René Lehweß-Litzmann, Knut Tullius | Rezension |

Digitalisierung: Gestaltungsfeld statt Schreckgespenst

Rezension zu „Disruption der Arbeit? Zu den Folgen der Digitalisierung im Dienstleistungssektor“ von Johanna Muckenhuber, Martin Griesbacher, Josef Hödl, Laura Zilian (Hg.)

von Johanna Muckenhuber, Martin Griesbacher, Josef Hödl, Laura Zilian (Hg.):
Disruption der Arbeit? Zu den Folgen der Digitalisierung im Dienstleistungssektor
Deutschland
Frankfurt / New York 2021: Campus
255 S., EUR 27,99
ISBN 9783593446882

Der vorliegende Sammelband reiht sich in jüngere Publikationen ein, die im Zusammenhang mit neueren Entwicklungen der „Digitalisierung“ stehende Veränderungen von Arbeit bündeln und zur Diskussion stellen.[1] Die 15 im Buch versammelten Texte sind Beiträge, die anlässlich einer interdisziplinären Tagung zum Thema „Folgen der Digitalisierung im Dienstleistungssektor“ im Jahr 2019 in Graz entstanden sind (S. 16). Wohl auch aus diesem Entstehungskontext heraus erklärt sich der spürbare „Österreich-Fokus“ nicht nur hinsichtlich der Autor:innen, sondern auch in Bezug auf die Inhalte zumindest einiger Beiträge. Das ist selbstverständlich kein Mangel, eröffnen sich so doch interessante Perspektiven auf den Digitalisierungsdiskurs „südlich der Alpen“.

Um das vorweg zu nehmen: Die konzise Fragestellung, die im Buchtitel „Disruption der Arbeit?“ zum Ausdruck kommt, wird vom Großteil der Beiträge – wenn auch eher implizit – abschlägig beantwortet: Formen von „Disruption“ – in der knappen Einleitung leider begrifflich ebenso wenig entwickelt wie „Digitalisierung“ – lassen sich in den im Band diskutierten Phänomenen kaum erkennen.

Die Herausgeber:innen gruppieren die Beiträge in vier Blöcke – „Digitalisierung im Überblick“, „Neue Kompetenzanforderungen am Arbeitsmarkt“, „Spezielle Herausforderungen der Digitalisierung“ und „Felder der Digitalisierung“. Es fällt auf, dass die einzelnen Texte weder innerhalb der jeweiligen Abschnitte noch gar übergreifend in irgendeiner Weise aufeinander Bezug nehmen, obwohl es sich an verschiedenen Stellen angeboten hätte. Jedoch eint die meisten Verfasser:innen erkennbar die (politische) Perspektive, mögliche Probleme im Zusammenhang mit „der“ Digitalisierung vor allem aus Sicht und im Interesse der (abhängig) Beschäftigten, insbesondere in Bezug auf deren Partizipation an Digitalisierungsprozessen, zu diskutieren. Einige Beiträge seien im Folgenden herausgegriffen.

Der in Deutschland forschende Ökonom Enzo Weber diskutiert in seinem überblicksartig angelegten Beitrag die zu erwartenden Auswirkungen der Digitalisierung sowohl auf den Arbeitsmarkt als auch auf die Lohnarbeitsgesellschaft. Der Autor wendet sich gegen ein Schreckensszenario des Verschwindens von Arbeit durch die Digitalisierung, prognostiziert aber tiefgreifende Veränderungen im Beschäftigungssystem. Weber vertritt die Ansicht, dass viele der bestehenden Arbeitsplätze im Zuge der Digitalisierung ersetzt werden (da die Produktivität in den betreffenden Bereichen steigt), gleichzeitig aber in ähnlichem Umfang neue Beschäftigungsmöglichkeiten geschaffen werden (weil die Digitalisierung neue Produkte und Dienstleistungen hervorbringt). Allerdings könnte die Dynamik im Arbeitsmarkt stärker werden, etwa durch mehr Zeitdruck und höhere Flexibilitätserfordernisse, aber auch vielfältigere, das heißt bereichernde Aufgabenprofile, die mit einer Verschiebung hin zu hochqualifizierten Tätigkeiten einhergeht. Aus einer globalen Perspektive argumentiert Weber, dass Roboterisierung sich in den Schwellenländern stärker und negativer auswirken könnte als in entwickelten Ländern (S. 25 f. und 30). Der Grund: Schwellenländer verlören Teile ihrer Produktion, die, weil von Maschinen übernommen, nun in entwickelten Ländern wieder rentabel werde; gleichzeitig könnten auch Teile der in Schwellenländern verbleibenden, einfachen Tätigkeiten von Robotern erledigt werden. Aber auch in Schwellenländern werden neue Arbeitsplätze geschaffen.

