Andreas Reckwitz | Essay |

Die Transformation der Sichtbarkeitsordnungen

Vom disziplinären Blick zu den kompetitiven Singularitäten

Michel Foucaults Studie Überwachen und Strafen liefert im Kern die Analyse einer Sichtbarkeitsordnung. Dadurch ist sie sowohl aktuell als auch überholt. Aktuell ist das Buch dadurch, dass sich Foucaults Analytik einer spezifischen Ordnung des Sichtbaren, wie er sie für die Disziplinargesellschaft durchgeführt hat, als Inspirationsquelle für die Rekonstruktion von Sichtbarkeitsordnungen der spätmodernen Gegenwartsgesellschaft nutzbar machen lässt. Zugleich ist eine solche Aktualisierung aber auch dringend nötig: Denn die Gegenwartsgesellschaft folgt nicht mehr – das war Foucault 1975 durchaus schon bewusst –, zumindest nicht im Kern, den Mechanismen des disziplinären Blicks. Damit stellt sich die Frage, die ich behandeln[1] will: Wie haben sich die gesellschaftlichen Sichtbarkeitsordnungen seit dem Ende des 20. Jahrhunderts verändert? Welche Transformationen des Sozialen, der Subjektivierungsformen und der Machtstrukturen sind damit einhergegangen?

Mein Ausgangspunkt lautet, dass im 20. Jahrhundert eine tiefgreifende Transformation der Strukturprinzipien, der kulturellen Legitimationsformen und der affektiven Erregungsstrukturen der Gesellschaft der Moderne als Ganze stattfindet, ein Wandel, dessen Tragweite erst zu Beginn des 21. Jahrhundert wirklich erkennbar wird. Hatte die Moderne vom 18. Jahrhundert bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts ein Rationalisierungsdispositiv flächendeckend verbreitet, so wird dieses seitdem mehr und mehr durch ein Kulturalisierungsdispositiv überlagert (das ich an anderer Stelle und in anderem Zusammenhang etwas enger auch als ein Kreativititätsdispositiv bezeichnet habe[2]). Das Rationalisierungsdispositiv beherrschte die industriegesellschaftliche Moderne. Seine Merkmale hat der soziologische Diskurs klassisch in Max Webers Theorie der formalen Rationalisierung, mit anderer Akzentsetzung auch in Norbert Elias‘ Theorie der Affektkontrolle beschrieben. Als Rationalisierungsprozess verbreitet die Moderne Mechanismen der Zweck-Mittel-Rationalität, die in der Ökonomie, dem Staat oder der Wissenschaft auf gesellschaftliche Optimierung abzielt. Zentral für den Rationalisierungskomplex ist, dass er mit einer Schematisierung und Standardisierung von Subjekten und Dingen arbeitet: Sie sollen in Form normierter Serien allgemeinen Mustern entsprechen.

Diese Struktur der Rationalisierung ist selbstverständlich heute nicht verschwunden. Doch ist die Moderne der Gegenwart längst nicht mehr allein mit diesem begrifflichen Repertoire zu erfassen. Wenn ich die These vertrete, das Dispositiv der Rationalisierung sei schrittweise von einem solchen der Kulturalisierung überformt worden, meine ich damit, dass wir in den letzten Jahrzehnten einen Prozess beobachten können, in dem die Logik dessen, was in der klassischen Moderne das schmale und gesellschaftlich marginale kulturelle Feld ausmachte, in die Gesellschaft als Ganze hineinkopiert wird. Es dürfte klar sein, dass es sich in diesem Prozess notwendig selbst wandelt. So wie ehemals für das kulturelle Feld im engeren Sinne, also das soziale Feld der Künste, ist für das Kulturalisierungsdispositiv der Spätmoderne kennzeichnend, dass sich im Zentrum des Sozialen nicht mehr die Herstellung und Nutzung von gleichförmigen oder identischen, versachlichten Objekten respektive die Interaktion mit gleichförmigen Subjekten befindet, sondern die Produktion und Rezeption von affektiv aufgeladenen Zeichen, Narrationen, Bildern und Performanzen sowie die Interaktionen mit singulären Subjekten. Drei Merkmale sind für das Kulturalisierungsdispositiv generell kennzeichnend: die Publikumsorientierung, die enorme intensivierte Affektivität und die Orientierung an Singularitäten. Im Kern dieses Dispositivs haben wir es mit einer Konstellation des Sozialen zu tun, in der die Subjekte sich als ein Publikum für sinnhaft und oder sinnlich eindrucksvolle Objekte oder andere Subjekte versammeln und gleichzeitig in die Position versetzen, Performanzen vor einem solchen Publikum darzubieten. Sowohl Objekte als auch Subjekte werden hier nicht als Replikationen und Wiederholungen des Gleichen geformt wie im Rationalisierungsdispositiv, sondern als Singularitäten, das heißt als nichtvergleichbare Besondere. Im Gegensatz zur emotional abgekühlten Versachlichung der Rationalisierung werden Objekte und Subjekte als solche Singularitäten in hohem Grade mit positiven Affekten der Faszination aufgeladen.

