Dossier

In Sachen KI

Zur Diskussion um eine schillernde Technologie

Künstliche Intelligenz (KI) ist ein ebenso schillernder wie diffuser Begriff. Trotzdem ist er in aller Munde. Oder vielleicht gerade deshalb. Wer von KI spricht, kann vieles meinen: eine Technologie, die auf Anweisung Briefe, Zeitungsartikel, Aufsätze oder Theaterstücke verfasst, die personalisierte Werbung oder Musik-Playlists kuratiert oder Nutzer:innen verschiedener Anwendungen als virtuelles Assistenzsystem zur Verfügung steht; ein ganzes Forschungsfeld, das verschiedene Ansätze und Strömungen umfasst, die sich der Entwicklung intelligenter Maschinen verschrieben haben; und nicht zuletzt eine Projektionsfläche für utopische wie dystopische Zukunftsvisionen. Die Faszination und bisweilen auch die Angstlust, die sich mit dem Begriff verbinden, dürften ihre Ursache vor allem in den Erwartungen haben, die sich mit der neuen Technologie verbinden. Denn so beeindruckend die Leistungen bereits vorhandener KI-Systeme sind, so bescheiden nehmen sie sich aus gegenüber den Leistungen, die uns für die Zukunft in Aussicht gestellt werden. Die Revolutionierung der Arbeitswelt und die Erschaffung bewusstseinsfähiger Roboter gehören ebenso dazu wie die Entwicklung superintelligenter Systeme, die all die Probleme lösen sollen, an deren Bewältigung wir Menschen bislang zuverlässig gescheitert sind, nämlich die Gewährleistung von Frieden, Sicherheit und Wohlstand für alle und – natürlich – die Abwendung der Klimakatastrophe.

Die emotional hochgradig aufgeladenen Erwartungshaltungen kommen nicht von ungefähr. Sie entstammen einerseits Vorstellungen und Überlegungen, die unsere Gesellschaften schon lange umtreiben und – verstärkt durch Literatur, Kunst oder Film – unser kollektives Vorstellungsvermögen entsprechend beflügeln. Von dem Monster aus Mary Shelleys Frankenstein bis zu den Replikanten Roy Batty und Pris aus Philip K. Dicks Blade Runner, vom Supercomputer HAL 9000 in Stanley Kubricks 2001: Odysee im Weltraum bis hin zum Androiden Data aus Star Trek. Die Frage, wie Maschinen mit menschenähnlichen Fähigkeiten aussähen, zu welchen Zwecken sie sich einsetzen ließen und wie sie unsere Gesellschaften verändern würden, rührt offenbar an einen Nerv, geht es doch dabei immer auch um die Frage, was uns als Menschen ausmacht. Andererseits aber werden die Erwartungen bewusst von all jenen geschürt, die mit der Entwicklung und dem Einsatz von KI handfeste ökonomische Interessen verbinden, allen voran die großen Techkonzerne. Sie geben den Ton vor, in dem KI gesellschaftlich verhandelt wird und docken dabei geschickt an kulturelle Vorstellungen aus der Science-Fiction an, um ihre Visionen zu verkaufen und Investoren anzulocken. Zu dieser Strategie gehören nicht nur öffentlichkeitswirksame Events wie etwa der im Juni 2023 veranstaltete AI Summit London, auf denen die tatsächlichen und vermeintlichen Potenziale von KI betont werden, sondern auch nicht minder publicityträchtige Warnungen vor den angeblich drohenden Gefahren der neuen Technologie.

Ein gutes Beispiel für diese vielleicht am besten als Form der Schockwerbung beschriebene Marketingstrategie war der im Mai 2023 veröffentlichte offene Brief „Pause Giant AI Experiments“, in dem zahlreiche (mehr oder weniger ausgewiesene) KI-Experten ein Moratorium für die Entwicklung künstlicher Intelligenz forderten, sprich: eine Pause beim Training von KI-Systemen, die leistungsfähiger seien als GPT4. Das Akronym bezeichnet die letzte Generation generativer künstlicher Intelligenz des Unternehmens OpenAI, das mit der Veröffentlichung des Chatbots ChatGPT Ende November 2022 für einiges Aufsehen gesorgt hatte. Das Schreiben, das unter anderen von Elon Musk unterzeichnet wurde, evozierte ex negativo die Vorstellung von der dem Menschen überlegenen Maschine – und nährte damit ebenfalls die Erwartung von der vermeintlich grenzenlosen Leistungsfähigkeit von KI-Systemen: Should we develop nonhuman minds that might eventually outnumber, outsmart, obsolete and replace us? Should we risk loss of control of our civilization?