Irene Mandl, Leiterin der Abteilung Beschäftigung bei der in Irland ansässigen EU-Institution Eurofound, vertieft in ihrem Beitrag das Thema Plattformarbeit und hebt die Heterogenität innerhalb dieses Bereichs hervor. Plattformarbeit gäbe es in Europa seit etwa 10 Jahren, derzeit sei sie noch ein marginales, jedoch immer häufigeres Phänomen. Diese Form von Arbeit kennzeichnet sich durch die Intermediation zwischen Dienstleistungserbringer:innen und -nehmer:innen durch eine Online-Plattform, die bei der Zuweisung beider Parteien zueinander (sogenanntes „matching“) Algorithmen einsetzt (S. 134). Kern von Mandls Beitrag ist die Annäherung an eine Typologie, die unterschiedliche Plattformen etwa nach der Frage kategorisiert, wer Arbeitsaufgaben zuweist und wo die Arbeit ausgeführt wird. Derartige Unterschiede korrelieren stark mit der Zusammensetzung der Beschäftigten, die auf der jeweiligen Plattform aktiv sind. Auch die Arbeitsbedingungen unterscheiden sich je nach Plattform-Typ stark, insbesondere hinsichtlich der Vorhersehbarkeit von Aufgaben und Bezahlung (S. 142). Aufgrund dieser Heterogenität empfiehlt sich, so die Autorin, eine differenzierte politische Regulierung von Plattformarbeit. Etwa könnten die Beschäftigten bestimmter Typen von Plattformen automatisch als abhängig Beschäftigte eingestuft werden, um einen entsprechenden sozialen Schutz zu erhalten, während die Beschäftigten bei anderen Plattformtypen durchaus weiter als Selbstständige gelten könnten. Die vorrangig auf negative Auswirkungen fokussierte Rezeption von Plattformarbeit ist aus Sicht der Autorin nicht durchweg gerechtfertigt, stehen den Risiken doch auch Arbeitsmarktpotenziale gegenüber, die zum Teil sogar eine politische Förderung von Plattformarbeit sinnvoll machen können.

Der Grazer Jurist Günther Löschnigg bietet einen Einblick in die arbeitsrechtliche Fachdebatte in Österreich mit Blick auf „Plattform-“ oder „Crowd-Work“ als „typische(n) neue(n) Arbeitsformen“ (S. 32). Bei diesen liefen etablierte juristische Termini (insbesondere der Begriff des Arbeitnehmers wie auch der Arbeitgeberin) ins Leere und es fehle bis dato in Österreich an klärender höchstrichterlicher Rechtsprechung. Löschnigg sucht sodann nach Hinweisen zur Übertragbarkeit bereits existierender, sowohl individual- wie kollektivrechtlicher Normen etwa zur Arbeitnehmerüberlassung, Scheinselbständigkeit oder auch zu Regelungen der „Betriebsverfassung“ für neuartige Beschäftigungsverhältnisse. Er wird diesbezüglich nur teilweise fündig, etwa in neueren kollektivvertraglichen Regelungen (S. 39). Es zeige sich, dass Beschäftigungsverhältnisse, wie etwa das eines Fahrradkuriers, einer Essenslieferantin oder eines „Uber“-Fahrers mit erheblichen Risiken für die Beschäftigten verbunden und in rechtlicher Hinsicht dringend angemessen zu regulieren seien. Für Leser:innen wäre es hier durchaus interessant gewesen, die Sicht des Arbeitsrechtlers Löschnigg auf die bei Mandl vorgestellte Plattformtypologie zu erfahren.