Vor dem Hintergrund dieser zentralen Unterscheidung zweier verschiedenartiger Dispositive lässt sich Foucaults Studie im Wesentlichen als Beitrag zu einer Analyse des Rationalisierungsdispositivs verstehen. In Foucaults Analyse wird deutlich, dass Rationalisierung notwendigerweise mit Disziplinierungen der Subjekte arbeitet, die im Rahmen einer disziplinären Sichtbarkeitsordnung stattfinden. Zunächst will ich kurz und stark systematisierend auf die Merkmale dieser disziplinären Ordnung der Sichtbarkeit sowie auf zeitgenössische Aktualisierungen in Richtung einer post-disziplinären Visibilität eingehen, um sonach ausführlicher die Strukturmerkmale jener dazu in vieler Hinsicht konträren Sichtbarkeitsordnung des Kulturalisierungsdispositivs herauszuarbeiten, eine – so meine Begrifflichkeit – Sichtbarkeitsordnung der kompetitiven Singularitäten. Aber auch diese Ordnung ist keineswegs das Ende der Geschichte, vielmehr will ich den Blick am Ende auf eine dritte Visibilitätsstruktur, die Politisierung der Sichtbarkeit, richten, die gerade in der kulturalisierten Spätmoderne als eine Art wiederkehrendes Störmanöver ihrerseits die Ordnung der kompetitiven Singularitäten herausfordert. Die Komplexität unserer gegenwärtigen Konstellation besteht darin, dass sich in ihr Elemente der post-disziplinären Sichtbarkeitsordnung mit der Sichtbarkeitsordnung kompetitiver Singularitäten und ebenso mit einer Politisierung der Visibilität überlagern, womit sich alle drei Modi immer wieder und untergründig miteinander verbinden.

Was ist unter einer Sichtbarkeitsordnung zu verstehen? Ich will diesen Begriff in einem ganz allgemeinen Sinne für die Organisation von Aufmerksamkeiten verwenden, die sich in einem sozialen Komplex von Praktiken oder in einer Gesellschaft als Ganzer vollzieht. Jeder Komplex sozialer Praktiken organisiert Aufmerksamkeiten auf eine bestimmte Art und Weise: Er lässt bestimmte Subjekte, Dinge oder abstrakte Entitäten in den Fokus der Wahrnehmung und der Kommunikation treten, wobei andere solche Phänomene gleichzeitig abgeblendet werden. In dem von mir gemeinten Sinn bedeutet Sichtbarkeit demnach, dass gewisse Phänomene zum Gegenstand von Wahrnehmung und Kommunikation allgemein werden, auch über den Sehsinn hinaus. Folglich stellen sich Sichtbarkeitsordnungen als Arrangements von wahrnehmenden und wahrgenommenen Subjekten, Artefakten, Wissensordnungen, Affekten und ganzen räumlichen Settings dar, in denen die Aufmerksamkeit auf bestimmte Weise gelenkt wird. Während man für die traditionalen Gesellschaften von einer relativ strikten Regulierung der Räume des sozial Sichtbaren und Unsichtbaren ausgehen kann, findet mit dem Einbruch der Moderne eine erhebliche Erschütterung derartiger Aufmerksamkeitsanordnungen statt.

