Dossier
Erinnerungen an Bruno Latour
Bruno Latour, der am 9. Oktober diesen Jahres in Paris gestorben ist, war davon überzeugt, man könne die Wissenschaft besser begreifen, wenn sie als bescheidene, fehleranfällige Praxis verstanden wird, als eine Tätigkeit, die stets unter bestimmten Umständen und an konkreten Orten stattfindet. Eine Biografie seines Denkens wäre daher gut beraten, nach den Orten zu fragen, an denen der 1947 in Beaune Geborene tätig war, und die Bedingungen zu rekonstruieren, unter denen er, wie die New York Times bereits 2018 schrieb, zum berühmtesten und zugleich am wenigsten verstandenen französischen Philosophen wurde.
Am Anfang umgaben ihn die Weinberge seiner Familie in Burgund, die er als jüngstes Kind unter acht Geschwistern alsbald hinter sich ließ, um in Paris eine katholische Privatschule, namentlich das Lycée Saint-Louis de Gonzague, zu besuchen. Nietzsches Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, so heißt es, habe seine Leidenschaft für die Philosophie geweckt. Er studierte Philosophie, Anthropologie und Theologie, wurde 1975 an der Universität Tour promoviert.
Entscheidend prägten ihn seine Erfahrungen während des Militärdienstes in Abidjan an der Elfenbeinküste, wo französische Firmen über die mangelhaften Fähigkeiten einheimischer Ingenieure klagten. Latour ging diesem Umstand auf den Grund und fand heraus, dass den ivorischen Studenten ausschließlich abstrakte Theorie vermittelt wurde, so dass sie im Unterschied zu französischen Absolventen der Ingenieurwissenschaften Schwierigkeiten hatten, technische Zeichnungen zu verstehen. Ihr Versagen wurde gern einer angeblich vormodernen, „afrikanischen Mentalität“ zugeschrieben, wogegen Latour auf die rassistische Situation verwies, die hinter solchen kulturellen und pseudohistorischen Erklärungen zum Verschwinden gebracht werden sollte.
Darauf aufmerksam geworden, was einem rein positivistischen Wissenschaftsverständnis entgeht, folgte er der Einladung des späteren Nobelpreisträgers Roger Guillemin und nahm über zwei Jahre lang beobachtend an endokrinologischen Forschungen am Salk Institute in San Diego, Kalifornien teil. Wie wissenschaftliche Wahrheit im Labor produziert, wie dort Objektivität hergestellt wird, beschrieb er gemeinsam mit dem Soziologen Steve Woolgar in der Studie Laboratory Life. The Construction of Scientific Facts (1979), inzwischen ein klassisches Werk der Wissenschaftssoziologie. 1982 wurde Latour dann Professor an der École Nationale Supérieure des Mines in Paris, 2006 an den Sciences Politiques Paris.
Doch beschränkte der zum Soziologen gewordene Philosoph seine weitere Arbeit nicht auf Labore, wissenschaftliche Institute und Universitäten. Am Zentrum für Kunst und Medien Karlsruhe kuratierte er Ausstellungen, etwa „Iconoclash“ (2002) und „Making Things Public“ (2005) oder „Reset Modernity“ (2016). Gemeinsam mit dem Theaterregisseur Philippe Quesne und Studierenden entwickelte er 2015 das „Théâtre des Négociations“, eine vorab erdachte Simulation des Pariser Klimagipfels. Latours Überzeugung nach müssten die Universitäten jenen helfen, die in der Klimakrise den Boden unter den Füßen verlieren, denen es um Freiheit und Bewohnbarkeit der Erde zugleich geht. Dass Belehrung oder gar autoritatives Auftreten dabei nicht hilfreich seien, war das unakademische Credo des mittlerweile Weltruhm genießenden Professors an den Eliteschmieden der französischen Republik. Vielmehr brauche es auf dem Weg von der Modernisierung zur Ökologisierung die Zusammenarbeit aller Disziplinen ebenso wie die Künste, das Theater, Ausstellungen.
In Wir sind nie modern gewesen, seinem „Versuch einer symmetrischen Anthropologie“ aus dem Jahr 1995, nahm Latour die Dualismen aufs Korn, die in der Moderne für Asymmetrierung, also Ordnung, sorgen sollten. Das Buch attackierte nicht zuletzt die strikte Trennung von Natur und Gesellschaft, was erwartbar zu kreativer Unordnung auch in der Soziologie führte. Nachdem er untersucht hatte, wie Wahrheit generiert wird, fragte er mit zunehmender Dringlichkeit, wie Wissenschaft und auch Politik im Angesicht der Klimakatastrophe neu zu denken und zu organisieren seien. Mit seinem Vorschlag für ein Parlament der Dinge (1998) ist er zu einem Vordenker der Gegenwart des Anthropozäns geworden und wirkte weit über die Fachgrenzen von Soziologie oder Philosophie hinaus. Er war, so die New York Times in ihrem Nachruf, einer der führenden Philosophen der Nachkriegszeit, einer der wenigen, die auch außerhalb der akademischen Welt bekannt sind.
Wir widmen dem in vielerlei Hinsicht außergewöhnlichen Wissenschaftler ein Dossier, in dessen Rahmen Lars Gertenbach sowohl das wissenschaftliche Werk wie auch das öffentliche Wirken Latours würdigt. Darüber hinaus haben wir seinen Tod zum Anlass genommen, Soziolog:innen nach ihren Erinnerungen an Bruno Latour zu fragen: Welches seiner Bücher war für sie besonders wichtig, worin bestand sein entscheidender Beitrag zur Soziologie? Welche seiner Ideen und Konzepte sollten weitergedacht werden?
Wir danken unseren Gesprächspartner:innen Sophie Houdart, Armin Nassehi, Dirk Baecker, Jeanne Lazarus, Sven Opitz, Julian Müller, Lore Knapp und Ute Tellmann dafür, ihre Erinnerungen mit uns zu teilen.
Die Redaktion
Sophie Houdart | Interview
„Beschreiben, was uns modern macht“
Drei Fragen zum Werk von Bruno Latour
Jeanne Lazarus | Interview
„Der Soziologe ist weder Connaisseur noch edler Ritter, er ist ein Entdecker“
Drei Fragen zum Werk von Bruno Latour
Sven Opitz | Interview
„Eine Praxis, die das soziologische Denken offenhält“
Drei Fragen zum Werk von Bruno Latour
Julian Müller | Interview
„Man kann nach Latour nicht mehr an Latour vorbeiforschen“
Drei Fragen zum Werk von Bruno Latour
Ute Tellmann | Interview
„Die ‚Bergung‘ der modernen Existenzweisen“
Drei Fragen zum Werk von Bruno Latour
Lore Knapp | Interview
„Durch die Akteur-Netzwerk-Theorie kann auch die Geschichte der Ästhetik neu beleuchtet werden“
Drei Fragen zum Werk von Bruno Latour