Ungleich weniger Aufmerksamkeit als die Selbstinszenierungen der Branche erhalten Arbeiten, die sich kritisch mit der weniger strahlenden Realität bestehender KI-Systeme und den mit ihrer Nutzung verbundenen Risiken beschäftigen. Doch allmählich wächst das Bewusstsein dafür, dass die Zukunftstechnologie nicht nur Probleme löst, sondern auch schafft beziehungsweise verschärft. Die Liste reicht vom enormen Verbrauch natürlicher Ressourcen über die unautorisierte Verwendung fremden geistigen Eigentums und die Reproduktion gesellschaftlicher Vorurteile im Zuge der Programmierung bis hin zur Ausbeutung menschlicher Arbeit. Gerade der letztgenannte Punkt wird von den in der Branche tätigen Unternehmen gerne mit Schweigen bedacht. Denn zum einen stehen die niedrigen Löhne der überwiegend in Subunternehmen außerhalb Europas und Nordamerikas beschäftigten Telearbeiter in einem deutlichen Gegensatz zu den exorbitanten Gewinnen der Konzerne; und zum anderen verdeutlicht die Notwendigkeit des massenhaften Einsatzes menschlicher Arbeitskraft zur fortlaufenden Programmierung und Fehlerkorrektur, dass viele Anwendungen nicht so intelligent sind, wie sie erscheinen sollen. Daran anknüpfend stellen sich die Fragen, was künstliche Intelligenz aktuell leistet, wie KI-Systeme Informationen verarbeiten und welche gesellschaftlichen Funktionen sie erfüllen.

Diesen Fragen widmen wir ein zweiteiliges Dossier, das verschiedene Beiträge zu gesellschaftlichen Fragen, Folgen, Funktionsbedingungen von KI versammelt. Unter dem sprechenden Titel „Zwischen Macht und Mythos“ skizziert der Informatiker und Philosoph Rainer Rehak knapp die historische Entwicklung und die technischen Eigenschaften gegenwärtiger KI-Systeme. Anschließend widmet er sich einer kritischen Analyse populärer Narrative, die in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit künstlicher Intelligenz immer wieder eine Rolle spielen, von A wie Agency bis W wie Wissen.

In Die KI sei mit euch widmet sich die Wissenschaftssoziologin Helga Nowotny der Macht algorithmischer Vorhersage aus kulturhistorischer Perspektive und erläutert, wie das prognostizierende Vermögen künstlicher Intelligenz gegenwärtige Handlungsspielräume einschränkt. In ihrer Rezension des Buches stellt die Technikforscherin Astrid Mager das Paradox algorithmischer Vorhersage heraus und diskutiert gesellschaftliche Folgen aktueller KI-Anwendungen.

Im zweiten Teil des Dossiers wirft der französische Soziologe Antonio A. Casilli einen Blick hinter die Fassaden der schönen neuen digitalen Arbeitswelt. Im Gespräch mit Nikolas Kill erläutert er, warum künstliche Intelligenz nicht ohne menschliche Arbeit auskommt, und beschreibt die sowohl ökonomisch als auch rechtlich prekären Arbeitsbedingungen der Millionen von Clickworkern, die mit ihrer Arbeitskraft die KI-Systeme der Tech-Unternehmen am Laufen halten. Dass es neben Wissen auch Geschmack braucht, damit die Algorithmen von Musik-Streaming-Diensten für jede und jeden die passende Playlist erstellen, zeigt Nick Seaver in Computing Taste. In seiner Rezension des Buches begleitet David Waldecker den Autor auf seinem Weg durch die Arbeitswelten der Programmierenden und diskutiert Seavers zentrale These, Algorithmen als Teil von Kultur zu begreifen. Abgerundet wird das Dossier durch eine Besprechung von Justin Joques Revolutionary Mathematics, das die Entwicklung der mathematischen Statistik, die Formen ihrer kapitalistischen Verwertung sowie die damit verbundenen Auswirkungen auf unsere sozialen Beziehungen und Strukturen thematisiert. Daniel Schneiß stellt die Grundgedanken des Buches vor und auf den Prüfstand.

Die Redaktion

Rainer Rehak | Essay

Zwischen Macht und Mythos

Eine kritische Einordnung aktueller KI-Narrative

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Astrid Mager | Rezension

Das Dilemma mit der Zukunft

Rezension zu „Die KI sei mit Euch. Macht, Illusion und Kontrolle algorithmischer Vorhersage“ von Helga Nowotny

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David Waldecker | Rezension

Algorhythmen

Rezension zu „Computing Taste. Algorithms and the Makers of Music Recommendation“ von Nick Seaver

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Daniel Schneiß | Rezension

Über die mathematischen Grundlagen des Informationskapitalismus

Rezension zu „Revolutionary Mathematics. Artificial Intelligence, Statistics, and the Logic of Capitalism” von Justin Joque

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