Mirela Ivanova | Rezension |

Die Reichweite digitaler Plattformen

Rezension zu „Plattformkapitalismus und die Krise der sozialen Reproduktion“ von Moritz Altenried, Julia Dück und Mira Wallis (Hg.)

Abbildung Buchcover Plattformkapitalismus und die Krise der sozialen Reproduktion von Altenried/Dück/Wallis (Hg.)

Moritz Altenried / Julia Dück / Mira Wallis (Hg.):
Plattformkapitalismus und die Krise der sozialen Reproduktion
Deutschland
Münster 2021: Westfälisches Dampfboot
295 S., 30,00 EUR
ISBN 978-3-89691-056-1

Bei der vergleichenden Betrachtung digitaler Plattformen wie Amazon, Google oder Uber sticht ein gemeinsames Merkmal hervor. Sie versuchen nicht nur möglichst schnell eine Monopolstellung zu erlangen, sondern auch eine unverzichtbare Funktion im sozioökonomischen Gefüge der Gesellschaft einzunehmen. Plattformen bauen ihren Einflussbereich aus, indem sie Nutzer:innen, Kund:innen, Arbeitnehmer:innen, Geschäftspartner:innen und sogar staatliche Institutionen von ihren Dienstleistungen abhängig machen. Sie übernehmen defizitäre soziale Infrastrukturen, füllen Lücken im Sozialbereich oder erschaffen ganz neue business ecosystems, für die sie unverzichtbar sind. Vor diesem Hintergrund demonstriert der Sammelband Plattformkapitalismus und die Krise der sozialen Reproduktion überzeugend, wie eng die beiden titelgebenden Phänomene miteinander verschränkt sind.

In ihrer Einführung definieren die drei Herausgeber:innen soziale Reproduktion in Anlehnung an Karl Marx als die „Reproduktion der menschlichen Arbeitskraft“, (S. 8) weshalb sie eine Voraussetzung für die Aufrechterhaltung des kapitalistischen Produktionsprozesses ist. Dazu gehören alle Praktiken, Infrastrukturen und Institutionen, die die „physische und qualifikatorische Arbeits- und Leistungsfähigkeit“ (ebd.) der Menschen und ihre „subjektivierende Erziehung sowie ihre generative Reproduktion“ (S. 9) gewährleisten. Ein großer Teil der Tätigkeiten, die der sozialen Reproduktion dienen, ist unbezahlt und wird bis heute von Frauen* geleistet.

Nach den einleitenden Worten der Herausgeber:innen legen die drei Beiträgen des ersten Teils („Soziale Reproduktion, Digitalisierung und Plattformen – theoretische Vermessungen“) den Grundstein für das Verständnis der Zusammenhänge: Zunächst geht Julia Dück der Frage nach, wie wir die gegenwärtige Krise der sozialen Reproduktion verstehen können. Laufende gesellschaftliche Transformationen – etwa der Einbezug von Frauen aus der Mittelschicht in die Arbeitswelt, die Erosion, Kommodifizierung und Privatisierung des Wohlfahrtsstaats sowie die Prekarisierung der Arbeitsbedingungen – führen zu einer Krise auf zwei Ebenen. Erstens verschlechtern sich die Bedingungen und Ressourcen für die soziale Reproduktion, was zu verschiedenen Formen von Belastungen und Erschöpfung auf Seiten der Individuen und zu Qualitätsverlusten in der bezahlten und unbezahlten Sorgearbeit führt. Zweitens entstehen Dück zufolge Widersprüche und Krisen, weil sich die „vergeschlechtlichten Lebensweisen und Subjektivitäten“ (S. 47) verändern und unter neuen Bedingungen weiterbestehen. Die beschriebenen Prozesse spielen sich nicht zuletzt im sozialen Kontext digitaler Plattformen ab; hierauf geht Dück allerdings nicht näher ein.

