Dossier
Ein (neuer) Kanon für die Soziologie?
Eine Debatte über das Fach und seine Klassiker:innen
Die Diskussion um die Klassiker:innen und den Kanon der Soziologie ist nicht neu. Böse Zungen behaupten, sie sei fast so alt wie das Fach selbst. Doch der Kanon ist keineswegs nur ein Destillat des Vergangenen, seine Ausgestaltung und der Umgang mit ihm haben relevante Konsequenzen für die Gegenwart wie für die Zukunft des Faches. Inwiefern diese Konsequenzen wünschenswert oder gar notwendig sind, ob ein anderer, ein neuer Kanon zu bevorzugen wäre oder ob das Kanonisieren besser ganz gelassen werden sollte, sind relevante Fragen. Sie sind Gegenstand unseres Dossiers.
Als Klassiker:innen werden in der Regel Soziolog:innen im engeren oder weiteren Sinne bezeichnet, die grundlegende Konzepte, Theorien oder Methoden zur Erforschung des gesellschaftlichen Lebens in der Moderne entwickelt haben und deren Ansätze die Forschung bis heute beeinflussen. Hierzu gehören etwa Webers Ansatz der verstehenden Soziologie, Marx‘ historisch-dialektische Methode, Durkheims empirischer Blick auf soziale Phänomene oder Simmels formale Soziologie. Aufgrund ihrer anhaltenden Relevanz gelten die Arbeiten der Klassiker:innen als unverzichtbare Texte für das Studium der Soziologie und als gemeinsame ideelle Bezugspunkte für den soziologischen Diskurs weltweit.
In den vergangenen Jahren hat allerdings die Kritik an den Klassiker:innen und am Kanon stark zugenommen. Fragen nach der sozialen Zusammensetzung des Kanons, nach dessen Diversität und nach der Inklusion beziehungsweise Exklusion von Angehörigen bestimmter sozialer Gruppen wurden laut: Inwieweit werden relevante Werke von Frauen, von nicht westlichen Autor:innen und von zeitgenössischen Denker:innen berücksichtigt? Neben der Frage der Repräsentativität der ausgewählten Autor:innen wird auch das Problem der Beachtung vernachlässigter oder marginalisierter Forschungsthemen kritisch diskutiert.
Kritiker:innen des traditionellen Kanons argumentieren, dass dieser zu eurozentrisch und männlich dominiert sei, und fordern (mindestens) eine Erweiterung, teilweise auch eine Ersetzung von Personen durch andere, um ein breiteres Spektrum an Perspektiven und Themen abzudecken. In der internationalen Diskussion wird zudem betont, dass eine Erweiterung des Kanons um Werke von Theoretiker:innen aus dem Globalen Süden und um feministische Perspektiven nicht nur die Diversität des Faches erhöht, sondern auch zu einem umfassenderen Verständnis globaler sozialer Prozesse beiträgt, wie sich beispielsweise an Werken von Frantz Fanon oder Patricia Hill Collins veranschaulichen lässt.
Verteidiger:innen des traditionellen Kanons betonen dagegen dessen historische Bedeutung und den – sinnvollerweise – anhaltenden beziehungsweise aufrechtzuerhaltenden Einfluss der etablierten (nun mal bisher meist männlichen) Klassiker auf die Grundlagen der Disziplin und für das Verständnis moderner Gesellschaften. Gestritten wird dabei nicht nur über den richtigen Umgang mit der Geschichte des Faches, sondern auch und vor allem über dessen gegenwärtige und zukünftige Ausrichtung. Die Debatte ist ein andauernder Prozess, der die Entwicklung der Soziologie als einer sich ständig weiterentwickelnden, zumindest aber sozial und kulturell wandelbaren Wissenschaft widerspiegelt, und insofern ist sie auch ein Kampf um die dynamische Deutungshoheit über den theoretischen Kern des Faches.
In unserem Dossier haben wir drei Texte versammelt, die die unterschiedlichen Perspektiven und Positionen in dieser Debatte reflektieren und in bewusst dialektischer Form auch vertreten.
