Dossier
Eine Revolution des Begehrens?
Guy Hocquenghem und der Front homosexuel d’action révolutionnaire
Was Guy Hocquenghem, der in diesen Tagen seinen 75. Geburtstag gefeiert hätte, von den aktuellen Entwicklungen in der Geschlechterforschung, den Sexualwissenschaften und der Queer Theory gehalten hätte, ist naturgemäß schwer zu sagen. Außer Frage dürfte jedoch seine Nähe insbesondere zu letzterer stehen, schließlich wird das Denken des Philosophen und Aktivisten der französischen Schwulenbewegung mittlerweile als Queer Theory avant la lettre gehandelt. Schon einige Jahre vor Autorinnen wie Judith Butler oder Eve Kosofsky Sedgwick entwickelte Hocquenghem einen Ansatz, der Identität, Geschlecht und Sexualität anti-identitär und jenseits binärer Schemata zu fassen suchte, indem er sowohl die Materialität des Körpers als auch die subversive Universalität sexuellen Begehrens in den Vordergrund stellte.
In seinem theoretischen Hauptwerk Das homosexuelle Begehren identifiziert Hocquenghem den Kampf der Homosexuellen um soziale Anerkennung als Teil eines umfassenderen Ringens um gesamtgesellschaftliche Befreiung. Insofern muss das Buch auch als Dokument einer sozialen Bewegung gelesen werden, die grundsätzlich mit althergebrachten Formen der politischen Praxis brach: Die vor 50 Jahren in Paris gegründete Gruppierung namens Front homosexuel d'action révolutionnaire (FHAR), in der Hocquenghem organisiert war, erhob Provokation und Subversion zu Mitteln des politischen Kampfes und vermochte durch radikale publizistische Interventionen und anarchische Aktionen öffentliches Aufsehen erregen, das sich nicht nur auf den französischen Sprachraum beschränkte.
Soziopolis hat diese theoretische wie praktische Originalität zum Anlass genommen, Hocquenghem und dem FHAR ein Dossier zu widmen, das Lukas Betzler und Hauke Branding herausgeben. Es präsentiert eine Reihe von Beiträgen, die das Wirken Hocquenghems und seiner Genoss*innen einerseits historisieren und kontextualisieren und andererseits über die bloße Verortung in der europäischen Protestgeschichte hinaus fragen, was die Texte bis heute lesenswert macht, welche Problemstellungen der Gegenwart durch sie in einem anderen Licht erscheinen und an welche Aspekte der damaligen Theoriebildung sich heute anknüpfen ließe.
Die Verflechtungen zwischen avantgardistischer Theorieproduktion und radikaler Emanzipationspolitik vertiefen die beiden Herausgeber in einem einleitenden Essay, der die Entwicklung Hocquenghems und des FHAR nachzeichnet und die Schauplätze der intellektuellen und aktivistischen Kontroversen ausleuchtet. Von großer Bedeutung für diese Aushandlungen ist Hocquenghems ebenso grundlegende wie eigensinnige Bezugnahme auf die Psychoanalyse, der Esther Hutfless einen Beitrag widmet. Hutfless situiert dessen Konzeption des Begehrens zwischen der Fortschreibung einer an Deleuze und Guattari anschließenden Freud-Kritik einer- und der Übernahme zentraler Positionen der Freud’schen Triebtheorie andererseits und fragt, inwiefern zeitgenössische Versuche, die psychoanalytische Orthodoxie zu queeren, an Hocquenghem anknüpfen können.
Historisch ist der FHAR aus der französischen Frauenbewegung hervorgegangen, und es war nicht zuletzt die feministische Kritik am Nebenwiderspruchsdenken der marxistischen Linken, die der Homosexuellenbewegung nicht nur in Frankreich den Weg ebnete. Cornelia Möser zeigt in ihrem Beitrag, wie ambivalent und konfliktuell sich das Verhältnis zwischen Schwulen- und Frauenbewegung in der Praxis gestaltete und warum es mit dem Feminismus Hocquenghems trotz aller scheinbaren Konvergenzen in der politischen Zielsetzung nicht allzu weit her war.
