Dossier
Mit den Ohren denken
Texte übers Hören
Wer eines sehr frühen Tages in der Geschichte menschlicher Kulturleistungen als Erster auf die Idee verfallen ist, ‚erkennen‘ als ‚sehen‘ zu fassen, ist im Dunkel tiefer alteuropäischer Vergangenheit nicht mehr auszumachen. Klar ist allerdings, dass dieser metaphorischen Operation ein außerordentlicher Erfolg beschieden war. Abzulesen ist er daran, dass uns gewöhnlich gar nicht mehr zu Bewusstsein kommt, der Produktivität einer Metapher aufzusitzen, wenn Erkenntnisprozesse als optische Vorgänge beschrieben werden. Dabei könnte schon eine simple Gegenfrage für Irritation sorgen: Was sehen wir denn, wenn wir erkennen, dass 2 + 2 = 4 ist? Nichts! Nun könnte man einwenden, dass sei eben Mathematik und keine empirische Wissenschaft. Aber ist, nächste Gegenfrage, tatsächlich sichtbar, dass Regen die Ursache für eine nasse Straßenoberfläche ist? In der optischen Wahrnehmung bietet sich lediglich eine Abfolge unterschiedlicher Ereignisse. Die lassen sich allerdings verknüpfen. Aber wenn wir sie nach einem Kausalgesetz verknüpfen, ist dies keine Leistung unseres Sehapparats. Vielmehr folgen wir einer erlernten Regel, deren epistemologischer Status und kognitives Leistungsvermögen in unterschiedlichen Theorien menschlicher Erkenntnis alles andere als unumstritten ist.
Solche Erkenntnistheorien listen fünf menschliche Sinnestätigkeiten auf – sehen, hören, tasten, riechen und schmecken. Sie werden im Lauf einer langen Begriffsgeschichte unterschiedlich eingeteilt. Immanuel Kant etwa rubriziert ‚sehen‘, ‚hören‘ und ‚tasten‘ als „objektive Sinne“, während ‚riechen‘ und ‚schmecken‘ für ihn als „subjektive Sinne“ gelten. Wenn er den Tastsinn zu den objektiven Sinnesvermögen rechnet, so weil er der Überzeugung ist, dass sich das Volumen eines Körpers durch den Sehsinn allein nicht ermitteln lässt. Für Kant wäre daher kritikabel, dass Museen ihren Besucher:innen untersagen, die dort ausgestellten Skulpturen zu berühren. Damit wird, kantisch gedacht, eine wirkliche Erfassung von deren dreidimensionaler Gegenständlichkeit blockiert.
Unterschieden werden die fünf Sinne aber auch nach Nah- und Fernsinnen, wobei einleuchtet, warum das Sehen und Hören – anders als die übrigen Sinne – die lokale Nähe ihrer etwaigen Objekte nicht zur Voraussetzung haben. Einen Becher Eis kann man aus der Ferne anschauen; um zu erfahren, wie er schmeckt, ist direkter Kontakt mit der Zunge nötig. Weichenstellend für geläufige Vorstellungen davon, was die Quellen von Wissen seien, war eine letzte Unterscheidung, diejenige zwischen „theoretischen“ und „praktischen Sinnen“. Wenn ‚hören‘ und ‚sehen‘ im Gegensatz zu den anderen Mitgliedern in der Familie menschlicher Sinnesvermögen zu theoretischen Sinnen erklärt werden, kommt Etymologisches folgenreich ins Spiel, bezeichnet ‚theoria‘ im Griechischen doch eine Tätigkeit, die mit ‚Schau‘ und ‚schauen‘ übersetzt, also – gemäß der hintergründig wirksamen Metaphorik – mit optischer Wahrnehmung assoziiert wird. Platons Philosophie musste dann erhebliche Anstrengungen unternehmen, um irgendwie plausibel zu machen, dass ‚Theorie‘ eine besondere Art des Schauens sei, die nämlich, in der nicht flüchtige Einzeldinge wie bei alltäglicher Anschauung wahrgenommen werden, sondern nicht-empirische, außerhalb von Raum und Zeit situierte, ewige Gegenstände. Sie hat er bekanntlich „Ideen“ genannt, was auf das griechische Verb ‚eidein‘ verweist, also neuerlich auf das Sehen. Der Gedanke, eine Idee ließe sich mit dem Ohr begreifen, wäre für Platon und die an ihn anschließende Theorietradition absurd, während sich bis zum heutigen Tag die nicht minder absurde Annahme hält, Theoretiker:innen würden vermittels ihrer Erkenntnisse etwas sehen, was per definitionem kein Teil des raumzeitlichen Universums ist.
Es wäre verwunderlich, wenn die Soziologie, eine angesichts der skizzierten, weit zurückreichenden Geschichte zugegebenermaßen junge Disziplin, nicht an dem optischen bias laborierte, den sie mit fast allen Fächern teilt, die sich nebst empirischer Forschung auch Theoriebildung zumuten. Noch Soziopolis wirbt in seinem Untertitel nicht dafür, auf Gesellschaft zu hören, sondern dafür, sie zu beobachten. Daher schien es uns angebracht, einmal die Register zu wechseln, um dem Ohr einen eigenen Zutritt zu gewähren. So fragt Raymond Geuss in seinem Essay, ob die Entwicklung einer Gesellschaftsbeobachtung vorstellbar wäre, die Akustik wesentlich einbezieht, Max Weigelin unternimmt sinnessoziologische Sondierungen im Fußballstadion und Christian Grüny bespricht Eldritch Priests Studie Earworm and Event.
„Welcher Mangel oder Verlust eines Sinnes ist wichtiger, der des Gehörs und Gesichts?“ hatte sich Kant im ersten Teil seiner Anthropologie in pragmatischer Absicht gefragt, um mit einem soziologisch aufschlussreichen Befund zu antworten – „so wie man viele Blinde sieht, welche gesprächig, gesellschaftlich und an der Tafel fröhlich sind, so wird man schwerlich einen, der sein Gehör verloren hat, in Gesellschaft anders als verdrießlich, mißtrauisch und unzufrieden antreffen. Er sieht in die Minen seiner Tischgenossen allerlei Ausdrücke von Affekt oder wenigstens Interesse und zerarbeitet sich vergeblich, ihre Bedeutung zu errrathen, und ist also selbst mitten in der Gesellschaft zur Einsamkeit verdammt.“ Offenbar gibt es Gründe, anzunehmen, dass Geselligkeit, das heißt soziale Ordnung, ohne Gehör weder zu haben noch zu erkennen ist.
Die Redaktion
Christian Grüny | Rezension
Spekulationen über anonyme Klangereignisse
Rezension zu „Earworm and Event. Music, Daydreams, and Other Imaginary Refrains“ von Eldritch Priest