Nikolas Kill | Veranstaltungsbericht |

Die neue Bescheidenheit der Kritischen Theorie

Bericht vom Workshop „Change². The Disruption of Social Structures“ am 20. und 21. Februar 2023 an der Humboldt-Universität zu Berlin

Das Ideal sozialer Stabilität scheint schlecht zum unaufhörlichen Wandel in dynamischen Gesellschaften zu passen. Nur wie lassen sich ständige Veränderungen beschreiben und bewerten? Was kann als Fortschritt, was muss als Rückschritt verstanden werden? Und wie ist es um die Subjektivität derer bestellt, die Gesellschaft verändern wollen? Um Fragen wie diese zu diskutieren, hatte das Centre for Social Critique am 20. und 21. Februar zu einem Workshop unter dem Titel „Change2. The disruption of social structures“ an die Berliner Humboldt-Universität geladen. Der englische Begriff change ist vieldeutiger als seine deutsche Übersetzung, er bezeichnet sich wie von selbst vollziehenden Wandel ebenso wie aktiv herbeigeführte Veränderung. Im Titel des Workshops stand er zudem im Quadrat. Denjenigen, die dahinter bloßen Trommelwirbel vermuteten, versicherte die Co-Organisatorin Rahel Jaeggi zu Beginn, es gehe darum, Bedingungen für emanzipativen sozialen Wandel auszuloten – und das in Anbetracht der Tatsache, dass gesellschaftliche Strukturen, die sich dabei als Hürde erweisen, in ihrem Wesen selbst dynamisch sind und sozialer Wandel ohnehin allgegenwärtig ist. Wie steht es um Veränderungen mitten im Wandel?

Der Einladung von Rahel Jaeggi und Robin Celikates waren Philosophinnen und Sozialwissenschaftler (vor allem aus Deutschland und den USA) gefolgt, die sich auf je eigene Weise in der Tradition Kritischer Theorie verorten und sich mit ihr auseinandersetzen: die Philosophinnen Sally Haslanger und Eva von Redecker etwa, der politische Theoretiker Daniel Loick, die Soziologin Sabine Hark und der Ideenhistoriker Frederick Neuhouser. Man kennt und schätzt einander. Das Programm des ganz auf Englisch abgehaltenen Workshops legte einen Ablauf in zwei Schritten nahe: erst sich im Wandel erhaltende Strukturen beschreiben, dann Möglichkeiten disruptiver Veränderung diskutieren.

Organisch, dynamisch, rundum sick

Der erste Teil des Workshops trug den Titel „Structure, System, Organism, and Social Functions– Social theories of dynamic orders and radical change“ – ein Riesenaufgebot an Großkonzepten. Aber gleich in der ersten Sitzung wurde mit einem Sprachbild gearbeitet, mit der Krankheit als Metapher in Gesellschaftsbeschreibungen. Der an der Columbia University lehrende Ideenhistoriker Frederick Neuhouser hat diesem Motiv kürzlich ein Buch gewidmet,[1] dessen Thesen er in Berlin mit der Philosophin Karen Ng (Vanderbilt University) und Arvi Särkelä (Postdoc an der Professur für Philosophie der ETH Zürich) diskutierte. Seit Platon habe es in der Sozialtheorie Tradition, die Gesellschaft als Organismus zu beschreiben und mit medizinischer Terminologie – Gesundheit / Krankheit / Heilung – zu behandeln. Diese Tradition werde von Rousseau, Hegel, Marx und Durkheim fortgeführt, argumentiert Neuhouser in Diagnosing Social Pathology, was wiederum die Frage aufwerfe, was die beständige Neigung, Gesellschaft als erkrankt zu denken, über die Gesellschaft selbst verrate. Der Vergleich mit einem Lebewesen sei sicherlich auch darin begründet, dass Gesellschaften mit biologischen Organismen eine wesentliche Eigenschaft teilen: funktionale Differenzierung ist für sie Voraussetzung der eigenen Reproduktion.