Die teils schleichende, teils eruptive Rekonfiguration von Sichtbarkeitsordnungen vor allem seit dem Ende des 18. Jahrhunderts verläuft partiell ungeplant – etwa über den Weg von Medien- und Verkehrstechnologien[3] –, während sich Foucault vor allem auf die geplanten Umstrukturierungen von Aufmerksamkeiten durch die Disziplinarinstitutionen und ihren panoptistischen Blick konzentriert hat. Diese disziplinäre Sichtbarkeitsordnung ist charakteristisch für das, was ich am Anfang das Rationalitätsdispositiv genannt habe. Auf der Grundlage von Foucaults Analyse lassen sich mehrere elementare Merkmale einer solchen disziplinären Sichtbarkeitsordnung herausdestillieren:

1. Der disziplinäre Blick ist asymmetrisch. Er richtet sich eindeutig von Beobachtern auf Beobachtete, wobei die Beobachter in der Regel Träger von Institutionen sind. Kennzeichnend für eine solche Asymmetrie ist, dass erstere möglichst viel von möglichst vielen der Sichtbarkeit aussetzen wollen, während letztere sich der aufgenötigten Sichtbarkeit potenziell entziehen wollen und entziehen würden, wenn sie denn könnten.

2. Die Beobachteten sind menschliche Subjekte, und zwar als Körper, weshalb sich deren Sichtbarmachung auf die Details ihres unmittelbaren körperlichen Verhaltens in bestimmten institutionellen Kontexten richtet.

3. Das Ziel dieses Arrangements ist eine Regulierung und Standardisierung des Verhaltens und seiner Produkte (beispielsweise Güter oder Schulleistungen), die mit entsprechenden Ge- und Verboten arbeitet. Diese Orientierung am Normalen kann eine Individualisierung in bestimmter Form bedeuten, also: eine normalistische Individualisierung ansteuern, die Abweichungen vom gewünschten Normal- oder Idealfall (etwa Schulnoten) misst und unter ihre Kontrolle bringt.

Ergänzen möchte ich 4. den affektiven Aspekt der Sichtbarkeitsordnung des Rationalisierungsdispositivs, der bei Foucault eher am Rande angedeutet bleibt: Idealerweise arbeitet die Disziplinarmacht – ganz anders als etwa das Spektakel der öffentlichen Folter – mit einer Abkühlung der Affekte. Tatsächlich sind mit der Angst vor der Sanktion, der Schuld angesichts des Versagens und potenzieller physischer Schmerzen auf Seiten der Beobachteten aber negative Affekte vorherrschend. Sie können sich in manchen Fällen in eine Lust am Verbotenen und Heimlichen oder gar in die Lust an der Unterwerfung umkehren, der auf der anderen Seite eine sadistische Lust an der disziplinierenden Beherrschung entspricht.

Nun ist die Sichtbarkeitsordnung der Disziplinargesellschaft durchaus kein historisches Phänomen, das sich auf die frühe Moderne des 18. Jahrhunderts begrenzen ließe. Im Gegenteil erhält sie um 1900 mit dem Taylorismus und der Managementrevolution in Richtung korporatistischer Großbetriebe einen zweiten, entscheidenden Schub. Der Gipfel des Rationalisierungsdispositivs wird erst Mitte des 20. Jahrhunderts mit dem entfalteten organisierten Kapitalismus und dem keynesianischen Wohlfahrtsstaat erreicht. Und auch in der spätmodernen Gesellschaft seit den 1970er- und 80er-Jahren finden sich Fortführungen des disziplinären Regimes, wie sie die „surveillance studies“ herausgearbeitet haben. Besonders hervorzuheben sind aus meiner Sicht jedoch jene Weiterentwicklungen dieses Regimes im Zuge der medialen Digitalisierung, die zugleich einen beträchtlichen Strukturwandel in Richtung eines post-disziplinären Blicks mit sich bringen. Das „quantified self“ und Praktiken des „data tracking“ im Internet liefern hier zwei bezeichnende, aktuelle Beispiele:

In der Bewegung des „quantified self“, in der eine permanente Beobachtung und vergleichende Quantifizierung etwa der eigenen Körperfunktionen und Körperwerte zum Zwecke der Gesundheitskontrolle und Fitnesssteigerung erfolgt, wird eine Struktur deutlich, in der einerseits die Reichweite der Verhaltensbeobachtung gewissermaßen ins Innere des Körpers ausgedehnt wird. Zugleich wird die kontrollierende Fremdbeobachtung vollständig durch die Selbstbeobachtung des Subjekts ersetzt, die dem Ziel einer Selbstoptimierung folgt. Diese Selbstoptimierung arbeitet affektiv weniger mit Angstmechanismen als mit positiven Affekten der Selbstvervollkommnung.