Der Finanzwissenschaftler Richard Sturn thematisiert in seinem anregenden Beitrag den scheinbaren Widerspruch zweier, in der Digitalisierung liegender (je nach Perspektive) utopischer oder dystopischer Versprechungen: Einerseits sieht er in der Tendenz zur (technologischen) „Freisetzung“ menschlicher Arbeit durch Roboter oder Ähnlichem einen „Bedeutungsverlust von Markt und Vertrag“ (S. 102, Hervorh. im Original) bei der Allokation von Arbeitskraft. Andererseits erkennt er eine zunehmende Verbreitung von „Smart Contracts“ und neuartigen „Kontrakttechnologien“ (S. 106), wodurch es zu einem „Bedeutungsgewinn von Marktmechanismen“ (S. 102) komme. Was aus Sicht libertärer Apologeten solcher ‚reinen‘ (Markt-)Kontrakte höchst wünschenswert sei (würden damit doch vorgeblich kostspielige Intermediäre eingespart), erweise sich aus individueller wie gesellschaftlicher Sicht indes als höchst riskant. Durch diese Kontrakte beziehungsweise Kontrakttechnologien würden schließlich bestehende, gerade auch dem Schutz von Beschäftigten etwa vor ausbeuterischen „Tauschverhältnissen“ dienende „Einbettungen (Normen, Institutionen, informelle Hintergrundbedingungen)“ (S. 102) gewissermaßen ausgehebelt oder umgangen. Sturn plädiert für eine „emanzipatorische Digitalisierung“ (S. 103), bei der es insbesondere darum ginge, die Beschäftigten zu „aktive(n), mitbestimmende(n) Akteure(n) in einem digitalisierten Arbeitsumfeld“ zu befähigen (S. 115). Etwas voluntaristisch erscheint uns Sturns These, dass sich mit einem Mehr an „Wirtschaftsdemokratie“ innerhalb von Betrieben auch zunehmenden anti-demokratischen Tendenzen und wachsender Politikskepsis auf Seiten der Beschäftigten begegnen ließe (S. 116).

Der Überblicksbeitrag der Arbeits- und Organisationspsychologin Bettina Kubicek befasst sich mit der Frage, ob und inwieweit interpersonales Vertrauen (eine Grundkategorie sozialen Handelns) auch auf die Beziehungen zwischen Menschen und Robotern übertragbar sei und „welche Faktoren zu Vertrauen in der Mensch-Roboter-Beziehung beitragen“ (S. 124). Würden Robotersysteme richtig gestaltet, seien „vertrauenswürdige“ Mensch-Roboter-Kollaborationen möglich, die es erlaubten, vom Robotereinsatz zu profitieren und zugleich die menschlichen Nutzer:innen zu schützen (S. 130). Der Beitrag bietet interessante Anknüpfungspunkte an die gegenwärtig an Fahrt aufnehmende Debatte um die Potenziale und Risiken Künstlicher Intelligenz und deren Vertrauenswürdigkeit. Hierbei dürfte man freilich mit einem Fokus auf „interpersonales“ Vertrauen nicht allzu weit kommen.

Der Sammelband bietet in der Gesamtschau durchaus interessante Einsichten in einige Problemlagen aktueller Digitalisierungsprozesse und mögliche Gestaltungs- wie Lösungsansätze in der arbeitsweltlichen Praxis. Bestehende Risiken werden thematisiert, wie etwa eine drohende regionale Polarisierung, die einerseits durch die Konzentration hochqualifizierter Arbeit in urbanen Zentren (siehe der Beitrag von Palan & Schober), andererseits durch Druck auf Wirtschaftsmodelle von Schwellenländern (siehe Weber) verursacht wird. Sowohl die Verstärkung bestehender sozioökonomischer Ungleichheiten durch Digitalisierung (siehe Zilian & Zilian) wird thematisiert wie auch die Notwendigkeit und Forderung, dass Institutionen sozialer Sicherung mit der Digitalisierung Schritt halten müssten (S. 27). Aber – wie Mandl es mit ihrem Beitragstitel „Nicht alles ist schlecht“ treffend auf den Punkt bringt – die Digitalisierung hält gerade für derzeit benachteiligte Gruppen womöglich Chancen bereit, die in den Beiträgen ebenso zur Sprache kommen. Eine dieser Chancen könnte, wie erwähnt, Plattformarbeit sein, stellt sie doch eine niedrigschwellige Möglichkeit zur Erwerbsbeteiligung dar, die zudem Diskriminierung entgegenwirken könnte.[2] Kreimer, Brudna & Eibinger argumentieren in ihrem Beitrag etwa, dass gerade Frauen von der Digitalisierung profitieren könnten, da sie in Bildungs-, Gesundheits- und sozialen Dienstleistungsberufen stark repräsentiert sind, in denen die Digitalisierung weniger zum Wegfall von Arbeitsplätzen, sondern eher zur Schaffung neuer Aufgaben (S. 159 f.) führe.

Redaktionell weist der Sammelband leider erhebliche Mängel auf, die beim Lesen durchaus störend sind. So finden sich etliche Tippfehler, gelegentlich gar unvollendete Sätze (etwa S. 79); Autor:innennamen und Titel weichen in einem Fall voneinander ab (Inhaltsverzeichnis vs. Titel im Band, vgl. Otrel-Cass & Lipp), aus Johanna wird Johann Muckenhuber (Kopfzeile, S. 180 ff.). Grafiken werden im Text als farbig beschrieben (etwa S. 21 f.), sind tatsächlich aber in schwarz-weiß gehalten und dementsprechend eher schwer zu interpretieren.