Neuhouser blieb jedoch nicht bei dieser Parallele stehen. Mit Hegel betonte er, dass Gesellschaften über ein geistiges Leben (spiritual life) verfügen und sich somit grundsätzlich von Organismen unterscheiden. Insofern sei soziale Reproduktion nie lediglich Reproduktion, sondern beinhalte immer schon ein Moment der Reflexivität (reflexivity). Dementsprechend plädierte er für ein dialektisches Verständnis sozialen Wandels. Durkheims Sozialtheorie, so Frederick Neuhouser, sei insofern unzulänglich, als sie den Antrieb sozialen Wandels ausschließlich aufseiten der materiellen Bedingungen einer Gesellschaft verorte – allen voran: Bevölkerungswachstum und steigende soziale Dichte –, während menschlichem Bewusstsein keine ausschlaggebende Rolle zukomme. Demgegenüber erinnerte Neuhouser an Hegels Motiv von Herrschaft und Knechtschaft, das die Wechselwirkung zwischen materiellem und moralischem Wandel berücksichtige und es erlaube, sozialen Wandel gegebenenfalls auch als Form des Fortschritts zu beschreiben.

An dieser Stelle wandte Karen Ng ein, dass Neuhouser ein universelles Konzept menschlicher Entwicklung fehle. Ein solches aber sei erforderlich, um darzulegen, was genau Fortschritt meint. Damit kam früh schon die Frage nach den normativen Grundlagen Kritischer Theorie zur Sprache. Von welchem Standpunkt aus erscheint eine Gesellschaftsform fortschrittlicher oder fortgeschrittener als eine andere und an welchen Maßstäben lässt sich erkennen, ob man mit Blick auf die Geschichte einer Gesellschaft von Fortschritt reden könne?[2]

Auch Arvi Särkelä ließ den Fortschrittsbegriff kaum plausibler erscheinen. „Ich glaube, heute leben wir in katastrophalen Zeiten“, betonte er. Während der Begriff der Krise aus der Medizin stamme und insofern, wie in einem Krankheitsverlauf, als Moment der Entscheidung verstanden werden könne, zeichne sich die (Klima-)Katastrophe durch ihren unumkehrbaren Charakter aus. Daniel Loick, Associate Professor of Political and Social Philosophy an der University of Amsterdam, fragte, ob die Metapher des Organismus mit einem antagonistischen Gesellschaftsbild zu vereinbaren sei. Ansonsten verschleiere sie die Frage, für wen es sich bei der Klimakatastrophe tatsächlich um eine solche handele und wer von ihr womöglich sogar profitiere.

Struktur – mit oder ohne Ideologie?

Verglichen mit der Rede vom Organismus scheint der Begriff der Struktur mehr Spielraum zu bieten, um das Verhältnis zwischen erhaltendem Wandel und disruptiver Veränderung zu begreifen und dabei auch die Subjekte zu berücksichtigen, die letztere vorantreiben. Im Panel „Structure, Event, Practice – Elements of a theory of social change“ rückte folglich die Frage in den Vordergrund, wie sich transformative Praxis von einer Reproduktionsdynamik unterscheide. Darüber diskutierten vier Philosoph:innen: Sally Haslanger vom MIT, die in diesem Jahr auch die Walter-Benjamin-Lectures halten wird, Theodore Schatzki, der am Kentucky College of Arts & Sciences Geografie, Philosophie und Soziologie lehrt, Michele Moody-Adams, Professorin für politische Theorie und Rechtsphilosophie an der Columbia University und Rahel Jaeggi. Dissens gab es vor allem in Bezug auf den Ideologiebegriff.

Robin Celikates hat 2017 in einem Aufsatz an den berühmten Essay Louis Althussers „Ideologie und ideologische Staatsapparate“ erinnert. Darin schrieb der marxistische Philosoph über „ein[en] Genosse[n], der Dreher bei Citroën ist“: „Demnach wird dieser Proletarier, der dann, wenn er mit seinen Arbeitskollegen bei der Gewerkschaft zusammen ist, ›bewusst‹ und ›organisiert‹ ist, ganz zufällig, sobald er heimgekehrt ist, von einem anderen, kleinbürgerlichen, ideologischen System erfasst?“[3] Der Verweis auf Ideologie diene bei Althusser zur Erklärung, warum „Menschen soziale und politische Verhältnisse, die – mehr oder weniger offensichtlich – ihren eigenen »objektiven« Interessen entgegenstehen“ akzeptieren;[4] dass ein Arbeiter mit kritischem Bewusstsein nicht zu einem revolutionären Akteur werde, sondern sich lieber seinem Familienleben oder einem Fußballspiel widme.