Moritz Altenried beschreibt als nächstes den ökonomischen Kontext: die Finanzialisierung der Wirtschaft. Anleger:innen investieren ihr Risikokapital zunehmend in sogenannte schlanke Geschäftsmodelle, die das Geschäftsrisiko externalisieren. Altenrieds Analyse der Strategien, die Plattformen zur eigenen Finanzsicherung und Gewinnmaximierung verfolgen, ist entscheidend, um die Zusammenhänge zwischen den Mechanismen des Plattformkapitalismus und der Krise der Reproduktion zu verstehen. Wie ein roter Faden zieht sich seine Auseinandersetzung mit der Kapitalakkumulationslogik von Plattformen durch das gesamte Buch. So zeigen Franziska Baum und Nadja Kufner für den Pflegebereich, wie Plattformen ihr Überleben und ihre Expansion als Unternehmen sichern, nämlich indem sie auch hier zu „unverzichtbaren Infrastrukturen des Alltagslebens“ (S. 67) werden.

Das Kapitel von Ursula Huws ist sodann der erste Beitrag, der den Zusammenhang zwischen der Krise der sozialen Reproduktion und dem Aufkommen digitaler Plattformen zum zentralen Gegenstand der Untersuchung macht. Huws widmet sich der „Digitalisierung und Kommodifizierung von Hausarbeit“. Die historische Perspektive, die sie hierbei einnimmt, ist besonders interessant, denn sie verdeutlicht, wie bestimmte gesellschaftliche Veränderungen zu „Zeitknappheit“ (S. 81) führen. Huws nennt hier den neoliberalen Abbau öffentlicher Dienstleistungen wie Gesundheit und Bildung und deren Kommodifizierung, die Intensivierung der Arbeit, das Verschwimmen der Grenzen zwischen Arbeit und Privatleben sowie die Zunahme unbezahlter Arbeit. Infolgedessen suchen die Einzelnen verstärkt auf Online-Plattformen nach personeller Unterstützung bei der Hausarbeit.

Wir müssen unsere Aufmerksamkeit verstärkt auf die Probleme der sozialen Reproduktion im Kapitalismus richten, wenn wir die gesellschaftlichen Bedingungen, in denen digitale Plattformen entstehen, und die Konsequenzen, die sie für die Gesellschaft als Ganze haben, nachvollziehen wollen.

Bereits die ersten drei Beiträge machen deutlich, dass das Buch eine wünschenswerte, ja dringend nötige Ergänzung zu aktuellen Debatten über den Plattformkapitalismus und die soziale Reproduktion darstellt. Vor allem in Bezug auf Ersteres füllt der Band eine Lücke in der kritischen Sozialwissenschaft, die sich bisher überwiegend darauf fokussierte, wie Plattformen Monopole aufbauen, wie sie Wert generieren und welche Rolle bezahlte und unbezahlte Arbeit sowie digitale Formen der Arbeitskontrolle bei alldem spielen. Die von Moritz Altenried, Julia Dück und Mira Wallis zusammengetragenen Aufsätze zeigen eindrücklich, dass wir unsere Aufmerksamkeit verstärkt auf die Probleme der sozialen Reproduktion im Kapitalismus richten müssen, wenn wir die gesellschaftlichen Bedingungen, in denen digitale Plattformen entstehen, und die Konsequenzen, die sie für die Gesellschaft als Ganze haben, nachvollziehen wollen. Denn erst der krisenhafte Charakter der sozialen Reproduktion im neoliberalen Kapitalismus führt zu denjenigen gesellschaftlichen Leerstellen, die die Plattformen zu schließen versprechen und für die sie profitable soziale und technische Infrastrukturen kreieren.

