Dossier
Literatur beobachten
Kunstwerke, so die dialektische Volte in Adornos ästhetischer Theorie, seien sowohl „autonom“ als auch „fait social“. Als soziale Tatsachen, die ihre gesellschaftliche Natur immer auch übersteigen, verdienen alle Produkte aus der Welt der Künste die besondere Aufmerksamkeit jeder Gesellschaftsbeobachtung. Zwar wurde während der vier zurückliegenden Jahrzehnte primär die Autonomie der Kunstwerke betont, zumal im Feld der Literatur- und Medienwissenschaft schien ausgemacht, dass es ein hors du texte, ein Jenseits der Immanenz des Zeichengebrauchs, nicht gibt. Doch mehren sich mittlerweile die Anzeichen dafür, dass eine Wiederentdeckung der Sozialität der Künste ansteht. Erste Blüten kündigen sogar einen Frühling der Literatursoziologie an, die einst eine die Soziologie in ihrem Universalitätsanspruch attraktiv machende Subdisziplin gewesen ist – mit ebenso originellen wie wirkmächtigen Resultaten. Man denke nur an die einschlägigen Studien so bedeutender Autoren wie Georg Lukács, Walter Benjamin, Leo Löwenthal oder Peter Szondi.
Vielleicht wird es in der Soziologie fortan aber nicht nur ein wiederbelebtes Interesse an der Seele und ihren Ausdrucksformen oder an einer aktualisierten Theorie des Romans geben, sondern auch eine intensivierte Reflexion auf die Literarizität ihrer eigenen Produktion. Von Andrew Abbott bis Andreas Reckwitz findet sich die Narration jedenfalls als eine der darstellerischen Praktiken thematisiert, die konstitutiv für eine Sozialwissenschaft ist, die hermeneutische, soll heißen: erzählerische Anstrengungen nicht scheuen kann, will sie sich nicht mit der bloßen Quantifizierung des Sozialen bescheiden. Von daher liefert die sogenannte Belletristik der Gesellschaftsbeobachtungen nicht nur aufschlussreiche Materialien für eine soziologische Durchdringung der Jetztzeit. Sie ist, genau besehen, auch eine Schule, ja ein Laboratorium, in dem ständig mit Formen, Medien, Sprachen und Beobachtungsmodalitäten experimentiert wird, die Soziolog*innen nur um den Preis drohender Irrelevanz ihrer Deutungsangebote ignorieren können.
Aus diesen Gründen weitet Soziopolis seiner Beobachtungen auch auf die Literatur aus. Begonnen haben wir unlängst mit einem Dossier zu Charles Baudelaire, dem „ewigen Zeitgenossen“. Ähnliches wird es in regelmäßig unregelmäßiger Folge geben, wenn uns Anlässe und Gelegenheiten dazu einladen. Jetzt war es der jüngste Roman von Christian Kracht, den zu besprechen wir den Siegener Literaturwissenschaftler Niels Penke gebeten haben. Die Anglistin Ina Schabert legt für uns die biografischen, mentalitäts- und kulturgeschichtlichen Fundamente frei, auf dem ein Pandemieroman der ganz besonderen Sorte beruht: Mary Shelleys Der letzte Mensch von 1826.
Wir hoffen mit unseren Beobachtungen literarischer Gesellschaftsbeobachtungen auch, eine soziologisch inspirierte Literaturkritik zu vitalisieren.
Die Redaktion