Ideologie bezeichnet in der Tradition der Kritischen Theorie ein Überzeugungssystem, das den Blick auf soziale Herrschaftssysteme verstellt, sie als solche verschleiert beziehungsweise als naturgegeben oder alternativlos erscheinen lässt und so zur Legitimierung und Erhaltung der Herrschaftsverhältnisse beiträgt. Aber der klassische Ideologiebegriff kann nicht nur auf theoretischer, beziehungsweise epistemischer Ebene in Schieflagen führen.[5] Subjekten „falsches Bewusstsein“ im Hinblick auf ihre „objektive“ Lage zu attestieren, hat zudem oft den Effekt, dass man kaum mehr mit, sondern nur über die betroffenen Akteure spreche und somit einen paternalistischen Beigeschmack, der nicht recht zu einer Theorie mit dem praktischen Ziel der Emanzipation passen will. Dennoch erfuhr der Ideologiebegriff jüngst eine „überraschende Renaissance“.[6]

Wesentlichen Anteil daran hatte Sally Haslanger.[7] In Berlin definierte sie in ihrem Vortrag zunächst soziale Strukturen als Netzwerke, die aus vornehmlich sozialen und rechtlichen Beziehungen bestehen. Diese wiederum würden sich erst in und durch soziale Praktiken materialisieren. Aus diesem Bild ergebe sich ihr eigener Theorieansatz: „Praxis zuerst (practice first)“. Haslanger unterschied drei Dimensionen sozialer Praktiken: Es gibt zwar ein Moment individueller agency, jedoch nur unter bestimmten materiellen Voraussetzungen und vorhandenen kulturellen Deutungsschemen, die wiederum ideologisch geprägt sind. Ideologie ist demzufolge nicht undurchdringlich, Individuen können selbstbewusst handeln. Andererseits verwies Haslanger im Anschluss an Louis Althusser auf die materielle Wirklichkeit von Ideologie. Der Umstand etwa, dass viele Menschen die Welt nach einem binären Gender-Schema begreifen, schlage sich auf die Art und Weise nieder, wie sozialer Raum gestaltet wird, wodurch wiederum die entsprechenden Wahrnehmungsmuster bestätigt werden. Auf diese Weise entstehen Feedback-Schleifen, in denen ideologische Schemata und materielle Wirklichkeit sich wechselseitig stützen.[8] Theorie müsste folglich an konkreten Praktiken ansetzen und Hebelpunkte (leverage points), an denen Veränderungen möglich werden, ausmachen.

Antoine Louette, derzeit Postdoc-Fellow am Centre for Social Critique, entfaltete ebenfalls eine weniger orthodoxe Auffassung von Ideologie. Zwar spiele sie eine Schlüsselrolle in der Reproduktion der Gesellschaftsordnung, insbesondere durch „dominante Milieus“, diese könnten sie aber unter Umständen als solche erkennen und überwinden. In diesem Zusammenhang räumte Louette der „emanzipativen Sozialisation“, die sich im Laufe von Grundstücksbesetzungen – wie etwa im Hambacher Forst – entwickeln könne, ein wichtiges Irritationspotenzial ein: Wenn Mitglieder „dominanter Milieus“ mit ihnen konfrontiert werden, könne die Erfahrung von Widersprüchen im eigenen Weltbild einen Selbstreflexionsprozess auslösen und schließlich in der Entwicklung eines kritischen Bewusstseins münden. Um irritierende Begegnungen zu ermöglichen, dürften sich Formen „emanzipativer Sozialisierung“ allerdings nicht nur in peripheren Zonen abspielen (Stichwort: Hambach), sondern müssten auch an Orten stattfinden, an denen sich „dominante Milieus“ aufhalten, besser noch: „bei ihnen zu Hause“. Mit dieser Formulierung griff Antoine Louette eine Phrase der französischen Gelbwesten auf. Es stellt sich allerdings die Frage, unter welchen Umständen die hier umrissene ideologische Irritation zustande kommen könnte? Und wie wahrscheinlich ist es, dass „dominante Milieus“ im Laufe einer Begegnung mit alternativen Gesellschaftsentwürfen diese als ethisch überlegen anerkennen, wie Louette spekulierte, oder sie einfach als „cool“ empfinden?