Demgegenüber ist das „data tracking“ im Internet, das algorithmisch-anonym etwa durch Firmen geschieht, die Konsumprofile herausfinden wollen, um gezielte Konsumangebote machen zu können (oder Risikoprofile zu erstellen), anders aufgebaut: Hier handelt es sich weiterhin um eine anonym-maschinisierte Fremdbeobachtung, die jedoch – das ist entscheidend – nicht auf Verhaltensregulierung abzielt, sondern beobachtend Verhalten konstatiert und aufzeichnet, um gerade die Singularität des einzelnen Profils nachzuvollziehen und darauf adaptiv eingehen zu können. Mit dem Begriff des Singulären anstelle des traditionsreichen Begriffs des Individuellen will ich die offen zu Tage liegende Fabriziertheit des Besonderen umschreiben. Die Besonderheit wird hier nicht als ein Unteilbares vorausgesetzt, vielmehr setzt sie sich aus der Unzahl einzelner Kaufakte und Besuche einzelner Internetseiten gewissermaßen kompositorisch zusammen. Während die disziplinäre Regulierung die Gleichförmigkeit fordert, konstatiert die post-disziplinäre Sichtbarkeitsordnung die Singularitäten und reagiert auf sie mit singulär angepassten Offerten oder Zurückweisungen.

Post-disziplinäre Sichtbarkeitsordnungen sind also auch für die späte Moderne weiterhin von Bedeutung. Im Rahmen des Kulturalisierungs- und Kreativitätsdispositivs hat sich jedoch ein ganz anders, ja konträr ausgerichtetes Sichtbarkeitsregime herauskristallisiert, das sich allerdings an manchen Stellen mit dem post-disziplinären Regime verzahnt. Diese Verschiebung wird am schlagendsten deutlich in der konträren Haltung der Subjekte innerhalb der Ordnung. Wollte man sich dem panoptischen Blick am liebsten entziehen, will das Subjekt nun um nahezu jeden Preis Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Sichtbarkeit ist kein Schrecken mehr, sondern eine Verheißung, Unsichtbarkeit kein Sehnsuchtsziel mehr, sondern der soziale Tod. Als Vorgeschichte dieser Entstehung einer Sichtbarkeitsordnung kompetitiver Singularitäten lässt sich Leo Braudys detaillierte Studie The Frenzy of the Renown[4] lesen. Sie präsentiert eine Kulturgeschichte der Strukturen, die von der Antike bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts Berühmtheit bedingt haben. Braudy arbeitet als die eigentliche Zäsur zur Moderne die Entstehung des modernen Künstlers heraus. War öffentliche Berühmtheit zuvor im Wesentlichen an die Träger offizieller staatlicher oder kirchlicher Ämter geknüpft, besteht der dramatische Bruch darin, dass dem modernen Künstler – ganz unabhängig von seinem Herkunftsmilieu, nur durch seine vorgeblich genialen künstlerischen Leistungen – der rasche Aufstieg von der Unbekanntheit in die Arena der Sichtbarkeit der interessierten Öffentlichkeit möglich ist. Der Blick des Publikums auf den Künstler ist kein disziplinierender, sondern ein faszinierter von höchster Erregungsintensität. Was am Künstler interessiert, ist gerade seine Besonderheit, sein unvergleichliches Werk. Und der Künstler selbst strebt eine solche Sichtbarkeit an, da er nur so die Kunstinteressierten erreichen kann.

Für das frühmoderne kulturelle Feld ist somit eine neuartige, nicht-disziplinäre Sichtbarkeitsordnung kennzeichnend – freilich ist sie zunächst noch auf ein gesellschaftlich höchst schmales Segment begrenzt. Wie lässt sich die Verbreitung einer daran angelehnten, aber auch noch einmal deutlich allgemeiner orientierten umfassenden Sichtbarkeitsordnung kompetitiver Singularitäten im Laufe des 20. Jahrhunderts im Rahmen des Kulturalisierungs- oder Kreativitätsdispositivs erklären? Zwei Rahmenbedingungen sind hier entscheidend: Die erste ist natürlich die medientechnologische, zunächst in den technischen audiovisuellen Medien, anschließend mit der digitalen Kultur des Internet. Medien wie Film, Rundfunk und Fernsehen – verknüpft mit der Massenpresse – ermöglichen seit 1900 technisch eine massenhafte Sichtbarkeit von einzelnen Personen, die weit über das klassische kulturelle Feld hinausgeht. Damit ist der Kontext benannt, in dem sich das moderne System der Stars ausbildet. Die ausstrahlenden Medien sind freilich asymmetrisch strukturiert: Der Masse des Publikums steht die kleine Gruppe der Stars gegenüber. Mit dem Internet wird seit den 1990er-Jahren demgegenüber erstmals eine technologische Plattform für Bilder und Texte geschaffen, auf der das Publikum selbst immer auch zum Produzenten werden kann. Eine letztlich quantitativ unbegrenzte Veröffentlichung von Bildern und Texten, auch über Personen, wird möglich. Nun kann potenziell jedes Subjekt eine Sichtbarkeit seiner Person und seiner mehr oder minder elaborierten Werke herzustellen versuchen, vor allem über social media wie Facebook, Youtube oder Twitter, über Dating- oder Berufsportale, Blogs etc.

