Dossier

Der Partisan

Zum 50. Todestag von Georg Lukács, dem bis auf den heutigen Tag umstrittenen Gesellschafts-, Geschichts- und Literaturtheoretiker

„Der Mann, der auf unser Klingeln öffnete, war klein, hatte ein freundliches Gesicht,
eine Zigarette in der Hand, weiße Haare, große Ohren, ein Hemd mit Schlips, keine Jacke.
Zu einem Gespräch kam es nicht gleich, wir waren zurückhaltend und er wollte erst mal Kaffee trinken.
Als Lothar und Inge die Roth-Händle rausholten und ihm gaben, freute er sich, lachte
– und wir konnten uns ein wenig entkrampfen.“

In einem Tagebucheintrag[1] aus dem Mai 1966 beschreibt der 26-jährige Rudi Dutschke den Besuch, den er Georg Lukács gemeinsam mit seiner Frau Gretchen und zwei Genoss:innen in dessen Wohnung in Budapest abstattete. Einnehmend schildert er die kindliche Aufregung, die er und seine Begleiter:innen im Vorhinein empfanden, die anfängliche Angespanntheit beim Aufeinandertreffen mit dem 81-jährigen Philosophen und dessen dringliches Verlangen, politische Fragen der Gegenwart zu diskutieren, insbesondere der sogenannten Dritten Welt und ihrer revolutionären Kämpfe. Der Eintrag Dutschkes ist ebenso kurz wie eindrücklich, nicht zuletzt, weil er den Nimbus offenbart, der die Person Lukács‘ schon zu Lebzeiten umgab, und die Wirkung, die der neomarxistische Denker auf seine jungen Besucher – die hier prototypisch für eine ganze Generation politisierter junger Menschen im Westeuropa der 60er-Jahre stehen – ausübte.

Es war die Wohnung in der 5. Etage des Belgrad Kai Nummer 2, in der nach Lukács‘ Tod vor genau 50 Jahren, am 4. Juni 1971, ein Archiv in der Absicht eingerichtet wurde, das physische Erbe von Lukács – seine Bibliothek ebenso wie seinen wissenschaftlichen Nachlass, also Materialien und Manuskripte – zu konservieren und der Forschung zugänglich zu machen. Größere, auch über die einschlägigen Fachkreise hinausreichende Bekanntheit erreichte das „Aggregat von Museum, Bibliothek und Manuskriptsammlung“[2] als 2016 bekannt wurde, dass die ungarische Regierung unter Orbán die Einrichtung schließen wollte. Mit den Plänen zur Schließung war der traurige Höhepunkt jahrelanger Versuche politischer Einflussnahme und zunehmend einschneidender finanzieller Kürzungen erreicht, die die Arbeit der Archivmitarbeiter, die seit den 1980er-Jahren auch in der Edition nicht nur der Schriften Lukács, sondern auch der seiner Schüler*innen bestand, immer mehr erschwert und Projekte verunmöglicht hatten.

Internationaler Protest, auch vonseiten namhafter Vertreter des akademischen Betriebs, blieb erfolglos. Die Wohnung wurde geräumt und das Archiv samt der umfangreichen Bibliothek in die Ungarische Akademie der Wissenschaften verlegt.[3] Wann die Materialien wieder zugänglich sein werden, ist offen. Und die Wohnung am Belgrad Kai Nummer 2 existiert als Forschungseinrichtung, Pilgerstätte und geschichtsträchtiger Ort, an dem neben Rudi Dutschke viele weitere einflussreiche Persönlichkeiten des 21. Jahrhunderts verkehrten, nicht mehr.

Der Breite von Lukács‘ Werk kann das vorliegende Dossier natürlich ebenso wenig gerecht werden wie den verschiedenen Phasen seines Schaffens, die, stark beeinflusst durch die weltpolitische Entwicklung, den intellektuellen Wandel eines Denkers markieren, der in seiner Bedeutung als marxistischer Philosoph und mit seinem Einfluss auf Generationen einer Linken, für die Theoriebildung zu ihrer politischen Praxis zählte, bis heute einzigartig ist.

Der Essay von Christine Magerski zeichnet diese Entwicklung, die „von der Literatur über die Gesellschaftstheorie in die Politik – und zurück zur Literatur und Ästhetik führte“[4] anhand der Rolle nach, die der Begriff der Form in den Analysen Lukács‘ spielt. Sie zeigt, dass die Theorie des Romans (1916) den Wendepunkt vorbereitet, an dem Lukács seine zunächst noch lebensphilosophisch animierte Suche nach Orientierung in der Welt zugunsten der intellektuellen Arbeit an der kommenden, kommunistischen Gesellschaft hinter sich lässt.

Der Lukács, der Geschichte und Klassenbewusstsein (1923) schrieb, war bereits bekennender Kommunist und seit 1918 Mitglied der Kommunistischen Partei Ungarns. Der in der berühmten Essaysammlung entwickelten Theorie und Kritik der Verdinglichung widmet sich der Beitrag von Patrick Eiden-Offe. Er argumentiert, dass es gerade die Erweiterung zu einer generalisierenden Kulturkritik gewesen sei, die – im Widerspruch zu der vom Autor angestrebten Analyse des proletarischen Bewusstseins – Verdinglichung zu einem „verdächtigen Konzept“ gemacht habe. Obwohl es sich als solches anhaltender Kritik ausgesetzt findet, wird die von Lukács entfaltete Phänomenologie von Verdinglichung bis auf den heutigen Tag immer neu als adäquate Beschreibung der Realität kapitalistischer Gesellschaften entdeckt.