Eine ebenfalls konfliktträchtige Ambivalenz nimmt Julian Volz in den Blick. Sein Aufsatz befasst sich mit dem von Asymmetrien gezeichneten Verhältnis zwischen arabischen Männern und französischen Schwulen und illustriert, dass eine antirassistische Solidarität unter Marginalisierten in diesen Beziehungen ebenso einen Ausdruck findet wie eine rassistische beziehungsweise orientalistische Tendenz, deren Wirkmacht auf Traditionsbestände verweist, die mit dem europäischen Kolonialismus eine deutlich ältere Vorgeschichte besitzen.
Das gerade in der jüngeren Vergangenheit signifikant gesteigerte Interesse an der Geschichte der libération sexuelle kann nicht umhin, sich mit einem schwierigen Vermächtnis dieser Bewegung zu beschäftigen, und zwar mit ihren Stellungnahmen zur kindlichen Sexualität. Dementsprechend stand Guy Hocquenghem in Frankreich 2020 im Zentrum einer hitzig geführten Debatte, die sich um die Frage drehte, ob er als ein Apologet der Pädophilie aufgetreten sei. In ihrem Beitrag befasst sich Julia König mit den von Hocquenghem während der 1970er-Jahre vertretenen Positionen zur infantilen Sexualität, sowie mit generationellen Altersunterschieden und dem Status der Einvernehmlichkeit innerhalb sexueller Beziehungen generell. Dabei werden die Probleme und Untiefen einer Haltung sichtbar, die im Protest gegen den Rigorismus bürgerlicher Sexualmoral jede Verrechtlichung von Sexualität ablehnt.
Im Gespräch mit den Herausgebern berichtet Elmar Kraushaar, der seit 1971 in der bundesrepublikanischen Schwulenbewegung aktiv ist, über seine politische Sozialisation und den Einfluss, den Hocquenghem und die französische Homosexuellenbewegung insgesamt auf ihr westdeutsches Pendant hatten. Dabei geht es nicht zuletzt um die Frage, was die queere Bewegung von heute aus diesen Erfahrungen lernen könnte.
An dieselbe Frage schließt auch der Beitrag von Jule Govrin an, die für eine Wiederentdeckung Hocquenghems als anti-identitärem Denker plädiert. Gegenwärtige Ansätze, die sich für eine Theorie und Praxis von Differenz und Diversität stark machen, seien – gegen ihr erklärtes Selbstverständnis – nur allzu oft anschlussfähig für neoliberale Identitätsspiele, die Kritik und Protest faktisch einhegten statt sie zu ermöglichen. Demgegenüber eröffne Hocquenghems radikale Kritik neue Spielräume für begehrenspolitische Bündnisse jenseits identitärer Festlegungen.
Zuletzt sei zur Ergänzung der in unserem Dossier zusammengeführten Texte noch auf Aaron Lahl verwiesen, der Hocquenghems Das homosexuelle Begehren bereits im vergangenen Jahr ebenso ausführlich wie instruktiv für Soziopolis besprochen hat.
Hauke Branding, Lukas Betzler | Essay
„L’Internationale des Gouines et des Pédales“
Guy Hocquenghem und der Front homosexuel d'action révolutionnaire
Esther Hutfless | Essay
Deterritorialisierungen des Begehrens
Zur Aktualität von Guy Hocquenghems „queerer“ Kritik an der Psychoanalyse
Julian Volz | Essay
Die Gemeinschaft der Marginalisierten
Zum Verhältnis von westlichen Schwulen und arabischen Männern
Jule Govrin | Essay
Im Widerspruch zur identitären Ordnung
Guy Hocquenghems Kritik der politischen Ökonomie des Begehrens
Julia König | Essay
Mit dem kindlichen „Wunsch-Körper“ Revolution machen
Konstellationen von Kindheit, Sexualität und Entführung bei Guy Hocquenghem
Hauke Branding, Elmar Kraushaar, Lukas Betzler | Interview
„Für uns fing 1971 die Welt neu an“
Elmar Kraushaar im Gespräch mit Lukas Betzler und Hauke Branding