Die zweite Rahmenbedingung für die Sichtbarkeitsordnung der kompetitiven Singularitäten ist in der Transformation des Kapitalismus zu einer im Kern kulturellen oder ästhetischen Ökonomie zu suchen. Anders als im Fordismus mit seinen standardisierten Massenprodukten setzt der kulturell-ästhetische Kapitalismus auf eine – wie es der französische Wirtschaftssoziologie Lucien Karpik nennt – „Ökonomie der Singularitäten“: auf Güter und Dienste mit einem primär kulturellen – ästhetischen oder hermeneutischen – Wert, so dass das einzelne Gut, von der Urlaubsreise über die Armbanduhr bis zum Coaching, nicht ohne weiteres durch ein anderes austauschbar erscheint.[5] Die ökonomischen Märkte sind damit mehr und mehr als Märkte für kulturelle Güter strukturiert. Sie sind hyperkompetitiv und dadurch gekennzeichnet, dass eine Überproduktion kultureller Güter mit jeweils neuartigen und daher in der Nachfrage höchst unberechenbaren kulturellen Qualitäten im Aufmerksamkeitswettbewerb um ein notwendig begrenztes Publikum buhlt, das seine Aufmerksamkeitsbereitschaften in hohem Maße ungleich verteilt. Zwischen den singulären Objekten – und den mit ihnen verbunden Organisationen oder Individuen – auf den kulturellen Märkten, die die Art von nobody-knows-Märkten mit extremer Ungewissheit annehmen, herrscht folglich ein ausgesprochen heftiger Kampf um Sichtbarkeit.

Was sind nun die Strukturmerkmale der Sichtbarkeitsordnung der kompetitiven Singularitäten im Unterschied zur klassisch-rationalistischen Foucault‘schen Sichtbarkeitsordnung der Disziplinierung? Ich fasse sie wiederum thesenartig zusammen:

1. In der neuen Sichtbarkeitsordnung ist das Verhältnis zwischen Beobachtern und Beobachteten prinzipiell nicht mehr asymmetrisch, sondern symmetrisch: Im Prinzip kann jeder Beobachter, kann jeder Publikum sein – und im Prinzip kann jeder auch zum Beobachteten werden. Die beiden Subjektpositionen sind für den Einzelnen daher prinzipiell austauschbar: Abwechselnd kann er zum Subjekt oder Objekt von Aufmerksamkeit avancieren. Der Beobachterstatus kommt hier nicht privilegierten Institutionen zu, sondern ist ein generalisierter innerhalb der mobilen Öffentlichkeit. Die prinzipiell universale Struktur der Beobachtung ist in ihrer faktischen Ausformung jedoch in hohem Maße unberechenbar. Kennzeichnend ist die Dynamik eines aufmerksamkeitsökonomischen Wettbewerbs der Beobachteten um die Gunst des Publikums. Er führt zu höchst ungleichen Positionen zwischen den wenigen mit erhöhter und jenen vielen mit verminderter Sichtbarkeit. Diese Aufmerksamkeitsasymmetrien, die Gewinner und Verlierer schaffen, lassen sich auch quantitativ etwa in Form von Rankings abbilden.

