keine Option mehr. Auf die eine oder andere Weise ist nun jeder Mensch in seinem Leben von der Existenz eines Staates betroffen – das gilt selbst noch für die sogenannten „uncontacted tribes“, die letztlich ebenso von den regulatorischen Maßnahmen staatlicher Bürokratien abhängig sind. Will sich die Menschheit der fatalen Eigenlogik des Staates nicht anheimgeben, bleibt also nur, den Staat in seine Grenzen zu weisen. Die Herausforderung, heißt es bei Scott, sei deshalb „to tame it“.[103] Damit tritt der „nachdenkenswerte Gegensatz zwischen Demokratie und Staat”[104] hervor: Der Staat entsteht als Ausbeutungsmechanismus, die Demokratie ist ihm ein fremdes Element. Historisch läuft sie dem Staat hinterher. Sie ist gegen ihn gerichtet, weshalb Abensour von einer „Demokratie gegen den Staat“ spricht[105]. Der Kampf um Demokratie ist demnach der anhaltende Versuch, die Macht des Staates einzudämmen, um Platz für das Andere des Staates zu schaffen, also die Räume für das offen zu halten, was der Staat zerstört und worauf die Menschheit dennoch so dringend angewiesen ist: Vielfalt der Habitate und Arten, Vielfalt der Subsistenzweisen, Vielfalt der menschlichen Lebens- und Sozialformen. Darin liegt die anthropologische Bedeutung der Demokratie. Sie leichtfertig zu verspielen wäre fatal, ist sie doch der Garant für das Fortbestehen jeglicher menschlicher Sozialität.

