Dossier
documenta fifteen – Ein Rückblick
Vor rund einem Jahr, am 18. Juni 2022, wurde in Kassel die documenta fifteen eröffnet, die insgesamt fünfzehnte Ausgabe der 1955 begonnenen Ausstellungsreihe. Vieles war diesmal anders als in früheren Jahren, und manches lief westlichen Kunst- und Kunstbetriebsvorstellungen entgegen. Das indonesische Künstler:innenkollektiv ruangrupa aus Jakarta kuratierte die documenta nach den Werten und Ideen von Lumbung – so der indonesische Begriff für eine gemeinschaftlich genutzte Reisscheune. Dabei standen Prinzipien wie Kollektivität, Partizipation, Solidarität und Gerechtigkeit im Vordergrund, wurde neben den einzelnen Werken auch die gemeinsame Praxis ihrer Planung und Herstellung in den Fokus gerückt. Die Süddeutsche Zeitung sprach davon, dass diese „Kunst des Zusammenhalts“ eine Zumutung darstelle, die wohltuend wirken könne, bedeute sie doch eine produktive Herausforderung für die fatale „Neigung zur mentalen Abkapselung“ in Deutschland.
In der öffentlichen Berichterstattung über die Ausstellung ging es allerdings schon bald nicht mehr in erster Linie um konzeptionelle Besonderheiten, sondern um antisemitische Vorfälle, vor denen bereits lange vor Ausstellungsbeginn gewarnt worden. Zur Eröffnungsfeier kritisierte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier den Umgang der Ausstellungsmacher:innen mit diesen Warnungen und wies darauf hin, dass auf dieser „bedeutenden Ausstellung zeitgenössischer Kunst wohl keine jüdischen Künstlerinnen oder Künstler aus Israel vertreten“ seien. Am ersten Wochenende der documenta fifteen identifizierte man zwei antisemitische Darstellungen im Werk „People’s Justice“ des Künstler:innenkollektivs taring padi, in den Wochen darauf wurden weitere Werke als antisemitisch kritisiert und skandalisiert. Die documenta fifteen, die den Zusammenhalt beschwor, provozierte Streit und Auseinandersetzungen in seltener Heftigkeit.
Im Juli 2022 trat Sabine Schormann, die Geschäftsführerin der documenta fifteen, von ihrem Posten zurück, ein Gremium zur fachwissenschaftlichen Begleitung der Ausstellung wurde eingesetzt, um sowohl die Werke der internationalen Schau auf antisemische Aussagen und visuelle Codes als auch den Umgang der Verantwortlichen mit den schwerwiegenden Vorwürfen zu untersuchen. Der fachwissenschaftliche Abschlussbericht wurde im Februar 2023 veröffentlicht – Monate nach dem Ende der documenta fifteen, die etwa 738.000 Besucher:innen gesehen hatten.
Die hier veröffentlichten Beiträge präsentieren Überlegungen von Wissenschaftler:innen aus verschiedenen Disziplinen zur Ausstellung und den um sie geführten Debatten. Sie bieten einen reflektierten Rückblick auf den Skandal, verpasste Chancen und mögliche Lehren. Wir danken Teresa Koloma Beck, die in den Themenkomplex einführt, sowie Dirk Baecker, Aurélia Kalisky, Ralf Michaels, Stefanie Schüler-Springorum und Myropi Margarita Tsomou, deren Texte verschiedene Aspekte der Debatte erörtern. Die für die Veröffentlichung ausgearbeiteten und aktualisierten Texte gehen auf eine Tagung zurück, die im November 2022 am Hamburger Institut für Sozialforschung stattfand.
Die Redaktion
Stefanie Schüler-Springorum | Essay
„Guernica Gaza“
Zur Diskussion über den Zyklus des palästinensischen Künstlers Mohammad Al Hawajri
Myropi Margarita Tsomou | Essay
Der Skandal als Symptom
Kuratieren im Kontext epistemischer Brüche und dekolonialer Paradigmenwechsel