2. Der Wettbewerb um überregionale Sichtbarkeit – ob nun in einem begrenzten professionellen Kontext, einem beruflich-privaten Freundschaftsnetzwerk oder in einer populären nationalen oder gar internationalen Arena – ist das grundsätzlich Neue: Die Subjekte in der Disziplinargesellschaft wurden in jeweils begrenzten Lokalitäten jedes für sich zur Sichtbarkeit gezwungen, im Kulturalisierungskomplex findet hingegen eine aktive, gewollte Konkurrenz um Aufmerksamkeit statt: Das Subjekt begehrt, gesehen zu werden. Dieses Begehren setzt sich entsprechend in einen permanenten Vergleich der Beobachteten untereinander um. Verglichen werden freilich nicht mehr die sachlichen Leistungen vor dem Hintergrund eines fixen Maßstabs des Richtigen, sondern der Erfolg auf dem Aufmerksamkeitsmarkt. In einem zweiten Schritt kann dieses Begehren nach Sichtbarkeit sich damit in den sozialen Zwang verwandeln, gefälligst 'präsent' zu sein, um nicht soziale Nachteile beruflicher oder privater Art zu riskieren.

3. Das, was sich dem Blick des anderen bewusst und begierig aussetzt, sind nicht mehr die Details körperlichen Verhaltens wie im Disziplinarregime; Das Objekt der Sichtbarkeitsordnung ist vielmehr das laufend aktualisierte 'Profil' des Subjekts und seine immer wieder neuen kulturellen Produkte, die von der Welt oder von sich selbst handeln: die news auf den Facebook-Accounts, Blogs oder Tweets, Youtube-Videos, aber auch beruflich relevante Texte oder andere Arbeiten, Dokumentationen, soziales Engagement, Links oder Fotos, die für einen wichtig sind oder als wichtig wahrgenommen werden sollen. Was beobachtet wird, ist also nicht nacktes Verhalten, sondern eine Selbstinszenierung, die sich aus kulturellen Artefakten zusammensetzt, die 'etwas über das Subjekt aussagen'.

4. Wenn das Ziel des disziplinären Blicks darin bestand, schematisiertes, gleichförmiges Verhalten hervorzubringen, so ist der – subjektive oder institutionelle – Blick der kompetitiven Aufmerksamkeitskultur auf der Suche nach dem Singulären. Interessant ist nur, was singulär ist, das heißt was unvergleichlich, anders, kreativ oder originell scheint: Dies gilt für Objekte wie die Artefakte der kulturellen Märkte ebenso wie für die Subjekte, die sich präsentieren. Nur wer in seiner Singularität den Beobachter zu affizieren vermag, hat eine Chance, in den Scheinwerfer der Sichtbarkeit zu geraten.

5. Während die Affektstruktur der Disziplinargesellschaft eine der negativen Affekte der Angst, der Schuld und des erwarteten physischen Schmerzes war, basiert die Sichtbarkeitsordnung der kompetitiven Singularitäten zunächst auf intensiven positiven, anziehenden Affekten: Das schauende Subjekt begibt sich auf die Suche nach Reizen und Erlebnissen, das angeschaute Subjekt wird von dem Verlangen nach Anerkennung und Bewunderung angetrieben. Allerdings können die notwendig ungleichen Resultate der Aufmerksamkeitsökonomie hier zugleich eine komplizierte Struktur negativer Affekte installieren, vor allem von Aggression und Wertlosigkeitsgefühlen angesichts einer als mangelhaft wahrgenommenen eigenen Sichtbarkeit und als maßlos empfundener Aufmerksamkeiten für andere. Die Eskalation von hate speech in den social media lässt sich nicht zuletzt als eine Reaktion der sichtbarkeitsökonomisch zu kurz Gekommenen gegenüber der sichtbarkeitsökonomischen Prominenz interpretieren.

Die Sichtbarkeitsordnung der kompetitiven Singularitäten, die sich in den letzten Jahrzehnten herauskristallisiert, hat damit die panoptistische Sichtbarkeitsordnung zwar nicht vollständig abgelöst, doch bildet sie mittlerweile eine großflächige eigene Struktur, in der sich die Überlagerung des gesellschaftlichen Rationalisierungs- durch einen Kulturalisierungskomplex manifestiert. Der Unterschied zwischen beiden ist erheblich: Das Subjekt, das in die Sichtbarkeit gezerrt wird, steht jenem gegenüber, das begehrt, gesehen zu werden; die Schematisierung des Subjekts kontrastiert mit der Arbeit an der Singularität. Der Leistungsmessung steht die Erfolgsökonomie der Aufmerksamkeit gegenüber, der im Kern negativen, abschreckenden die im Kern positive, hervorlockende Affektstruktur. Allerdings sind mit dieser Gegenüberstellung die historisch bisher möglichen Sichtbarkeitsordnungen keineswegs erschöpft. Eine dritte Konstellation will ich abschließend andeuten: die Politisierung der Sichtbarkeit. Politisierungen von Sichtbarkeit bilden keinen machtvollen und großflächigen Komplex, der mit dem Panoptismus oder den kompetitiven Singularitäten wetteifern könnte. Eher handelt es sich um eine temporäre Herausforderung beider genannter Sichtbarkeitsregime, die als eine Art gelegentliches Störfeuer agiert.