  1. James C. Scott, Die Mühlen der Zivilisation, Berlin 2019.
  2. James C. Scott, Against the Grain. A Deep History of the Earliest States, New Haven/ London 2017.
  3. James C. Scott, Applaus dem Anarchismus, Wuppertal 2014.
  4. James C. Scott, Two Cheers to Anarchism. Six Easy Pieces on Autonomy, Dignity, and Meaningful Work and Play, Princeton/ Oxford 2012.
  5. Scott, Mühlen der Zivilisation, S. 28.
  6. Vgl. bspw.: Talcott Parson (1975): Gesellschaften. Evolutionäre und komparative Perspektiven, Frankfurt am Main: Suhrkamp; V. Gordon Childe (1975): Soziale Evolution, Frankfurt am Main: Suhrkamp; Elman R. Service (1977): Ursprünge des Staates und der Zivilisation. Der Prozess der kulturellen Evolution, Frankfurt am Main: Suhrkamp.
  7. Scott, Mühlen der Zivilisation, S. 17.
  8. Ebd.
  9. Ebd., S. 26.
  10. Ebd.
  11. Ebd., S. 25 f.
  12. Vgl. ebd., S. 72.
  13. Vgl. ebd., S. 78 f.
  14. Ungefähr von 12.000 v. d. Z. bis 5.000 v. d. Z.
  15. Ebd., S. 72.
  16. Ebd., 74.
  17. Vgl. ebd., S. 65.
  18. Ebd., S. 39.
  19. Ebd., S. 37.
  20. Ebd., S. 129.
  21. Ebd., S. 106.
  22. Ebd., S. 127.
  23. Ebd., S. 107.
  24. Yuval Noah Harari (2015): Eine kurze Geschichte der Menschheit, München: Pantheon, S. 106.
  25. Scott, Mühlen der Zivilisation, S. 111 f.
  26. Vgl. Ebd., S. 117.
  27. Auch hier entsteht ein Widerspruch zum Standardnarrativ, insofern es den bäuerlichen Populationen nicht nur absolut schlecht ging, sondern auch relativ schlechter, nämlich im Vergleich zu den Jäger- und Sammlergesellschaften, die Marshall Sahlins aufgrund ihrer reichhaltigen und guten Ernährung als ursprüngliche Wohlstandsgesellschaften bezeichnet hat. Vgl. dazu: Marshall Sahlins, Stone Age Economics, London / New York 2017.
  28. Scott, Mühlen der Zivilisation, S. 113.
  29. Yuval Noah Harari, Eine kurze Geschichte der Menschheit, München 2015, S. 68.
  30. Scott, Mühlen der Zivilisation, S. 104.
  31. Ebd.
  32. Vgl. Ebd.
  33. Ebd., S. 128.
  34. Ebd., S. 138.
  35. Ebd., S. 132.
  36. Vgl. ebd., S. 140.
  37. Vgl. ebd., S. 141.
  38. Vgl. ebd., S. 143.
  39. Ebd., S. 132.
  40. Ebd., S. 132.
  41. Ebd., S. 141, Hervorhebung im Original.
  42. Ebd., S. 37.
  43. Ebd., S. 134.
  44. Ebd.
  45. Ebd., S. 138.
  46. Vgl. dazu Stefan Breuer, Der archaische Staat. Zur Soziologie charismatischer Herrschaft, Berlin 1990; Stefan Breuer, Der Staat. Entstehung, Typen, Organisationsstadien, Reinbek bei Hamburg 1998, S. 28–105; Stefan Breuer, Der charismatische Staat. Ursprünge und Frühformen staatlicher Herrschaft, Darmstadt 2014.
  47. Émile Durkheim, Die elementaren Formen des religiösen Lebens, Frankfurt am Main 1994, S. 24. Kritisch anzumerken ist, dass Durkheim als „einfache Fälle“ vor allem segmentäre Gesellschaften vor Augen hatte. Damit vermischen sich in seinen Überlegungen ethnologische und historische Perspektiven bzw. räumliche und zeitliche Abstände mit der Folge, dass er zumindest auf den ersten Blick der sozialevolutionären Unterscheidung von „primitiv“ hier und „modern“ dort Vorschub zu leisten scheint. Unter der Hand unterläuft er dieses Schema natürlich auch wieder, indem er unterstellt, dass sowohl „primitive“ wie auch „moderne“ Gesellschaften etwas gemein haben. Da hier mit „einfachen Fällen“ aber archaische Staaten gemeint sind, ist der methodische Hinweis auf Durkheim vielleicht weniger problematisch.
  48. Ebd., S. 23.
  49. Ebd.
  50. Ebd.
  51. Vgl. Klaus Eder (Hg.), Seminar: „Die Entstehung von Klassengesellschaften“, Frankfurt am Main 1973.
  52. Vgl. etwa Michael Hartmann, Die Abgehobenen. Wie die Eliten die Demokratie gefährden, Frankfurt am Main / New York 2018.
  53. Trutz von Trotha, Die Zukunft liegt in Afrika. Vom Verfall des Staates, von der Vorherrschaft konzentrischer Ordnung und vom Aufstieg der Parastaatlichkeit, in: Leviathan 28 (2000), S. 255.
  54. Scott, Mühlen der Zivilisation, S. 28.
  55. Ebd., S. 17.
