Gérard Raulet | Interview |

Die unterschwellige Tradition der philosophischen Anthropologie

Fünf Fragen zur Rezeption Helmuth Plessners in Frankreich

Herr Raulet, Sie haben von der Stadt Wiesbaden den Helmuth-Plessner-Preis 2023 verliehen bekommen, unter anderem für Ihren Beitrag zur Rezeption von Helmuth Plessners philosophischer Anthropologie in Frankreich. Welche Rolle spielt Plessner in Ihrer eigenen intellektuellen Biografie?

Die Beschäftigung mit Plessner ist in meiner denkerischen Entwicklung kein Entschluss gewesen – so, als hätte ich eines Tages beschlossen, mich für Plessner zu interessieren oder gar mein Leben der Kenntnis seines Werks zu widmen. Ich formuliere es bewusst so unverwandt, weil meine Auseinandersetzung mit Plessners Werk gerade eine Art von ungekünstelter Denknotwendigkeit widerspiegelt. Auch Anfang der 2000er-Jahre, als ich mich im Rahmen eines mit Karl-Siegbert Rehberg durchgeführten Forschungsprogramms mit philosophischer Anthropologie intensiver zu befassen begann, fühlte ich mich zunächst zu Scheler hingezogen, dem ich im Laufe der Jahre und bis zuletzt Publikationen gewidmet habe. Im Falle Plessners ergab sich die Wahlverwandtschaft fast unversehens. Sie war aber umso fester verankert, da sie aus der unvorhergesehenen Begegnung mit Denkansätzen Plessners in meiner eigenen Forschung hervorging.

Der früheste Bezug auf Plessner in meiner Forschung geht wohl auf Überlegungen über den Wandel der Sozialisationsproblematik zurück, genauer gesagt: die Brüche im republikanischen Vertrag und die Erscheinung von neokommunitaristischen Strömungen, mit welchen ich mich wie viele Sozial- und Politikwissenschaftler um die Mitte der 1990er-Jahre zu beschäftigen begann. Plessner unterscheidet nämlich zwischen intimen Gemeinschaften, die auf Liebe und Blutverwandtschaft basieren, und intellektuellen Solidargemeinschaften, die auf eine gemeinsame Sache gerichtet sind. An diesem Modell gemessen haben wir es heute offensichtlich mit Zwitterformen zu tun: Die neuen „Stämme“, die sich abseits der traditionellen Öffentlichkeit bilden, sind keine auf Blutverwandtschaft beruhenden Gemeinschaften, sondern eher „Gemeinschaften der Sache“, die sich aber von unten konstituieren, stark emotional besetzt sind und sich nach außen abschotten. Sie beruhen in erster Linie auf dem Wunsch, gemeinsame Lebenspraktiken zu teilen, und setzen sich zum Ziel, um jeden Preis einen Unterschied, eine Differenz zu behaupten. Natürlich beschränkt sich meine Rezeption von Plessner nicht auf diesen Aspekt. Dennoch bildete er sozusagen den Auslöser fast aller anderen Anknüpfungspunkte, vor allem derjenigen, die sich mit ästhetischen Fragestellungen beschäftigen.

In dem von Ihnen verfassten Band Das kritische Potential der philosophischen Anthropologie[1] von 2020 ist ein Kapitel Helmuth Plessners Die Stufen des Organischen gewidmet, ein anderes bringt ihn in Dialog mit dem Soziologen Richard Sennett. Wieso ist Plessner heute interessant?

Das Buchkapitel über Die Stufen des Organischen – und genauer über die beiden Vorworte zur ersten und zweiten Auflage – ist ein rein philologischer Beitrag, dessen Bedeutung darin besteht, einen exemplarischen Fall philosophischer Diskursstrategie darzustellen. Sehr offensiv verteidigt Plessner darin die Originalität („Eigenwüchsigkeit“, wie er sagt) seines Werks im Brennpunkt eines Wettbewerbs der Disziplinen und Strömungen. Ich habe in der Einleitung zu einem Band der Reihe „Philosophische Anthropologie“, die ich mit Kollegen herausgebe, von einer „Konkurrenz der Paradigmata“ gesprochen. Indem Plessner sich ausdrücklich in Bezug auf konkurrierende Theorieansätze positioniert, enthalten die beiden Vorworte die Schlüssel zum Programm der philosophischen Anthropologie – auf eine Weise, die nicht einfach so „vorliegt“, sondern als strategischer Kampf im wissenschaftlichen Feld errungen wird. Dabei geht es für mich um die Art und Weise, wie man philosophische Ideengeschichtsschreibung betreibt.

