Martin Saar | Rezension |

Die Philosophie und ihr Anderes

Rezension zu „Der Diskurs der Philosophie“ von Michel Foucault

Michel Foucault:
Der Diskurs der Philosophie
hrsg. von Orazio Irrera und Daniele Lorenzini unter der Leitung von François Ewald, übersetzt von Andrea Hemminger
Deutschland
Berlin 2024: Suhrkamp
348 S., 34,00 EUR
ISBN 978-3-518-58811-6

Der veröffentlichte Werkkorpus des französischen Philosophen Michel Foucault wächst auch nach dessen Tod beständig weiter. Als Foucault im Juni 1984 im Alter von nur 57 Jahren starb, war sein publiziertes Werk schon immens umfangreich. Die testamentarische Anweisung, „keine posthumen Veröffentlichungen“ vorzunehmen, hat Nachlassverwalter und Familie nur einige Jahrzehnte lang gebunden; inzwischen gehören die meisten Manuskripte, Notizen und Vorlesungsmitschriften aus der Feder Foucaults den staatlichen französischen Archiven. Vieles davon ist in den letzten Jahren in sorgfältig editierter Form ans Licht gekommen; etliches war der Forschung schon bekannt, anderes hat die Rezeption auf spektakuläre Weise bereichert, Lücken geschlossen und neue Akzente gesetzt.

Mit Der Diskurs der Philosophie ist nun ein weiteres außergewöhnliches Manuskript an die Öffentlichkeit gelangt. Foucault hat an dem nach seiner Fertigstellung nicht weiter verfolgten Text, der wahrscheinlich seine beginnende Lehrtätigkeit an der Universität in Tunis vorbereiten sollte, im Sommer und Herbst 1966 gearbeitet. Das Manuskript stammt also aus der ereignisreichen Zeit kurz nach dem Erscheinen der Ordnung der Dinge, jenem Buch, das Foucaults Ruf als einem der originellsten Denker seiner Generation begründete und dem auch beim breiteren Publikum ein erstaunlicher Erfolg beschieden war.[1] Mit ihrer kontroversen These vom „Ende des Menschen“ hatte die Schrift Polemiken und scharfe Auseinandersetzungen ausgelöst, die rückblickend unter anderem als frühe Vorboten der Anfang der 1980er-Jahre einsetzenden intellektuellen Debatte um die Postmoderne verstanden werden können. Der jetzt erschienene Nachlasstext, stilistisch etwas spröder und schmuckloser als Foucaults veröffentlichte Schriften aus dieser Zeit, bearbeitet ein in der Ordnung der Dinge berührtes, aber ausgespartes Problem: So wendet er die methodisch eigenwillige Form der Wissensgeschichte, die er dort skizziert und an einigen empirischen Wissenschaften illustriert hatte, auf die westliche neuzeitliche und moderne Philosophie als Disziplin und Tradition an.

Foucaults Hauptthese zufolge ist die Philosophie, wie wir sie kennen, nichts anderes als eine diskursive Figuration, die ab der Mitte des 17. Jahrhunderts in einer allgemeinen Umbruchzeit der Wissens- und Schreibformen entstand – erstmals mustergültig entwickelt im Werk von René Descartes – und die sich seither als eigenständige Reflexionsweise mit bestimmten Regeln und systematischen Optionen weiter ausgebildet hat. Die Philosophiegeschichte von der Neuzeit bis in die Gegenwart erscheint in dieser Perspektive als eine endlose Kombination systematisch oder formal darstellbarer Möglichkeiten, den Weg zum sicheren Wissen zu begründen und abzuleiten.

In den ersten fünf Kapiteln erläutert Foucault hinführend und historisch noch nicht besonders konkret sein Verständnis von Philosophie als einer besonderen Form des Sprechens, das sich von anderen Sprechformen und Diskursen unterscheiden lässt. Philosophie wird demnach „seit einiger Zeit – seit Nietzsche?, noch früher?“ (S. 13) die Aufgabe der Diagnose, des Sichverhaltens zur Gegenwart zugesprochen, und dieses Motiv kann als erste Orientierung dienen. Eine solche Sichtweise hat ihre Wurzeln in einem antiken Verständnis von philosophischer Praxis als Beitrag zur Heilung und Therapie von Übeln der Gesellschaft und Krankheiten der Seele und zum Lesen göttlicher Zeichen, aber diese Rolle hat sich verflüchtigt; der Philosoph ist heute für Foucault ein „Arzt ohne Heilmittel“ (S. 17), aber immer noch verpflichtet zum geistesgegenwärtigen Beobachten der Wirklichkeit: „Der Philosoph muss ganz einfach sagen, was ist“ (ebd.), seine Praxis ist zeitbezogen und in einem Heute verankert.