Die Beziehung, die der Lukács des jungen Hegel (1938) zu Stalin pflegte, ist oft problematisiert und kritisiert worden. Nicht nur eindeutige Passagen in seinen Schriften, sondern auch der Umstand, dass er die Stalin’schen Säuberungen bis auf eine kurze Inhaftierung im berüchtigten Moskauer Lubjanka-Gefängnis im Jahr 1941 und einen später revidierten Parteiausschluss unbeschadet überstand, scheinen hinreichende Beweise für seine unerschütterte Parteitreue zu liefern. Doch völlig ungebrochen war das Verhältnis selbstredend nicht. Mit dem für unser Dossier titelgebenden Begriff des Partisanen wollte Lukács, so die Vermutung von Axel Honneth,[5] keineswegs nur das Verhältnis des Parteidichters[6] zu ebenjener, sondern durchaus auch seine eigene Position innerhalb der Partei beschreiben. Der Partisan bilde zwar „eine tiefe Einheit mit der Berufung der Partei“, müsse sich im Feld ihrer Aktivitäten „jedoch mit eigenen Mitteln auf eigene Verantwortung offenbaren“.[7] Statt sich ganz der Parteilinie zu verschreiben und sein Schaffen an propagandistischen Zwecken auszurichten oder, im Gegenteil, abtrünnig zu werden und mit den Prinzipien und Zielen der Partei zu brechen, wählt der Partisan einen Mittelweg, sucht also sowohl autonom als auch der „der Sache“ verschrieben zu bleiben.

Der Essay von Dietmar Dath schließt sich weder dieser Deutung noch der von Lukács unambivalenter Parteitreue an, sondern formuliert eine andere These. Dessen Hinwendung zu Stalin sei motiviert aus der Ablehnung des NS-Faschismus sowie anderer Übel, die in kapitalistischen Gesellschaften vorherrschten. Mithin waren es Dath zufolge nicht in erster Linie, Gewalt, Repression und Terror, die Lukács nachträglich umgestimmt hätten, sondern die Einsicht, dass Stalin, statt konsequent einen neuen Weg zu beschreiten, einige diese Übel in die Sowjetunion „importierte“.

Der späte Lukács, der in Ungarn, in das er 1945 zurückgekehrt war, zwar erstmalig einen Lehrstuhl inne hatte, mit seinen Schriften zu Ästhetik und Ontologie jedoch nicht mehr an die durchschlagenden Erfolge vorangegangener Werke anknüpfen konnte, hatte 1971 seinen Anteil daran, dass der Schriftsteller György Dalos ebenso wie seinen Freund Miklós Haraszti, wegen ihrer literarischen Auftritte bei der KP in Ungnade gefallen, nach 25 Tagen wieder aus dem Internierungslager entlassen wurden. Im Interview mit Jens Bisky berichtet Dalos nicht nur von seiner Begegnung mit Lukács‘ Arbeiten sowie seiner Sicht auf dessen Verhältnis zur Kommunistischen Partei, sondern auch wieder von der Wohnung am Belgrad Kai Nummer 2. An ihrer Tür hatten er und Haraszti einst geklingelt, um eine Erklärung zu hinterlassen, in der sie ihre anstehende Verhaftung und einen Hungerstreik ankündigten und den Philosophen um Unterstützung baten. Der auch in dieser Situation als Partisan agierende Lukács hat sie ihnen nicht vorenthalten.

Die Redaktion

Dietmar Dath | Essay

Wieso dauernd dieser Überbaukrempel?

Georg Lukács als prosowjetischer Denker

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Jens Bisky, György Dalos | Interview

„Ketzer sind immer sympathisch“

György Dalos im Gespräch mit Jens Bisky über Georg Lukács und die Theorie der zweiten Decke

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  1. Rudi Dutschke, Besuch bei Georg Lukács (Auszug aus dem Tagebuch, Mai 1966), in: Rüdiger Dannemann (Hg.), Georg Lukács und 1968, Bielefeld 2009, S. 273 f.
  2. Miklós Mesterházi, Größe und Verfall des Lukács-Archivs. Eine Chronik in Stichworten. Zugleich ein Nachruf, https://www.lana.info.hu/de/archiv/chronik/ (28.05.2021)
  3. Zu den Motivationen der ungarischen Fidesz-Partei, die Erinnerung an Lukács auszumerzen, stellt György Dalos im Interview mit Jens Bisky einige Überlegungen an.
  4. Christine Magerski, „Die Form ist das wahre Soziale in der Literatur“
  5. Axel Honneth / Rüdiger Dannemann, Einleitung, in: Georg Lukács, Ästhetik, Marxismus, Ontologie, Berlin 2021, S.7–37, hier S. 22, Fußnote 28.
  6. Georg Lukács, Parteidichtung, in: ders., Schriften zur Ideologie und Politik, Neuwied/Berlin 1967, S. 376–403,
  7. Ebd, S. 400.
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