Dirk Kaesler, Herausgeber des einflussreichen Kompendiums Klassiker der Soziologie, verteidigt den traditionellen Kanon. Werke wie die von Weber, Marx und Durkheim böten unverzichtbare Instrumente für das Verständnis heutiger gesellschaftlicher Phänomene und theoretischer Herausforderungen. Er betont die Notwendigkeit, das Erbe der Klassiker zu bewahren und weiterhin in die soziologische Lehre und Forschung zu integrieren, um ein vertieftes Verständnis der Grundlagen der Disziplin zu gewährleisten und zu ihrer kontinuierlichen Weiterentwicklung beizutragen.
Hier setzt der Beitrag von Felicitas Heßelmann an. Sie kritisiert das Konzept einer personenzentrierten Auswahlpraxis und plädiert für eine Abkehr von dieser traditionellen Orientierung an ‚herausragenden Persönlichkeiten‘ und für eine Hinwendung zu soziologischen Themen, theoretischen Perspektiven und methodischen Ansätzen. Ziel müsse es sein, die soziologische Lehre und Forschung vielfältiger, inklusiver, dynamischer und damit produktiver zu gestalten und damit auch der aktuellen Realität des Faches Rechnung zu tragen.
Abschließend diskutiert Nicole Holzhauser verschiedene empirische Zugänge zur Realität des Kanons und erörtert die bei der Kanonisierung wirksamen Selektionskriterien. Dabei stellt Holzhauser fest, dass die Mechanismen sozialer Anerkennung zu kumulativen, wenige Personen begünstigenden Effekten führen (können), die der Vielfalt soziologischer Forschung und gesellschaftlicher Perspektiven nicht ohne Weiteres gerecht werden. Diese Mechanismen und die alltäglichen wissenschaftlichen Praktiken, die letztlich mittelbar auch gesellschaftliche Machtverhältnisse widerspiegeln, bedürfen daher der kritischen Reflexion.
Die Autor:innen verfolgen das gemeinsame Ziel, die Relevanz des Kanons für das Fach zu diskutieren, Auswahl- und Priorisierungspraktiken aus verschiedenen Perspektiven zu analysieren und die zukünftige Rolle der Klassiker:innen zu problematisieren. Der Kanon ist ein dynamisches Gebilde und die soziologische Gemeinschaft wählt sich ihre Klassiker:innen selbst aus. Es gilt also zu fragen: Auf Basis welcher Kriterien und mit welchem Ziel gestalten wir, die Soziolog:innen, den Kanon in Lehre und Forschung? Die Antworten, die wir auf diese Fragen geben, betreffen nicht nur den Umgang mit der Geschichte unseres Faches, sondern auch dessen Gegenwart und Zukunft. Insofern ist dieses Dossier gleichermaßen eine Einladung zur Lektüre wie ein Aufruf zur Mitwirkung.
Die Beiträge gehen zurück auf eine vom Robert K. Merton Zentrum für Wissenschaftsforschung veranstaltete und von Stephan Moebius moderierte Podiumsdiskussion, die am 3. März 2023 unter dem Titel „Die Klassiker in der Soziologie: Unerlässliche Kanonbildung oder überholter Personenkult?“ im Berliner Grimm-Zentrum stattfand. Den Organisator:innen der Veranstaltung, namentlich Felicitas Heßelmann und Martin Reinhart, sei an dieser Stelle noch einmal herzlich gedankt.
Lars Döpking und Lukas Underwood sind der Diskussionseinladung gefolgt. In ihrer Replik plädieren sie für die deliberative Gestaltung des soziologischen Kanons mittels Explikation der Prozesse, die zur Kanonisierung von Theoretiker:innen führen.
Nicole Holzhauser & die Redaktion
Felicitas Heßelmann | Essay
Kein Gott, kein Staat, kein Klassikerdiktat!
Plädoyer für eine andere Soziologiegeschichte
Nicole Holzhauser | Essay
Klassiker und Klassikerinnen der Soziologie
Zur empirischen Realität des soziologischen Kanons
Lars Döpking, Lukas Underwood | Essay
Die Demokratisierung der Kanonisierungsfrage
Für eine reflexive Soziologie jenseits von Ikonoklasmus und Orthodoxie