Dieses allgemeine Motiv konkretisiert sich Foucault zufolge in der spezifisch philosophischen Geste, deren Charakterisierung auf Descartes und das Modell des cogito anspielt: Hierfür ist die Rede von der Diagnose nicht mehr relevant, entscheidend ist nun die philosophische Vergewisserung des Standpunkts und der Möglichkeiten, in einem ganz bestimmten Moment unter ganz bestimmten Bedingungen etwas zu wissen oder aussagen zu können. Philosophieren bedeutet nach diesem Verständnis, sich aktiv und bewusst in einem „Ich-Hier-Jetzt“ (S. 25) zu lokalisieren und von dort aus zu denken. Ganz schematisch lässt sich der philosophische deshalb vom wissenschaftlichen Diskurs dadurch abgrenzen, dass er die Sprecher- und Subjektbezogenheit des Aussagens nicht verbirgt oder zu überwinden sucht, indem er etwa die Gesetze der Natur selbst zur Sprache kommen lässt, sondern eine reflexive Form des Sprechens von einem bestimmten Punkt aus bleibt. Auch der literarische Diskurs kann sich durch Fiktionalisierung von der Bindung an diese besondere Sprechposition lösen und damit eine andere Art zu sprechen etablieren. Was die Philosophie also besonders macht, ist das Verhältnis zu den eigenen Bedingungen, die „Beziehung zu einem nichtphilosophischen Aktuellen“ (S. 69), die spannungsreich bleibt, weil es die Philosophie zwingt, sich gegenüber einem Anderen oder einem Außen zu behaupten, auf das es sich beziehen und das es zugleich in die philosophische Reflexion hineinholen muss.

Im Hauptteil des Textes entwirft Foucault ein detailliertes historisches Narrativ bezüglich der Entwicklung der neuzeitlich-modernen Philosophiegeschichte, in deren Verlauf sich, so seine These, dieser singuläre philosophische Diskurs herausbildet:

„Die Philosophie [seit Descartes] ist weder ein Gegenstandsbereich noch eine bestimmte Sprache. Sie ist eine ‚Sprechweise‘, worunter aber keine stilistische Wahl zu verstehen ist, keine bestimmte Abweichung von den Regeln der Syntax, keine mehr oder weniger diskrete Umwälzung der semantischen Felder, kein Spiel innerhalb der Sprache, sondern eine Art und Weise, den Diskurs und das sprechende Subjekt miteinander in Beziehung zu setzen.“ (S. 81)

Diese Verknüpfung stellen die klassischen philosophischen Systeme auf unterschiedliche Arten und Weisen her, die sich formal bestimmen und anordnen lassen. Sie sind alle in einem gewissen Sinne Subjektphilosophie, das ist gewissermaßen ihr allgemeines Format oder Schema. Foucault charakterisiert die einzelnen Positionen teils implizit, teils explizit, markiert mit Immanuel Kant und mit Edmund Husserl sowohl den Gipfel- als auch den heroischen Endpunkt dieser Entwicklung und suggeriert mehr als dass er es einlöst oder ausführt, dass sich im Prinzip alle theoretischen Optionen als notwendige Operationen rekonstruieren lassen, „die dem Diskurs, den man Philosophie nennt, inhärent sind“ (S. 107).