Michele Moody-Adams betonte im Hinblick auf transformative Praxis ebenfalls die zentrale Bedeutung sozialer Bewegungen. Gleichzeitig wies sie aber den Ideologiebegriff zurück, da er letztlich human agency negiere. Nicht ideologische, sondern narrative Dominanz sei entscheidend. Wie sich letztere von ersterer grundsätzlich unterscheide, ließ Michele Moody-Adams offen. Und so wurde ihre Position auch durch die wiederholte Betonung, sie sei hinsichtlich des Ideologiebegriffs die isolierte Außenseiterin in der Panel-Runde, nicht plausibler. Robin Celikates versuchte als Moderator, die Diskussion vom strittigen I-Wort wegzulenken. Er sprach von der Notwendigkeit, die Dichotomie zwischen einer voluntaristischen Position, der zufolge Subjekte die soziale Welt aus freien Stücken erschaffen, und deterministischen Gesellschaftsbildern, die Subjekte lediglich als Opfer von Strukturen begreifen, zu überwinden.

Ganz auf den Ideologiebegriff verzichtete Rahel Jaeggi. Zunächst ging sie auf die Frage ein, was Sozialtheorie leisten müsse, nämlich vornehmlich Lücken im Reproduktionsprozess sozialer Ordnung zu theorisieren, unbeabsichtigte Wandlungsverläufe erklären und eine Theorie transformativer Strategien vorlegen. Dabei gelte es, verschiedene Krisen und Kämpfe zusammenzudenken sowie Möglichkeiten und Voraussetzungen von Veränderung zu identifizieren. Als notwendige Unterscheidungen zwischen verschiedenen Auffassungen von Veränderung, beziehungsweise Wandel schlug sie eine Differenzierung entlang zweier Achsen vor: zwischen „beabsichtigtem und unbeabsichtigtem“ sowie zwischen „normalem und radikalem“ Wandel. Letzteren verknüpfte sie mit dem Vorgang eines Paradigmenwechsels, der sich daran abzeichne, dass sich im bestehenden Paradigma – im Kuhn’schen Sinn eines orientierenden Bezugssystems, innerhalb dessen Probleme überhaupt verständlich werden[9] – kaum zu erklärende Anomalien häufen. Dazu zählen etwa die pure Persistenz von Ungleichheiten und die Beständigkeit von Rassismus, um nur zwei Problemlagen zu nennen, die der Liberalismus zu beheben antrat und hinsichtlich derer ihm nun vermehrt seine Problemlösungskapazität abgesprochen werde.[10] Der wichtigste Katalysator für Veränderungen waren auch für Jaeggi soziale Bewegungen, die gesellschaftliche Krisen als Konflikte artikulieren.

Heroische Einzelkämpfer oder vielstimmiger Chor?

Nach der Frage, wie Strukturen sich im Wandel erhalten, richtete sich der Fokus im Workshop auf Subjekte sozialer Veränderung. Der Philosoph und Aktivist Thomas Seibert hielt einen Vortrag mit dem Titel „Changing the world at large: 8 theses in favour of you must go on. Seibert war für die Menschenrechtsorganisation Medico International in Pakistan tätig und erlebte dort im Herbst 2022 die Folgen einer Flutkatastrophe, die rund 1700 Tote und etwa 13000 Verletzte forderte. 8 Millionen Menschen mussten fliehen.[11]

Seibert kündigte vorab an, dass er zwischen „exoterischem“ und „esoterischem“ Denken wechseln werde. Vier seiner Thesen betrafen die globalpolitische Lage im Anschluss an die vier Monate andauernde Überflutung in Pakistan; die vier folgenden bewegten sich dann auf „esoterischer“ Ebene. Unterfüttert mit Tautologien („fidelity to fidelity“) plädierte Seibert angesichts der Abwesenheit großer kollektiver Subjekte für politischen Aktivismus als existenziellen Selbstzweck.