Wo Sichtbarkeit politisiert wird, werden die Grenzen zwischen bisher Sichtbarem und Unsichtbarem öffentlich thematisiert. Ein Kampf um die Sichtbarkeit von Kollektiven entsteht, gewissermaßen um eine strittige 'Aufteilung des Sinnlichen' (Jacques Rancière). Regelmäßig sind es gesellschaftliche Minderheiten, die diesen Kampf führen, weshalb die amerikanische Bürgerrechtsbewegung der Schwarzen in den 1950er- und 60er-Jahren – die 1947 durch Ralph Ellisons bezeichnend Invisible Man überschriebenen Roman munitioniert wurde – als prominentes historisches Beispiel für eine Sichtbarkeitspolitisierung gelten kann. Noch aufschlussreicher für die Politisierung der Sichtbarkeit ist die internationale Schwulen- und Lesbenbewegung, die nach den „Stonewall Riots“ 1969 einsetzt. Aufschlussreich ist diese soziale Bewegung deshalb, weil sich im Laufe des 20. Jahrhunderts eine komplette Umkehrung der Strategien im Umgang mit Aufmerksamkeit beobachten lässt. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts sind männliche Homosexuelle in erheblichem Maße einem disziplinären, in mancher Hinsicht auch biopolitischen Blick ausgesetzt: Sie werden mit dem Ziel der Bestrafung des abweichenden sexuellen Verhaltens – durch staatliche Kontrolle, aber auch in den Massenmedien – in die Sichtbarkeit gezerrt was eine ganze Reihe öffentlicher Outing-Skandale in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts bezeugt. Auf den disziplinären Blick reagiert die Minderheit zunächst mit der Diskretionstrategie, möglichst unsichtbar zu bleiben. Seit den 1970er-Jahren wird diese Strategie jedoch komplett umgekehrt: Nun geht es darum, über öffentliche Demonstrationen, aber auch vermittels der Medien offensiv wahrgenommen zu werden. Dieser Kampf um Sichtbarkeit existiert wiederum in zwei Versionen: eine, die auf Differenz, die andere, die auf Gleichheit setzt. Während in den 1970er-Jahren öffentlich vor allem das Anderssein demonstriert wurde, geht es im Rahmen der Bewegung um die Eheöffnung für gleichgeschlechtliche Paare seit den 1990er-Jahren zunehmend darum, offensiv die Gleichheit aller Subjekte – der Mehrheit wie der Minderheit – zu markieren, um so Gleichberechtigung zu erlangen, ganz ähnlich wie bei der schwarzen Bürgerrechtsbewegung.