Das Verfahren wirft damit nicht nur die Frage nach der möglichen Abgeschlossenheit des philosophischen Diskurses auf, sondern impliziert auch den fast schon hegelianisch klingenden Anspruch, im Blick auf die vergangenen Formen des Denkens von notwendigen Entfaltungen wie auch von einem notwendigen Ans-Ende-Kommen der Philosophie sprechen zu können. Foucault zufolge ist genau das die Frage seiner Gegenwart und seines eigenen Sprechens über die Philosophie im Jahr 1966. Muss sich seine Reflexion darauf beschränken, die „Architektur der Möglichkeiten zu analysieren“ oder „markiert sie den Beginn einer radikal neuen Episode?“ (S. 172) Mit dieser Fragestellung greift Foucault die Problematik aus der Ordnung der Dinge wieder auf, ob man am Ende einer Epoche oder eines Zeitalters wie der Moderne nur die Krise einer alten Wissensordnung feststellen oder schon die Vorzeichen einer neuen diagnostizieren kann.

Mit dem Namen Nietzsches verbindet Foucault den großen Bruch im klassischen philosophischen Diskurs. Nietzsches Metaphysikkritik und seine Zerschlagung der klassischen Denkfiguren ebenso wie sein Experimentieren mit unterschiedlichsten Redeweisen und Autorenmasken zersetzt die vorgebliche Reinheit der Philosophie und öffnet sie gegenüber anderen nicht philosophischen Wissens- und Schreibformen. Zwar gibt es auch nach Nietzsche noch sich als klassisch gerierende Philosophien, doch sind sie in einem gewissen Sinne überholt, anachronistisch, unrein. Als Beispiele für ein solches, halb heroisches, halb tragisches Festhalten an den Regeln des philosophischen Diskurses nach seinem Zerbrechen nennt Foucault die Ansätze von Bertrand Russell, Ludwig Wittgenstein, Martin Heidegger, Jean-Paul Sartre und Karl Jaspers; letztlich ist es keinem von ihnen gelungen, die Eigenständigkeit und Einheit der Philosophie zu sichern. Eine Sonderstellung nimmt dabei die Phänomenologie Husserls ein, der Foucault mit großem Respekt attestiert, „das radikalste Projekt“ (S. 239) der Selbstbehauptung der Philosophie innerhalb des cartesianisch-kantischen Rahmens gewesen zu sein.

Die letzten drei Kapitel unterscheiden sich thematisch und im Ton deutlich vom Rest des Manuskripts; sie wirken wie ein Anhang oder ein Neuanlauf und weisen in vielerlei Hinsicht auch schon auf Foucaults nächstes Buchprojekt voraus, die 1969 erscheinende Archäologie des Wissens.[2] Vom philosophischen Diskurs im engeren Sinne ist hier nun keine Rede mehr, gefragt wird vielmehr, wie die Neuorganisation des Wissens in der Gegenwart beschreibbar und analysierbar ist. Foucault bringt in diesem Zusammenhang die beiden Begriffsvorschläge des „integralen Archivs“ und des „Diskurs-Archivs“ ins Spiel, mit denen die geordnete Gesamtheit aller in einer Kultur oder Gesellschaft faktisch vorhandenen Diskurse bezeichnet werden soll.

Methodisch gesehen lassen sich diese Diskurse in zweierlei Hinsicht analysieren: Einerseits kann man sie „für sich selbst beschreiben, ohne direkt über ihr Archivsystem zu sprechen“, andererseits kann man untersuchen, „wie diese Diskurse aufgezeichnet, aufbewahrt, transformiert, wieder aktualisiert, kommentiert und in Umlauf gebracht werden“ (S. 257). Mit der (kurzlebigen) Begriffsprägung des „Diskurs-Archivs“ nimmt Foucault die Ebene in den Blick, auf der beide Seiten zusammenkommen, sie wird als die eigentlich analytisch interessierende ausgezeichnet:

„Diese Disziplin des Diskurs-Archivs, die sich mit dem Archiv als Form der Gesetze der Einschreibung, der Erhaltung und der Zirkulation von Diskursen befasst und die Diskurse als reziproke Positionen der Aussagen im Raum des Archivs behandelt – diese Disziplin kann man als Archäologie bezeichnen.“ (S. 262)