Auf irritierte Nachfragen zum Sprung von empirischen Beobachtungen hin zu abstrakt-existenziellen Überlegungen griff Seibert zu einer historischen Analogie. In den 1950er-Jahren hätten sich marxistische Strömungen wie der Operaismus in Italien oder der vornehmlich in Frankreich begründete Situationismus hypothetisch-intuitiv vorangetastet und empirische Analysen mit Philosophie und Kunst verbunden, ohne das Ereignis absehen zu können, auf das sie hinarbeiteten, namentlich: den Mai 68. In Abwesenheit eines konkreten politischen Horizonts biete sich eine solche Praxis auch heute an. Robin Celikates kritisierte die „unvollständige“ Alternative zwischen dem großen kollektiven Subjekt und der Subjektivität des individuellen Kämpfers (militant), Rahel Jaeggi den Kontrast zwischen der skizzierten Figur des heroisch-individualistischen Kämpfers und demokratischen kollektiven Subjekten.

„Ich starte an einem ähnlichen Punkt wie Thomas“, begann die Soziologin Sabine Hark, Professorin für interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterforschung an der TU Berlin, ihren Vortrag und schob hinterher: „allerdings komme ich nicht ganz am selben Punkt an“. Um „Projekte sozialen Wandels“ und die Frage, „wie Subjekte sozialen Wandels hervortreten“ ging es in dieser Paneldiskussion. Sabine Hark erläuterte dies unter dem Vortragstitel „The present is not enough“ am Beispiel des „Queer moment“, das neben des Stonewall-Aufstands 1969 im Greenwich Village (New York) auch die AIDS-Krise umspanne, und im Laufe dessen queere Subjekte in die politische Öffentlichkeit hervorgetreten seien. Als Bedingungen des Auftritts solcher Subjekte nannte Hark die Intuition, dass Institutionen weder naturgegeben noch unveränderbar seien, sowie den geteilten Eindruck, dass die Welt in ihrer gegenwärtigen Form nicht akzeptiert werden müsse. Entscheidendes Moment sei die Erfahrung der Ausgrenzung, der Unterdrückung. Mit dem Amerikanisten und Sozialtheoretiker Michael Warner erinnerte Sabine Hark, dass der Begriff „queer“ damals „kein Kabelfernsehen-Synonym für schwul gewesen sei, sondern eine Hochspannungsladung der Beleidigung und Stigmatisierung (high-voltage charge of insult and stigma) getragen habe,“[12] die durchaus wortwörtlich verstanden werden dürfe.

Im Angesicht der Unterdrückung sei Imagination der Motor sozialen Wandels. Sabine Hark betonte, Imagination sei nicht das Gegenteil der Realität, sondern dasjenige, was von der Realität ausgeschlossen ist und seine Grenzen ausmacht. Mit der afroamerikanischen Schriftstellerin Saidiya Hartman und in Kontrast zu Seiberts Figur des heroischen Einzelkämpfers schloss sie, der Chor (chorus) sei das Subjekt sozialen Wandels:

„The chorus is the vehicle for another kind of story, not of the great man or the tragic hero, but one in which all modalities play a part, where the headless group incites change, where mutual aid provides the resource for collective action, not leader and mass, where the untranslated songs and seeming nonsense make good the promise of revolution. The chorus propels transformation. It is an incubator of possibility, an assembly sustaining dreams of the otherwise.“[13]