Die Beiträge der zweiten und dritten Sektion beleuchten unter anderem den Haushalt als einen Reproduktionsraum, den sich die Plattformen zur Profitgenerierung erschließen. Smart Homes und Airbnb sind wichtige Beispiele, die im Zuge dessen zur Sprache kommen. Vor allem aber beschäftigen sich mehrere Artikel mit Plattformen wie Helpling oder Careship, die sich in der Intimsphäre der Haushalte etablieren, indem sie Arbeitskräfte für die Reproduktionsarbeit auf Knopfdruck (on demand) vermitteln. Bisherige wissenschaftliche Debatten drehen sich meist um solche Plattformen, die im öffentlichen Raum operieren, sodass diejenigen, die Dienstleistungen in Privathaushalten anbieten, bisher wenig Aufmerksamkeit erhalten haben. Der Aufsatz von Yannick Ecker, Marcella Rowek und Anke Strüver regt besonders zum Nachdenken an, da für die Autor:innen die Vernachlässigung von Sorgearbeit in der Wissenschaft ihrer Unsichtbarkeit auf gesamtgesellschaftlicher Ebene entspricht. Die Plattformen würden nicht nur die fehlende gesellschaftliche Wertschätzung und Sichtbarkeit von Sorgearbeit auf Dauer stellen, sondern die sozial etablierten Ungleichheiten, die mit der geschlechtlichen Arbeitsteilung und ihren räumlichen Strukturen verbunden sind, sogar verstärken.

Zugleich fördern entsprechende Plattformen, so Ecker, Rowek und Stüver, die digitale Sichtbarkeit der Sorge-Arbeiter:innen, denn sie müssen potenziellen Kund:innen Vertrauenswürdigkeit und Verlässlichkeit vermitteln. Die Plattformen erfragen die Kundenzufriedenheit, speichern sie ab und spielen sie in Form einer Bewertungsmatrix wieder aus. In Kombination mit anderen Metriken stellt eine solche algorithmische „Intensivierung von Ausbeutung und Überwachung“ (S. 124) ein Paradebeispiel digitaler Kontrolle dar, da das Vertrauen eine entscheidende Rolle bei der Sorge- und Hausarbeit spielt und die Chance, einen neuen Auftrag zu bekommen, wesentlich von diesen Bewertungen abhängt.

Die bereits genannte Studie von Baum und Kufner zur „Widersprüchlichen Subjektivierung in der Care-Gigwork“ stellt interessanterweise die ansonsten weithin (auch im Sammelband) geteilte Schlussfolgerung infrage, dass Plattformen bestehende Ungleichheiten, prekäre Arbeitsbedingungen und Formen der Arbeitskontrolle zwangsläufig verstärken. Baum und Kufner zeigen hingegen, dass Plattformen für Pfleger:innen einen Ausweg aus der „rationalisierten Pflegarbeit in Pflegeeinrichtungen“ (S. 178) darstellen. Die Gig-Worker selbst sehen die Plattformen, über die ihre Tätigkeit organisiert wird, als Möglichkeit, autonomer und zeitsouveräner zu arbeiten, und die Pflegearbeit nach ihren eigenen ethischen Ansprüchen zu gestalten. Die Untersuchung zeigt auch, dass sich die plattformbasierte Arbeitsorganisation des Pflege- und Betreuungssektors durch die Abwanderung von Fachkräften noch intensiviert hat.

Der vierte Teil des Sammelbandes geht unter anderem der Frage nach, inwiefern Arbeit auf digitalen Crowdwork-Plattformen interessant ist für Menschen, die aufgrund ihrer privaten Situation an einem bestimmten Ort verankert sind und in der „globalen digitalen Ökonomie nach Einkommensstrategien jenseits des lokalen Offline-Arbeitsmarkts“ suchen (S. 246). Mira Wallis kommt zu dem Schluss, dass auf Selbständigkeit basierende und über digitale Plattformen vermittelte Heimarbeit „umso attraktiver wird, je weniger das klassische Normalarbeitsverhältnis und der Wohlfahrtstaat als tatsächliche Optionen zur Absicherung von Lebensunterhalt, Rente und gesundheitlicher Versorgung erscheinen“ (S. 246). Auch Wallis zeigt damit einleuchtend, wie Plattformen ihre Infrastruktur dort aufzubauen beginnen, wo andere soziale Einrichtungen und Sicherheitsnetze versagen oder zumindest defizitär sind. Sie vergleicht Crowdwork mit früheren Formen der Heimarbeit und konstatiert, dass Plattformen aufgrund des globalisierten Wettbewerbs zwischen den Arbeitskräften und durch neue Formen der digitalen Kontrolle „zu ständiger Verfügbarkeit“ (S. 241) nötigen.