Es wäre eine eigenständig zu verfolgende Fragestellung, wie genau sich die terminologischen Entscheidungen in den folgenden Monaten und Jahren noch verändern, bevor sie sich dann in der Archäologie des Wissens und der Ordnung des Diskurses,[3] Foucaults berühmter Antrittsvorlesung am Collège de France vom Dezember 1970, verfestigen. Grob gesagt beschränkt sich der Begriff des Diskurses 1966 noch weitgehend auf sprachliche Äußerungen und findet erst allmählich auch auf nicht sprachliche Kontexte Anwendung.[4] Diese Transformation in der methodischen Bestimmung ist dabei eng mit Foucaults Aufnahme des von Nietzsche zwar nicht erfundenen, aber prominent geprägten Begriffs der Genealogie verbunden, der in den ab 1970/71 entstehenden Texten eine zunehmend wichtige Rolle spielt.[5] In dem vorliegenden Band nutzt Foucault die Terminologie von Archiv und Archäologie allerdings noch vornehmlich zur Erörterung von Fragen, die auf der Ebene der Sprache und der Wissensorganisation angeordnet sind. Mit der Formel einer „immanenten Ethnologie“ (vgl. S. 265, 266) spielt er in diesem Zusammenhang auch auf die strukturalistische Ambition einer allgemeinen, rein formal ansetzenden Strukturanalyse der eigenen Gesellschaft an. Faszinierend sind außerdem einige wenige kulturgeschichtliche Bemerkungen, die in erster Linie medientechnische Aspekte des Archivs beleuchten, etwa die Erfindung der Schrift, die Fixierung des Alphabets oder die Rolle des Buchmediums und der Bibliotheken.[6]

Das Manuskript endet mit einer zeitdiagnostischen Pointe, die zugleich einen Bogen zur eingangs formulierten Frage der Diagnose des Heute spannt. So attestiert Foucault der gegenwärtigen Kultur, „im Grunde alles vom Diskurs aufzubewahren“ (S. 282) und das Archiv somit ins Unendliche auszudehnen, um alle Informationen zu speichern und nichts zu übersehen. Er sieht darin ein Symptom für eine aktuelle Neubestimmung des Verhältnisses von Archiv und Diskurs, die sich nun nicht mehr in einen stabilen, selektiven Pol auf der einen und einen dynamischen, wuchernden Pol auf der anderen Seite unterscheiden lassen. In der Gegenwart, so Foucault, sind Elemente des Archivs immer schon Teile der sich gerade entwickelnden Diskurse, ist die Vielfalt des Archivierten für alle möglichen Arten von Bezugnahmen in aktuellen Diskursen verfügbar, weil es so viele Schnittstellen und Vernetzungen gibt, dass sich Archiv und Diskurs tendenziell gar nicht mehr gegeneinander abschirmen und begrenzen lassen.

Die von Foucault an dieser Stelle kaum konkretisierten Aussagen lassen erneut an spätere medientechnische Umsetzungen denken: zum einen an den enormen Anstieg von Speicherkapazitäten, dessen im Rückblick noch geringfügiger Beginn sich schon auf die späten 1960er-Jahre datieren lässt, zum anderen an die Heraufkunft einer weltumspannenden informationstechnischen Netz- und Displaystruktur, von der das World Wide Web womöglich nur der Anfang gewesen sein wird.[7] Denn hier können Elemente jederzeit und fast ohne Restriktionen von einem Bereich, einer Sphäre oder Abteilung in andere übertragen und kopiert werden, verliert sich der Unterschied zwischen Original und Zitat, Urbild und Abbild, zerfließen traditionelle Verankerungen von Autorität und Legitimität, von Aussagen und Autorschaft.

Das Phänomen, das Foucault daran festmachen will (ohne jeden Bezug zur medientechnischen Konkretion), ist das einer weitgehenden Autonomisierung des Diskursiven beziehungsweise der „Diskursivität“. Der nicht ganz leicht zu erläuternde Grundgedanke dahinter lautet, dass Realität in einer Kultur wie der unseren diskursiv erzeugt wird:

„Wir befinden uns in einer Kultur, in der es kein Ereignis und keine Existenz, kein Wissen und kein Werk gibt, die nicht an sich Diskurs sind und im Diskurs ihre Bedingungen der Möglichkeit finden.“ (S. 287 f.)

In diesem Zusammenhang ist noch einmal an die weite und unscharfe Verwendung des Diskursbegriffs zu erinnern, die Foucault erst später revidieren wird. So bezeichnet der Begriff nicht nur die Versprachlichung als solche, sondern – in weitgehender Übereinstimmung mit strukturalistischen Vorstellungen – auch bedeutungstragende Praktiken, in denen bestimmte Zeichen in Relation zu anderen gesetzt und daraus Bedeutungsstrukturen erzeugt werden: Erst als Teile von Diskursen werden Dinge benennbar, erfahrbar, wirklich. Dieser Gedanke hat die radikale ontologische Implikation, dass selbst vermeintlich nicht diskursive Entitäten in den Diskurs gehören oder sogar aus ihm stammen.