Theorie in Bewegung

Was kann Kritische Theorie von sozialen Bewegungen lernen? Und welche Theoriebilder ergeben sich, wenn diese ins Blickfeld oder sogar in den Mittelpunkt rücken? Daniel Loick griff in seinem Vortrag die Position auf, dass radikaler sozialer Wandel neben aktiven Voraussetzungen auch objektive Bedingungen, mit Marx gesprochen, ein „passives Moment“ habe. Die Aufgabe politischer Theorie sei es zu erklären, wie aus sozialen Figuren politische Akteure werden. Im Gegensatz zur Philosophin Nancy Fraser schlug er vor, nicht in der Arbeit, sondern im Kampf selbst die formative Grundlage radikalen Wandels zu erkennen.[14] Flucht und Migration, Abtreibung und reproduktive Gerechtigkeit, Naturkatastrophen und das Leben unter vergifteten Umweltbedingungen, Frauen, die sich gegen den Zwang zum Tragen eines Kopftuchs auflehnen – all das seien Motive in Kämpfen, die bereits stattfinden, sich aber nicht unter dem Begriff der Arbeit fassen lassen. Loick unterstrich, Kampf müsse nach der Geografin Ruth Wilson Gilmore als politisch neutraler Begriff verstanden werden,[15] als zentrales Moment gesellschaftlicher Realität und insofern als bereits gegebene objektive Bedingung radikalen Wandels. In diesem Sinn sei es die Aufgabe von kritischer Theorie, die Gemeinsamkeit (sharedness) verschiedener Kämpfe herauszuarbeiten, wobei der Kampfbegriff nicht in Marx’scher Tradition ökonomistisch, sondern konflikttheoretisch verstanden werden müsse.

In der letzten Sitzung des Workshops standen soziale Bewegung noch einmal explizit im Mittelpunkt. Über „Social Movements as Agents of Change“ diskutierten, moderiert von Rahel Jaeggi, Hanna Meißner (TU Berlin), Eva von Redecker (Humboldt-Universität zu Berlin) und Robin Celikates. Hanna Meißner eröffnete mit einem ambivalenten Befund: „Plus les choses changent, plus les choses restent pareilles.“ Je mehr die Dinge sich ändern, desto mehr bleiben sie gleich. Mit Verweis auf empirische Befunde aus Zeitbudgetstudien, argumentierte Meißner, dass die fortbestehende Ungleichverteilung unbezahlter Arbeit zwischen Männern und Frauen eine hartnäckige Diskrepanz zwischen dem normativem Ideal der Gleichberechtigung und den tatsächlichen Praktiken der häuslichen Arbeitsteilung belege. Gegenwärtig würde diese Diskrepanz, in Einklang mit Befunden zu ‚neoliberaler Subjektivierung‘, jedoch vornehmlich als Ergebnis individueller Vorlieben und Entscheidungen erklärt: „Vergeschlechtlichte Muster werden als Ausdruck individueller Präferenzen und Charaktereigenschaften verstanden.“ Als vielversprechende Entwicklung wertete Meißner hingegen die Artikulierung verschiedener Problemlagen als Konflikt zwischen Kapital und Leben, die vor allem feministische Bewegungen kennzeichnete – etwa die von Argentinien in weitere lateinamerikanische Länder übergreifende Protestbewegung gegen Femizide „Ni Una Menos (nicht eine weniger)“ – oder Klimabewegungen, wie zuletzt im Zuge der Auseinandersetzungen um Kohleabbau in Lützerath.

Eine „Revolution für das Leben“ hatte Eva von Redecker bereits 2020 in ihrem gleichnamigen Buch gefordert.[16] Ihr Vortrag begann mit der Frage, weshalb soziale Bewegungen so wichtig seien? Die Philosophin verwies dabei auf die essenzielle politische Rolle, die soziale Bewegungen in einem dynamischen sozialen Gefüge ausfüllen: „Ohne [sie] könnten alle anderen Instanzen sozialen Wandels – Gesetzgeber, heroische Figuren, wissenschaftliche Innovationen – ebenso gut in die falsche Richtung kippen.“ Schematisch deutete von Redecker einen Übergang von den vielfältigen Krisen zu politischem Handeln auf der Höhe der Zeit an: Die gegenwärtige Katastrophe – im Zeichen eines abzuwendenden Kollapses – müsse über politischen Konflikt als Krise artikuliert werden – im Kuhn’schen Sinn einer Disruption des gegenwärtigen Paradigmas; über weitere politische Konflikte müsse sich diese theoretische Krise anschließend zu einer Krise im dialektischen Sinn eines systemimmanenten Widerspruchs entfalten, die wiederum die Bedingungen für den letzten Schritt schafft: einer Lösung der Krise, die im Kampf herbeigeführt werden müsse. Unter dem Schlagwort der Verfügungsgewalt ließen sich Kämpfe gegen Umweltzerstörung, patriarchale und rassistische Gewalt und gegen materielle Ausbeutung zusammendenken als Kämpfe für die Regeneration von Leben, die einen revolutionären Horizont in sich tragen.