Die Politisierung der Sichtbarkeit als dritte Sichtbarkeitsordnung hat damit eine eigenständige Struktur, die sich sowohl vom disziplinären Blick als auch von der Ordnung kompetitiver Singularitäten unterscheidet. Der Ausgangspunkt ist nun eine gesellschaftliche Asymmetrie der Aufmerksamkeit, die überwunden werden soll. Da die Unsichtbarkeit einer Gruppe gleichbedeutend mit mangelhafter gesellschaftlicher Anerkennung ist, gilt es mit Hilfe politischer Visibilisierungsstrategien Aufmerksamkeit zu gewinnen. So wie in der Konstellation der kompetitiven Singularitäten führt auch die Politisierung von Sichtbarkeiten einen Kampf um Aufmerksamkeit. Beiden ist im Kontrast zum Disziplinarregime gemeinsam, dass Unsichtbarkeit das Problem und der Wunsch nach Sichtbarkeit die Lösung ist. Es ist deswegen auch kein Zufall, dass sich beide Regime nicht zuletzt im gleichen massenmedialen Rahmen abspielen. Doch hat der Kampf im Falle der Politisierung eine signifikant andere Struktur: Von Seiten derjenigen, die sichtbar werden wollen, geht es nicht um das Wahrnehmen von spektakulärer Singularität des Einzelnen, sondern von Gleichheit. Dabei hat Gleichheit einen doppelten Sinn: Die Gleichheit innerhalb eines Kollektiv – in dem eben alle schwarz oder alle schwul beziehungsweise lesbisch sind – soll ebenso sichtbar werden wie eine extra-minoritäre, geforderte Gleichheit, das heißt die Gleichberechtigung gegenüber der Mehrheitsgesellschaft. Während sich das Individuum in der Ordnung der kompetitiven Singularität immer als singulär präsentiert, als anders, um in den Genuss der gesuchten Aufmerksamkeit zu kommen, geht es nun darum, als sichtbar werdendes Kollektiv auf eine gemeinsame Lebenssituation aufmerksam zu machen. Sichtbarkeit ist in diesem Kontext kein eigenständiges Kriterium sozialen Erfolges, sondern Mittel zum (politischen) Zweck. Paradoxerweise zielt die Sichtbarmachung nun nicht darauf ab, sich vom Gleichen durch eine Differenz abzuheben, sondern umgekehrt darauf, das in der Mehrheitskultur als different wahrgenommene als gleichartig zu demonstrieren. Die Affektstruktur ist regelmäßig mit einer unberechenbaren Heterogenität moralischer Art aufgeladen, in der Gefühle der ungerechten gesellschaftlichen Diskriminierung, moralische Ablehnung des Abweichenden und Solidarisierung eine explosive Gemengelange bilden. Die Politisierung von Sichtbarkeiten, die gegenwärtig an vielen Orten bedeutsam geworden ist und bei der es um derart unterschiedliche Gruppen wie Transgender-Personen, Depressive oder Flüchtlinge gehen kann, nutzt gewissermaßen die gleiche mediale Hardware wie die Ordnung kompetitiver Singularitäten, sie bespielt sie jedoch anders – und teilweise vermischt sie sich auch mit ihr. Denn natürlich: Die politische Sichtbarkeit von bisher unsichtbaren Kollektiven konkurriert mit der Vielzahl der kompetitiven Singularitäten um die gleich knappe Ressource öffentlicher Aufmerksamkeit.

Somit ergibt sich in der Gegenwartsgesellschaft eine komplexe Gemengelage von Sichtbarkeitsordnungen, die weit über das disziplinäre Blickregime hinausgeht, das Foucault für das 18. Jahrhundert im Auge hatte. Die historisch folgenreiche Überlagerung des klassischen Dispositivs der Rationalisierung und Disziplinierung durch jenes der Kulturalisierung und Singularisierung hat zur Entstehung einer – medientechnologisch wie ökonomisch gestützten – Sichtbarkeitsordnung kompetitiver Singularitäten geführt, die immer wieder durch eine Politisierung der Sichtbarkeit herausgefordert wird. War Sichtbarkeit zunächst erzwungen und wurde notfalls gegen den Willen der Individuen auch gewaltsam durchgesetzt, so wird sie jetzt von den Individuen begehrt. Zugleich ist sie auf komplizierte Weise und indirekt aber auch wieder erzwungen: Zwar wird man nicht mehr in die Sichtbarkeit selbst gedrängt, jedoch zu einer Strategie genötigt, nach Sichtbarkeit zu streben, um als Individuum respektive als Kollektiv sozial existieren zu können. Das alte Ideal, sich dem aufdringlichen, permanenten Blick würdevoll zu entziehen, kann vor diesem Hintergrund in der Spätmoderne nur blankes Unverständnis hervorrufen.

  1. Der vorliegende Aufsatz ist die überarbeitete Fassung eines Vortrags auf der Konferenz „Die Machtanalyse nach Foucault. Vierzig Jahre ,Überwachen und Strafen’“, Institut für Wissenschaft und Kunst Wien, 18.–20. Juni 2015.
  2. Andreas Reckwitz, Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung, Berlin 2012.
  3. Vgl. Jonathan Crary, Suspensions of Perception: Attention, Spectacle and Modern Culture, Cambridge, MA, 1999.
  4. Leo Braudy, The Frenzy of the Renown. Fame & its History, New York u.a. 1986.
  5. Lucien Karpik, L'économie des singularités, Paris 2007, deutsche Ausgabe: Mehr Wert. Die Ökonomie des Einzigartigen, übers. von Thomas Laugstien, Frankfurt am Main 2011.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Martin Bauer.

Kategorien: Politik Kultur

Andreas Reckwitz

Professor Dr. Andreas Reckwitz ist ist Professor für Allgemeine Soziologie und Kultursoziologie an der Humboldt-Universität zu Berlin.

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