Um diese Aussagen richtig einordnen zu können, muss man allerdings ihre perspektivische Dimension berücksichtigen: Nur ‚für uns‘ im Westen wurde „Diskursivität zur „allgemeinen Form dessen […], was der Erfahrung gegeben werden kann“ (S. 289); nur ,für uns‘ konstituiert und organisiert sich Erfahrung diskursiv, bilden sich komplexe Selbst- und Fremdbeschreibungen erst in der Kombination aus schon längst etablierten Kategorien, Mustern und Elementen von Narrativen, Theorien, Weltbildern und Imaginationen heraus. Für die kontextsensible Analyse dieser kulturell vermittelten Bedeutungserzeugungsprozesse ist eine Wissensform nötig, die diese diskursive Konstitutionskraft selbst anerkennt und nicht auf vermeintliche Ursprünge oder Fundamente außerhalb des Diskurses rekurriert.

Darin besteht die ironische Wendung am Ende des Manuskripts: Die (klassische) Philosophie hat immer geglaubt, über alles andere als sich selbst zu sprechen, und war Foucault zufolge letztlich doch immer nur ein – von außen kritisch beschreibbares – Selbstgespräch, eine diskursive Selbstermächtigung. Anhand der Geschichte der Philosophie lässt sich demnach etwas lernen, was grundsätzlich für alle Diskurse gilt, in unserer (westlichen) Kultur aber irreführenderweise nur an einer bestimmten Stelle in einem bestimmten Diskurs verdichtet und gebündelt wird. Plausibler als eine Fortsetzung der Philosophie bisherigen Zuschnitts erscheint Foucault daher eine allgemeine Theorie des Diskurses oder der Diskursivität, für die einige Varianten des Strukturalismus das Vorbild sein könnten. Dass das Manuskript in dieser Unentschiedenheit endet, ist sicher kein Zufall.

Die spezifische Fragestellung nach der Besonderheit der Philosophie hat also zwei spezifische Antworten hervorgebracht: eine vorläufige in der Bestimmung der Philosophie als Diagnose, und eine historische in der Rekonstruktion einer Geschichte des philosophischen Diskurses von Descartes bis zu Husserl und den Zeitgenossen Foucaults. Beide Antworten eröffnen Möglichkeiten, um jenseits der Grenzen von Tradition und Disziplin weiterzudenken – Möglichkeiten, die Foucault in den Folgejahren ausgelotet hat: einmal in Richtung eines kritischen, zeitdiagnostisch motivierten Denkens, das sich nur noch peripher an den Inhalten der klassischen Philosophie orientiert, und einmal in Richtung einer formalen Rahmentheorie bedeutungsgenerierender diskursiver Praktiken. Die Archäologie des Wissens ist das Ergebnis dieses zweiten Wegs, den Foucault jedoch nicht weiterverfolgt hat; die Schrift blieb im Werkkontext ein Solitär. Die daran anschließenden historiografischen Projekte der 1970er- und 1980er-Jahre hingegen haben vor allem das Ziel der Gegenwartsdiagnose verfolgt, den Kanon philosophischer Texte allerdings nur noch selten berührt. Es scheint fast, als ob sich die Frage nach dem Ende und der Zukunft der Philosophie, die sich Foucault (und viele andere) in den Jahren zwischen 1960 und 1970 so ernsthaft stellten, im folgenden Jahrzehnt ihre Dringlichkeit verlor, bevor sie dann in den 1980er-Jahren in Form der Frage nach dem Ende und der Zukunft von Moderne und Aufklärung neuerlich virulent wurde.[8]