So wenig wie Demokratie allein mit ihren Institutionen, Wahlen und Parlamenten, gleichgesetzt werden könne, ebenso wenig gehe emanzipatorischer, radikaler Wandel von Institutionen aus. Mit dieser These begann Robin Celikates seinen Vortrag zur Selbstreflexion Kritischer Theorie angesichts sozialer Bewegungen. Jüngere ökologische Bewegungen hätten gezeigt, dass es obsolet sei, politische Praxis entweder innerhalb oder völlig außerhalb politischer Institutionen zu verorten. Das sei deren Stärke. Er bemängelte zudem, dass Kritische Theorie sich gegenüber strukturellem Rassismus relativ stumm verhalte. Dabei herrsche vor allem in Deutschland Nachholbedarf, werde Rassismus hierzulande doch nach wie vor als individuelles Phänomen pathologisiert oder als Erscheinung am Rand der Gesellschaft exotisiert. Dies habe die Auseinandersetzung mit dem rassistischen Anschlag vom 19. Februar 2020 in Hanau allen vor Augen geführt. Darüber hinaus habe sich gezeigt, wie zivilgesellschaftliche Akteure und Bewegungen, in Hanau vor allem ausgehend von Freunden und Familien der Opfer, dazu beitragen, strukturelle Problemlagen in der Öffentlichkeit politisch zu thematisieren. Für Kritische Theorie solle kein Weg an der Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit der Beständigkeit rassistischer Strukturen vorbeiführen.

Kritische Theorie zwischen Wandel und Veränderung

Niemand in Berlin bestritt die Notwendigkeit disruptiver, politisch herbeizuführender Veränderungen. Max Horkheimer hatte in seinem programmatischem Aufsatz Traditionelle und kritische Theorie die innere Konsistenz kritischer Theorie mit dem Umstand begründet, „dass bei allem Wandel der Gesellschaft doch ihre ökonomisch grundlegende Struktur, das Klassenverhältnis […] und damit auch die Idee seiner Aufhebung identisch bleibt.“[17] Auf einen entsprechenden Bezugspunkt wartete man auf dem Workshop vergeblich. Zahlreich aber waren Attribute, die den beschriebenen und beschworenen Transformationen zugeschrieben wurden – „radikal“, „disruptiv“, „emanzipativ“, „sinnvoll und erheblich“ – und das verhandelte Objekt so bisweilen verwässerten.

Der Dissens, der sich um den Ideologiebegriff herum kristallisierte, zeigte, dass dieser nach wie vor eine ebenso kritische wie strittige Ressource bietet, sozialen Wandel in seiner Strukturen erhaltenden und befestigenden Dimension zu beschreiben und zu erklären, warum alles sich ändern muss, damit alles bleiben kann, wie es ist. Auch neuere Anstöße bekamen jedoch eine Bühne: die von Rahel Jaeggi und Eva von Redecker bemühte Deutung der gegenwärtigen Krisen als Vorzeichen eines Paradigmenwechsels etwa; oder der Begriff des Kampfes ums Leben (struggling for life), der Schnittpunkte verschiedener politischer Krisen und Kämpfe der Gegenwart in den Fokus rückt. Vor allem aber fiel die relative Bescheidenheit gegenwärtiger Kritischer Theorie auf, die ihre eigene Nebenrolle betont und auf soziale Bewegungen als Triebkraft gesellschaftlicher Veränderung blickt, um Hebelpunkte auszumachen, an denen disruptiver Wandel möglich erscheint. Mit Blick auf den Anspruch der frühen Kritischen Theorie, den Schleier um die Gesellschaft zu lüften, was mit teilweise allergischen Reaktionen gegenüber politischer Praxis einherging, ist das eine gute Nachricht.