  56. Pierre Bourdieu, Über den Staat, Berlin 2014.
  57. Ebd.
  58. Pierre Bourdieu, Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns, Frankfurt am Main 1998, S. 97.
  59. Vgl. Scott, Mühlen der Zivilisation, S. 21.
  60. Ebd., S. 28.
  61. Ebd.
  62. Scott, Two Cheers to Anarchism, S. XII.
  63. Scott, Mühlen der Zivilisation, S. 21.
  64. Ferdinand Sutterlüty, Die Waffen der Schwachen. Widerstandskulturen im Werk von James C. Scott, in: WestEnd. Neue Zeitschrift für Sozialforschung 1 (2014), S. 131.
  65. Vgl. James C. Scott, The Moral Economy of the Peasant, New Haven / London 1976; James C. Scott, Weapons of the Weak. Everyday Forms of Peasant Resistance, New Haven / London 1985; James C. Scott, Domination and the Art of Resistance. Hidden Transcripts, New Haven / London1990.
  66. Sutterlüty, Die Waffen der Schwachen, S. 131.
  67. Scott, Two Cheers to Anarchism, S. X.
  68. Scott, Weapons of the Weak.
  69. Jennifer Schuessler, Professor Who Learns From Peasants, in: New York Times, 4. Dezember 2012 [05.06.2019].
  70. Scott, Domination and the Art of Resistance, S. 4.
  71. Scott, Two Cheers to Anarchism, S. XX.
  72. Ebd., S. XXI.
  73. James C. Scott, The Art of Not Being Governend, New Haven / London 2009.
  74. James C. Scott, Seeing Like a State. How Certain Schemas to Improve the Human Condition Have Failed, New Haven / London 1998.
  75. Ebd., S. 6.
  76. Ebd., S. 309–341.
  77. Ebd., S. 353.
  78. Für Scott trifft diese Diagnose freilich auch auf das kapitalistische Regime unserer Tage zu. Vgl. ebd., S. 8.
  79. Scott, Two Cheers to Anarchism, S. XXII-XXIII.
  80. Scott, Mühlen der Zivilisation, S. 64.
  81. Das gilt in ähnlicher Weise auch für die Formen sozialer Organisation: Sollte sich eine als nicht länger praktikabel erweisen, stehen Ausweichmöglichkeiten zur Verfügung.
  82. Hier verstanden im weiteren Sinne als Gattung Homo, nicht im engeren Sinne als Art Homo sapiens. Die Gattung Homo verwendet das Feuer vermutlich schon seit ca. 400.000 Jahren. Die Art Homo sapiens tritt erst gut 200.000 Jahre später auf.
  83. Marshall Sahlins, The Western Illusion of Human Nature. With Reflections on the Long History of Hierarchy, Equality, and the Sublimation of Anarchy in the West, and Comparative Notes on Other Conceptions of the Human Condition, Chicago 2008, S. 104.
  84. Scott, Mühlen der Zivilisation, S. 144.
  85. Robert H. Whittaker, Evolution of Species Diversity in Land Communities, in: Max Hecht / Campbell Steere / Bruce Wallace (Hg.), Evolutionary Biology. Volume 10, London 1977, S. 1–67.
  86. Vgl. Scott, Mühlen der Zivilisation, S. 191–224.
  87. Vgl. dazu Joseph Tainter, The Collapse of Complex Societies, Cambridge 1990.
  88. Vgl. Scott, Seeing Like a State, S. 11–52.
  89. Ebd., S. 12.
  90. Ebd., S. 14.
  91. Ebd., S. 12.
  92. Ebd.
  93. Vgl. Ebd. S. 19.
  94. Ebd.
  95. Ebd.
  96. Scott geht von einem Wachstumskreislauf von 80 Jahren aus.
  97. Vgl. ebd., S. 20.
  98. Ebd., S. 19.
  99. Scott, Two Cheers to Anarchism, S. 54.
  100. Vgl. Scott, Mühlen der Zivilisation, S. 159–190; 225–260.
  101. Vgl. Scott, Mühlen der Zivilisation, S. 225–260; dazu auch: Scott, The Art of Not Being Governed.
  102. Scott, Mühlen der Zivilisation, S. 28.
  103. Scott, Two Cheers to Anarchism, XVI.
  104. Miguel Abensour, Demokratie gegen den Staat, Berlin 2012, S. 204.
  105. Vgl. Ebd.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Stephanie Kappacher.

Kategorien: Anthropologie / Ethnologie

Jochen Schwenk

Dr. Jochen Schwenk ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Arbeitsbereich Stadt- und Raumsoziologie des Instituts für Soziologie der Technischen Universität Darmstadt. Seine aktuellen Forschungen bewegen sich in der Schnittstelle von Soziologie und Ethnologie mit einem besonderen Fokus auf Herrschaft und Herrschaftslosigkeit.

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