Die Beiträge untersuchen die Veränderungen der Reproduktionsarbeit in bestimmten sozialen Konstellationen und demonstrieren dadurch überzeugend, wie Plattformen das spezifische gesellschaftliche Arrangement rund um den betrachteten Arbeitstyp beeinflussen.

Die Beiträge des Bandes verstehen Plattformarbeit nicht als homogene und lineare Transformation der Arbeitsbedingungen oder -kontrolle. Sie untersuchen die Veränderungen der Reproduktionsarbeit in bestimmten klassenspezifischen, vergeschlechtlichten und oftmals auch rassifizierten sozialen Konstellationen und demonstrieren dadurch überzeugend, wie Plattformen das spezifische gesellschaftliche Arrangement rund um den betrachteten Arbeitstyp beeinflussen. So können die Aufsätze nuanciert zeigen, welche ihrer Versprechen die Plattformen nicht halten, wann sie lediglich zu einer Verlagerung der Krise führen und wo sie neue Ungleichheiten, Versorgungslücken und Belastungen auslösen. Sie zeichnen darüber hinaus ein detailliertes Bild der Lebenssituationen und Arbeitsrealitäten von Plattformarbeiter:innen und bieten spannende Einblicke in die Versuche derselben, die verschiedenen Aspekte ihrer plattformbasierten Arbeitsprozesse entweder zu ihrem Vorteil zu nutzen, sich damit zu arrangieren oder sie aktiv zu unterlaufen.

Insgesamt fehlt dem Band eine vertiefende Auseinandersetzung mit der Beziehung zwischen sozialen Klassen und Plattformnutzung – als individualisierte Lösung der Krise sozialer Reproduktion –, wenngleich verschiedene Beitrag diesen Zusammenhang zumindest am Rande ansprechen. Insbesondere bezüglich der Nutzer:innen von Gigwork-Plattformen lassen sich folgende weiterführende Fragen stellen: Was sind die Unterschiede zwischen einer subjektiven Reproduktionskrise, dem Bestreben, den Lebensstil einer bestimmten Klassenposition zu haben, und dem Wunsch, langweilige oder ungeliebte Tätigkeiten auszulagern? Anders formuliert: In welchen Fällen stellt das Bezahlen von Tierbetreuung, Putzhilfen oder Gartenarbeit die Lösung für eine erlebte Reproduktionskrise dar und in welchen Fällen geht es eher darum, den Gewohnheiten eines Mittelschichtbürgertums zu entsprechen? Worin unterscheidet sich eine „Krise der Gewohnheiten“ (S. 46) in der Ober-, Mittel- und Arbeiter:innenschicht? Empirische Daten und theoretische Ansätze hierzu wären möglicherweise ein Gewinn für die in den Aufsätzen geführte Debatte. Ungeachtet dessen leistet der Sammelband einen wesentlichen und inspirierenden Beitrag zur Diskussion über den Plattformkapitalismus und die Krise der sozialen Reproduktion.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Wibke Liebhart.

Kategorien: Arbeit / Industrie Care Digitalisierung Gender Kapitalismus / Postkapitalismus

Abbildung Profilbild Mirela Ivanova

Mirela Ivanova

Mirela Ivanova ist Doktorandin am Lehrstuhl für Sozialstrukturanalyse am Seminar für Soziologie der Universität Basel. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im DFG/SNF-Projekt „Digitale Entfremdung und Aneignung von Arbeit“.

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