  1. Frederick Neuhouser, Diagnosing Social Pathology. Rousseau, Hegel, Marx, and Durkheim, Cambridge 2022.
  2. Und das, so will es die Tradition Kritischer Theorie, ohne allgemeingültige anthropologische Postulate, und – im Sinne einer immanenten Kritik – ohne einer Gesellschaft äußerliche Ideale an sie heranzutragen; vgl. dazu ausführlich Amy Allen, The End of Progress. Decolonizing the Normative Foundations of Critical Theory. New York, NY 2017. Eine Zusammenfassung der Diskussion zwischen Amy Allen, Rahel Jaeggi und Eva von Redecker zu dem Thema findet sich online unter: http://criticaltheoryinberlin.de/wp-content/uploads/2017/03/Interview_Allen_Jaeggi.pdf. Zur Auffassung immanenter Kritik: Rahel Jaeggi, Was ist Ideologiekritik?, in: dies. / Tilo Wesche, Was ist Kritik? Frankfurt am Main 2009, S. 266–295, hier S. 286ff.
  3. Louis Althusser, Der Überbau: Über die Reproduktion der Produktionsverhältnisse, in: ders.: Über die Reproduktion. Ideologie und ideologische Staatsapparate. 2. Halbband. Hrsg. und übers. von Frieder Otto Wolf, Hamburg 2012 zit. nach Robin Celikates, Epistemische Ungerechtigkeit, Loopingeffekte und Ideologiekritik. Eine sozialphilosophische Perspektive, WestEnd 2/2017, S. 53–72, hier S. 54
  4. Robin Celikates, Epistemische Ungerechtigkeit, Loopingefekte und Ideologiekritik. Eine sozialphilosophische Perspektive, WestEnd 2/2017, S. 53–72, hier S. 54
  5. Zu den Paradoxien der Ideologiekritik und wie diese überwunden werden könnten vgl. Rahel Jaeggi, Was ist Ideologiekritik?, in: dies. / Tilo Wesche, Was ist Kritik? Frankfurt am Main 2009, S. 266–295, hier S. 271–284
  6. Celikates 2017, S. 56
  7. Sally Haslanger, Der Wirklichkeit widerstehen. Soziale Konstruktion und Sozialkritik, Berlin 2021
  8. Für eine Kritik an Haslangers Ideologiebegriff siehe: Celikates 2017, S. 60–62
  9. Vgl. dazu ausführlich: Thomas S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Frankfurt am Main 1967.
  10. Die sich verschärfenden Krisen des Liberalismus als Vorzeichen eines drohenden, beziehungsweise bereits eingeläuteten Paradigmenwechsels behandelte Rahel Jaeggi jüngst in der Vorlesung „Solidarität mit dem Liberalismus im Augenblick seines Sturzes“, online unter: www.scripts-berlin.eu/de/news-events-media/events/2022_Lecture-Series_OH_12.html
  11. www.bpb.de/kurz-knapp/hintergrund-aktuell/514557/flutkatastrophe-in-pakistan/
  12. Michael Warner, „Queer and Then?“, in: The Chronicle of Higher Education [01.01.2012]; online unter: www.chronicle.com/article/queer-and-then/
  13. Saidiya Hartman, Wayward Lives, Beautiful Experiments, New York 2019.
  14. Vgl. dazu ausführlich: Nancy Fraser / Rahel Jaeggi, Kapitalismus. Ein Gespräch über kritische Theorie. Berlin 2020; über die 2022 von Fraser gehaltenen Benjamin-Lectures: www.soziopolis.de/eine-physiognomik-kapitalistischer-arbeit.html
  15. Vgl. dazu etwa: Ruth Wilson Gilmore, Golden Gulag. Prisons, Surplus, Crisis, and Opposition in Globalizing California. Berkeley 2007.
  16. Eva von Redecker, Revolution für das Leben. Philosophie der neuen Protestformen. Frankfurt am Main 2020
  17. Max Horkheimer, Traditionelle und kritische Theorie, in: Gesammelte Schriften Bd. 4, Frankfurt am Main 1988, S. 162–216, hier S. 208

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Jens Bisky.

Kategorien: Gesellschaftstheorie Kritische Theorie Philosophie Politische Theorie und Ideengeschichte Sozialer Wandel Zivilgesellschaft / Soziale Bewegungen

Nikolas Kill

Nikolas Kill ist Soziologe. Er arbeitete bis Ende Dezember 2023 als Volontär in der Redaktion der Zeitschrift Mittelweg 36 und des Internetportals Soziopolis am Hamburger Institut für Sozialforschung.

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