Das andere Kapitel, das Anknüpfungspunkte zwischen Plessner und Sennett beleuchtet, spiegelt genau das komplementäre Extrem zu dieser Auffassung der Ideengeschichte als diskursive Praxis wider. Es beschäftigt sich mit dem kritischen Potential konvergierender Diagnosen über den Wandel der Gesellschaftlichkeit beim Übergang zur sogenannten Postmoderne. Dazu zählen neben dem soziologischen Beitrag der philosophischen Anthropologie Plessners nicht nur die epochemachende Studie des Kulturphilosophen Richard Sennett, sondern auch Reflexionen über die Postmoderne wie diejenigen von Jean Baudrillard, die ich mich in den 1980er- bis 1990er-Jahren in die deutsche Debatte einzuführen bemüht habe. Inzwischen hat sich der Sturm gelegt, sodass, wie es scheint, der damalige Streit über Postmoderne bzw. Poststrukturalismus sich geradezu in einen selbstverständlichen Hintergrund sozialwissenschaftlicher Diskurse verwandelt hat – worüber diejenigen, die hart dafür gekämpft haben, sich nur freuen können. Nun hat gerade der Kontext der neuen Produktions- und Verbreitungsbedingungen des Wissens – ich meine die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien – auf französischer Seite den Blick geschärft für expressive Phänomene, die in den dominierenden sozialwissenschaftlichen Theorien wegen der Fokussierung auf das Paar Performativität/Normativität oder aber auf das Konzept der Anerkennung weitgehend ignoriert werden. Die Expressivität, die hingegen im Zentrum von Plessners Ansatz steht, wird in den Sozialwissenschaften und in der politischen Theorie weiterhin unterschätzt. Ihr zur „Anerkennung“ zu verhelfen, darum geht es in meinem Buch Das kritische Potential der philosophischen Anthropologie. In einem kurz zuvor erschienenen Buch habe ich unter dem Titel Politik des Ornaments den Wandel der politischen Repräsentation untersucht.[2] Dabei bin ich auch der Frage nachgegangen, welche Folgen es für die Bildung politischer Öffentlichkeit hat, wenn expressive Diskurs- und Kommunikationsformen überhandnehmen.

Von Helmuth Plessners zahlreichen Monografien wurden nur zwei ins Französische übersetzt, Lachen und Weinen (1941) und eben Die Stufen des Organischen und der Mensch (1928) und das im Jahr 1995, beziehungsweise 2017. Wie lässt sich die geringe und späte publizistische Übermittlung von Plessners Werk in Frankreich erklären?

Dass Lachen und Weinen 1995 ohne – soviel ich weiß – irgendeinen systematischen Hintergedanken den Auftakt zur französischen Rezeption gebildet hat, kann man im Rückblick als einen glücklichen Zufall betrachten. Das Anliegen der Studie entspricht ja dem Kern von Plessners Ansatz: der soeben angesprochenen Expressivität. Darüber sind sich die meisten Interpreten einig. Trotz des Vorworts des Linguisten und Sprachphilosophen Harald Weinrich stieß die Publikation in Frankreich aber deshalb auf wenig Resonanz, weil sie auf völlig fremdem Boden erschien und ihr keine nennenswerte theoretische Vorarbeit vorangegangen war. Bestenfalls nahmen versierte Wissenschaftler wahr, dass sie sich in eine Linie einschreiben ließ, die Merleau-Ponty mit seinem Begriff des Leibs (corps propre) initiiert hatte, zumal er den Menschen als Lebewesen gerade durch dessen Immanenz in der Leiblichkeit definiert hatte. Von einer Begegnung in politischer Hinsicht war noch weniger die Rede. Die intellektuelle französische Landschaft war immer noch beherrscht von einem allgemeinen Trend, der im Namen des Strukturalismus eine Rationalisierung hoch zwei anstrebte: Vorrang strukturierender Regelhaftigkeiten des Sozialen (Mauss, Lévi-Strauss), Bruch mit der Spontaneität der alltäglichen Erfahrung (Althusser), historisierende Relektüre des biologischen Paradigmas als episteme (Foucault). Der Anschluss an die andere, antirationalistische oder – genauer gesagt – alternativ eingestellte Linie, die aus der geistigen Konjunktur von 1968 hervorgegangen war und den Nerv des sogenannten Poststrukturalismus bildete, fand erst später statt. Dafür war es 1995 offensichtlich noch zu früh, oder schon zu spät. Denn die philosophische Anthropologie wurde – sieht man von ihrer stärker phänomenologischen Variante bei Scheler ab – zu einem Zeitpunkt nach Frankreich importiert, als das Charisma der poststrukturalistischen Denkergeneration schon verblasste.

Spielte die philosophische Anthropologie Plessners im Laufe des 20. Jahrhunderts in den französischen Geisteswissenschaften eine nennenswerte Rolle? Von welchen Denkern wurde seine Arbeit diskutiert, in welchem Kontext?