Trotz seiner vielen offenen Enden ist Der Diskurs der Philosophie in mindestens drei Hinsichten bemerkenswert. Erstens erhält das in Bezug auf Foucault ohnehin schon große Interesse an Werkgenese und Biografie mit diesem faszinierenden Text aufschlussreiches neues Material. Wer wissen will, wie sich das Projekt einer allgemeinen Diskurstheorie oder einer Theorie der Wissenssysteme aus der Konfrontation zwischen französischen Epistemologien im Stile Georges Canguilhems und Gaston Bachelards und den strukturalistischen Methodeninnovationen entwickelt hat, erhält anhand dieses Manuskripts einen guten Einblick in die Denkwerkstatt Foucaults. Man begegnet dem Autor in einer Phase, in der die begrifflichen und methodischen Instrumentarien noch flexibel sind, die Inspiration durch großformatige epochalisierende Entwürfe wie die des späten Heidegger noch unverhohlen anklingt und die Frage nach den Grenzen der Disziplinen noch eine Dringlichkeit hat, die sich später verliert.[9] Dass dem in diesen Jahren verfolgten Projekt einer Archäologie des Wissens auch ein Moment der Selbstverständigung über das eigene Denken zwischen neuen Humanwissenschaften und klassischer Philosophie innewohnt, diesen Umstand verbergen die späteren Texte eher, als dass sie ihn ausstellen.

Zweitens eröffnet der Text außergewöhnliche und noch nicht ausgeschöpfte Perspektiven auf die Geschichtsschreibung der Philosophie. Später wird Foucault eher nebenbei gegen klassische Formen der Ideengeschichte polemisieren und seine Sympathien für die Tradition der Annales-Schule und die seinerzeit prominente Nouvelle Histoire bekunden. Im Subtext des Manuskripts von 1966 wird – auch durch die sehr sorgfältige Kommentierungsarbeit der Herausgeber – deutlich, wie ernsthaft sich Foucault mit der Frage einer historischen Perspektivierung der Philosophie befasst hat. Als Orientierung dienten ihm dabei die kontroversen und teils recht spezialistischen Debatten zwischen Martial Gueroult, Jules Vuillemin und Jean Hyppolite.[10]

Philosophie als einen Diskurs zu begreifen bedeutet, nach Kontinuitäten und Ähnlichkeiten zwischen philosophischen Schulen und Positionen Ausschau zu halten, die formal, das heißt aus den Gegebenheiten eines bestimmten institutionellen Settings zu begreifen sind. Trotz etlicher Ansätze ist eine foucaultianische Perspektive auf die Philosophiegeschichte erstaunlich selten durchgeführt worden; dass man sie nicht erst konstruieren muss, sondern in einem ersten, vorläufigen Entwurf bereits vorliegen hat, sie also gewissermaßen schon am Werk sehen kann, stellt eine willkommene Bereicherung des Angebots dar, die angesichts der kaum mehr abweisbaren Kritik an der Vielzahl immer noch selbstbestätigender Rekonstruktionen des westlichen Denkens so aktuell ist wie noch nie.[11]

Drittens schließlich bietet der Text Anregungen und Inspirationen für neue Antworten auf die systematische Frage nach der Zukunft und den Möglichkeiten des philosophischen Denkens, die sich von dem ideenpolitischen Kontext der mittleren 1960er-Jahre lösen lassen. Letzteres ist insofern unabdingbar, als nur noch wenig unsere heutige intellektuelle Welt mit jener der damaligen Zeit verbindet, für welche die Bezugnahme auf den offenen oder untergründigen Heideggerianismus, die Abwehr einer humanistischen Schulphilosophie oder die Faszination für Grenzgänge zwischen akademischen und literarisch-avantgardistischem Schreiben prägend gewesen sind. Was die Lage der heutigen akademischen Philosophie angeht, lässt sich sicher ein erhöhter Grad der institutionellen Professionalisierung, auch eine tiefe Zersplitterung von Methodiken und Selbstlegitimierungen feststellen, zudem ist das Bewusstsein für die notwendige historische Selbstreflexion der Disziplin weniger stark ausgeprägt. Geblieben sind aber die Konkurrenzstellung zu anderen Wissenschaften und der Druck, auch die technologischen Entwicklungen der Gesellschaft reflexiv zu begleiten.