Inhaltlich ist dem Band – abseits der zum Teil durchaus interessanten und lesenswerten Einzelbeiträge – deutlich anzumerken, dass es sich um die publizistische Verwertung der auf einer Tagung gehaltenen Vorträge handelt. Das ist an sich nicht zu kritisieren. Jedoch fehlt eine die Beiträge inhaltlich zusammenhaltende Klammer, und es finden sich – wie angedeutet – keine Anzeichen dafür, dass die Autor:innen ihre Beiträge untereinander zur Kenntnis genommen hätten. Umso mehr wäre es Aufgabe der Herausgeber:innen gewesen, sich um eine inhaltliche Zusammenführung zu bemühen. Die Tatsache, dass Tagung und Sammelband sich explizit der Dienstleistungsarbeit verschrieben haben, ist angesichts des jahrelangen „Industrie-Bias“ im Feld der Arbeitssoziologie zumindest in der deutschsprachigen Debatte zu begrüßen, reicht als gemeinsame Klammer aber freilich nicht aus. Auffällig ist auch, dass die Herausgeber:innen gänzlich auf ein zusammenfassendes Schlusskapitel verzichten. Ein solches hätte Diskussionen, wie sie auf einer Tagung üblicherweise stattfinden, dokumentieren und darüber hinaus auch beitragsübergreifende Schlussfolgerungen formulieren können. Die Chance, auf diese Weise mehr aus dem vorliegenden Sammelband zu machen als die Summe seiner einzelnen Teile, wurde leider vertan.

  1. Vgl. etwa Klaus-Peter Buss / Martin Kuhlmann / Marliese Weißmann / Harald Wolf / Birgit Apitzsch (Hg.), Digitalisierung und Arbeit. Triebkräfte – Arbeitsfolgen – Regulierung, Frankfurt 2021; Hartmut Hirsch-Kreinsen, Digitale Transformation von Arbeit. Entwicklungstrends und Gestaltungsansätze, Stuttgart 2020; Phillip Staab / Lena J. Prediger, Digitalisierung und Polarisierung: eine Literatur­studie zu den Auswirkungen des digitalen Wandels auf Sozialstruktur und Betriebe, FGW-Studie Digitalisierung von Arbeit 19, Düsseldorf 2019.
  2. Unter der Bedingung, dass Matching-Algorithmen „neutral“ programmiert sind (S. 141), sie also keine Teilnehmer:innen aufgrund sachfremder Kriterien benachteiligen.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Stephanie Kappacher.

Kategorien: Arbeit / Industrie Care Digitalisierung Politik Technik Wirtschaft

René Lehweß-Litzmann

Dr. René Lehweß-Litzmann ist Senior Researcher am Soziologischen Forschungsinstitut Göttingen e.V. (SOFI). Er ist zudem assoziiertes Mitglied des Forschungsinstituts Gesellschaftlicher Zusammenhalt (FGZ). Seine Forschungsinteressen liegen im Grenzbereich zwischen Soziologie und Ökonomik. Derzeit leitet und bearbeitet er das Projekt „Gesellschaftlich notwendige Dienstleistungen sicherstellen: Ist Arbeit am Gemeinwohl attraktiv?” (GenDis).

Alle Artikel

Knut Tullius

Dr. Knut Tullius ist Senior Researcher am Soziologischen Forschungsinstitut Göttingen e.V. (SOFI). Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Wandel von Industrie- und Dienstleistungsarbeit sowie Arbeit und Subjekt. Gegenwärtig forscht er gemeinsam mit Harald Wolf und Berthold Vogel im Projekt „Mentalitäten des Umbruchs“.

Alle Artikel

PDF

Zur PDF-Datei dieses Artikels im Social Science Open Access Repository (SSOAR) der GESIS – Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften gelangen Sie hier.

Empfehlungen

Klara-Aylin Wenten

Von der Kraft, die es braucht, Widerstand zu leisten

Rezension zu „Die wunden Punkte von Google, Amazon, Deutsche Wohnen & Co.: Was tun gegen die Macht der Konzerne?“ von Nina Scholz

Artikel lesen

Berthold Vogel

Rettung ist keine Lösung

Rezension zu „Die Rettung der Arbeit. Ein politischer Aufruf“ von Lisa Herzog

Artikel lesen

Newsletter