Wenn überhaupt, und obwohl Foucault Plessner nirgendwo explizit erwähnt, so lassen sich bei ihm immerhin Ansatzpunkte für einen Dialog finden, und zwar nicht nur in seinem Spätwerk, sondern grundsätzlich im Hinblick auf eine Anthropologie, die in Sachen Mensch, Subjekt, Identität negativ ansetzt und dennoch die Realisierung des Selbst (Plessner spricht eher von der Person) anstrebt. Außerdem habe ich versucht plausibel zu machen, dass die philosophische Anthropologie eine unterschwellige Tradition in den französischen Sozialwissenschaften bildet.[3] Diese unterschwellige Strömung lässt sich rekonstruieren durch eine Vergegenwärtigung nicht nur der Philosophie Bergsons und ihres unmittelbaren Einflusses, sondern auch durch die strategische Mobilisierung von Bergson in den intellektuellen Auseinandersetzungen bis in die bereits erwähnten 1980er- und 1990er-Jahre – unter anderem bei Gilles Deleuze, der zugleich zur Rezeption von Gabriel Tarde maßgeblich beigetragen hat. Bei der Begründung der französischen Soziologie stellte Tarde neben Durkheim, beziehungsweise im Gegensatz zu dessen Rationalismus eine alternative Linie dar, die eben erst in den 1990er-Jahren zu voller Geltung gelangte, in Deutschland aber schon in den 1930er-Jahren auf Interesse gestoßen war.

Da auf französischer Seite nicht von expliziten Bezügen ausgegangen werden kann, muss der Dialog sowieso – wie auch deutscherseits im Falle einer Konfrontation von Adorno und Plessner[4]ex negativo erfolgen. Es geht nicht um die Vermittlung eines dogmatischen Gehalts, sondern darum, kritische Ansatzpunkte zu erkennen. Zugleich bedeutet dieser negative Ansatz eine von vornherein kritische Einstellung gegenüber tradierten metaphysischen oder ideologischen Selbstverständlichkeiten.

2022 wurde die von der Historikerin Carola Dietze verfasste Biografie Plessners[5] ins Französische übersetzt. War dies der Anlass für eine vertiefte Auseinandersetzung mit Plessners Werk?

Die Übersetzung von Carola Dietzes Plessner-Biographie, für die ich mich als Herausgeber der Reihe Philia engagierte, war ein Editionsabenteuer, das nur durch ein hartnäckiges Ringen um Subventionen und dank des Einsatzes der MitarbeiterInnen meiner Forschungsgruppe gerettet werden konnte. Aus meiner Sicht war die Übersetzung ein editorischer Coup, um unsere jahrelange Beschäftigung mit philosophischer Anthropologie, die hauptsächlich auf Deutsch stattgefunden hatte, auch in der französischen intellektuellen Landschaft sichtbar zu machen und dadurch die dortige Rezeption Plessners zu unterstützen.

Die Publikation von Carola Dietzes Buch auf Französisch hat sich als ein entscheidender Impuls erwiesen, der inzwischen auch genutzt werden konnte, um einen Überblick über zerstreute Initiativen zu gewinnen und diese möglichst auf Koordination einzuschwören. Insofern hat sie jenseits aller finanziellen Sorgen, die sie mit sich brachte, ihr Ziel erreicht.

  1. Gérard Raulet, Das kritische Potenzial der philologischen Anthropologie. Studien zum historischen und aktuellen Kontext, Nordhausen 2020.
  2. Gérard Raulet, Politik des Ornaments, Münster 2021.
  3. Ich verweise diesbezüglich auf das Kapitel »Philosophische Anthropologie ‒ auch eine französische Wissenschaft?« im Sammelband: Gérard Raulet / Guillaume Plas (Hg.), Philosophische Anthropologie nach 1945, Nordhausen 2014, S. 367–390.
  4. Vgl. das kürzlich erschienene Buch von Sebastian Edinger, Negative Anthropologie bei Plessner und Adorno: Theoretische Grundlagen – Geschichtsphilosophie – Moderne-Kritik (= Sonderband der Deutschen Zeitschrift für Philosophie), Berlin / Boston 2022.
  5. Carola Dietze, Nachgeholtes Leben. Helmuth Plessner 1892–1985, Göttingen 2006.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Nikolas Kill.

Kategorien: Anthropologie / Ethnologie Geschichte der Sozialwissenschaften Gesellschaftstheorie Kommunikation Moderne / Postmoderne Öffentlichkeit Politische Theorie und Ideengeschichte

Gérard Raulet

Prof. Dr. Gérard Raulet ist emeritierter Professor an der Universität Paris-Sorbonne (Sorbonne Université). Von 1999 bis 2003 war er Direktor des Forschungszentrums „Zeitgenössische politische Philosophie“ am Centre National de la Recherche Scientifique und an der Ecole Normale Supérieure de Lettres et Sciences humaines. Zuletzt erschienene Bücher: Das kritische Potential der philosophischen Anthropologie. Studien zum historischen und aktuellen Kontext (2020); Politik des Ornaments (2020).

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