Es ist verführerisch und reizvoll, sich eine von Foucault inspirierte Kartografie des gegenwärtigen philosophischen Diskurses vorzustellen, auch wenn es fraglich erscheint, ob er diesen heute noch so kohärent definieren könnte, wie er es für die Periode von 1700 bis 1965 getan hatte. Diese Geschichte ließe sich jedoch auch dann schreiben, wenn sie einen anderen, loseren und heterogeneren Gegenstand hätte, nämlich das nachklassische, nachmoderne philosophische Denken, das von anderen Faktoren und Zwängen zusammengehalten wird als seiner inneren begrifflichen Notwendigkeit.[12] Denn die Unterstellung einer solchen internen Einheit des philosophischen Diskurses ist vielleicht der Punkt, an dem der hier aus dem Archiv gerettete, wie in einer Zeitkapsel aufbewahrte Vorschlag am stärksten dem damaligen Zeitgeist verpflichtet ist, der nicht mehr der unsere ist; den Glauben an die große Einheitlichkeit des philosophischen Diskurses haben wir verloren, entsprechend milder ist aber auch die Reaktion auf die Diagnose seines Zerbrechens. Ob die pluralistischen Philosophien unserer Spätzeit deshalb schwächer oder bescheidener, unreiner oder offener sind, ist eine Frage, welche die philosophische Praxis beantworten muss.

  1. Michel Foucault, Les mots et les choses. Une archéologie des sciences humaines, Paris 1966 [dt.: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, übers. von Ulrich Köppen, Frankfurt am Main 1971].
  2. Michel Foucault, L’archéologie du savoir, Paris 1969 [dt.: Die Archäologie des Wissens, übers. von Ulrich Köppen, Frankfurt am Main 1973].
  3. Michel Foucault, L’ordre du discours. Leçon inaugurale au Collège de France, prononcée le 2 décembre 1970, Paris 1971 [dt.: Die Ordnung des Diskurses. Inaugural-Vorlesung am Collège de Frane, 2. Dezember 1970, übers. von Walter Seitter, Frankfurt am Main 1974].
  4. Stuart Elden, The Archaeology of Foucault, Cambridge 2023.
  5. Martin Saar, Genealogie als Kritik. Geschichte und Theorie des Subjekts nach Nietzsche und Foucault, Frankfurt am Main / New York 2007.
  6. Friedrich A. Kittler, Aufschreibesysteme 1800–1900, München 1987.
  7. Vgl. Mirjam Schaub / René Aguigah, Foucault, wie man ihn noch nicht kannte, 23. Juni 2024; Bernhard J. Dotzler / Henning Schmidgen, Foucault, digital, Lüneburg 2022.
  8. Martin Saar, After the Endgames: What was and what is Philosophy?, in: Philosophy, Politics and Critique 1 (2024), 1, S. 112–115.
  9. Gary Gutting, Michel Foucault’s Archeology of Scientific Reason, Cambridge 1989; Hubert L. Dreyfus / Paul Rabinow, Michel Foucault: Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik, übers. von Claus Rath und Ulrich Raulff, Weinheim 1997.
  10. Stuart Elden / Orazio Irrera / Daniele Lorenzini, Foucault Before the Collège de France, in: Theory, Culture and Society 40 (2023), 1–2, S. 3–18.
  11. Ulrich Johannes Schneider, Die Vergangenheit des Geistes. Eine Archäologie der Philosophiegeschichte, Frankfurt am Main 1990.
  12. Frieder Vogelmann, Kraft, Widerständigkeit, Historizität: Überlegungen zu einer Genealogie der Wahrheit, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 62 (2014), 6, S. 1062–1086; Martin Saar / ders., Thinking and Unthinking the Present: Philosophy after Foucault, in: Foucault Studies 21 (2024), 36, S. 31–54.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Karsten Malowitz.

Kategorien: Anthropologie / Ethnologie Epistemologien Geschichte der Sozialwissenschaften Gesellschaftstheorie Kommunikation Methoden / Forschung Normen / Regeln / Konventionen Philosophie Wissenschaft

Martin Saar

Martin Saar ist Professor für Sozialphilosophie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Er ist Mitglied des Kollegiums des Instituts für Sozialforschung und des Forschungszentrums „Normative Ordnungen“. Seine Arbeitsschwerpunkte beziehen sich auf die politische Ideengeschichte der frühen Neuzeit, die Kritische Theorie und die neuere französische Philosophie, auf Fragen nach Macht, Geschichte, Demokratie und Subjektivität.

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