Dossier

Zwischen Emanzipation und Prostitution

Robert Michels und die Geschlechterdebatte im Deutschen Kaiserreich

Dem soziologisch und ideengeschichtlich geschulten Publikum ist Robert Michels als Klassiker der Parteien- und Elitensoziologie bekannt. Weniger bekannt sein dürfte hingegen sein publizistisches Engagement in der Geschlechterdebatte des Deutschen Kaiserreichs. In seiner Auseinandersetzung mit den zeitgenössischen Geschlechterverhältnissen nahm Michels zu vielen seinerzeit kontrovers diskutierten Fragen Stellung, unter anderem zu Brautstandsmoral, Ehe, Familie, Frauenwahlrecht, Pornographie, Prostitution, Sexualaufklärung und Sexualmoral. Diese Beschäftigung gipfelte 1911 in der Veröffentlichung der Essay-Sammlung Die Grenzen der Geschlechtsmoral, die lange Zeit in Vergessenheit geraten war und erst jüngst neu aufgelegt wurde. Der Wahlitaliener Michels beschäftigte sich jedoch nicht allein aus wissenschaftlicher Perspektive mit Geschlechterfragen, wie es andere Soziologen zu dieser Zeit ebenfalls taten, sondern suchte auch den Kontakt zu den Aktivistinnen der deutschen sowie italienischen Frauenbewegung.

Der junge Michels, so viel ist bekannt, sympathisierte mit sozialistischen Ideen und trat um die Jahrhundertwende sowohl der deutschen als auch der italienischen Sozialdemokratie bei. Für die Marburger SPD wirkte er von 1903 bis 1905 als Parteitagsdelegierter und kandidierte einmal erfolglos für den Reichstag. Als endgültig feststand, dass er aufgrund seines politischen Engagements (und trotz der engagierten Fürsprache Max Webers) keine universitäre Zukunft in Deutschland haben würde, zog Michels mit seiner Familie 1907 nach Turin. Dort fiel der italophile Michels zunehmend mit nationalistischen Tönen auf und wandelte sich mit der Zeit zu einem Anhänger Mussolinis. Ein Großteil der bisherigen Michels-Deutungen vertritt in der Folge die Auffassung, dass sich die spätere biografische Entwicklung bereits in früheren Lebensabschnitten angekündigt habe und sein Weg vom Sozialismus zum italienischen Faschismus einer gewissen Logik gefolgt sei.

Will man sich ein differenzierteres Bild von dem komplexen Autor und seinem heterogenen Werk verschaffen, kommt man nicht umhin, die Perspektive zu weiten, und auch die weniger bekannten Teile seines Schaffens in den Fokus zu rücken. Folgt man Timm Genett, der Michels im Gegensatz zur Mehrzahl der Interpreten als Pionier der Bewegungsforschung deutete, wird ersichtlich, dass die Geschlechterfrage für den jungen Michels gleichberechtigt neben der Klassen- und Nationalitätenfrage stand. In den Artikeln zur Geschlechterfrage, die er vor allem im ersten Jahrzehnt nach der Jahrhundertwende verfasste, ist von Desillusionierung und Ernüchterung nichts zu spüren. Michels setzte sich als Feminist sowohl für das Frauenwahlrecht als auch für eine umfassende Gleichstellung der Geschlechter ein – ein hehres Ziel gerade im Deutschen Kaiserreich, dem „Land aus Stuck“, wie es Michels einmal mit Bezug auf dessen fehlenden Modernisierungswillen genannt hat.

Wir nehmen die im Anschluss an die Neuauflage der Grenzen der Geschlechtsmoral (zaghaft) in Gang gekommene Rezeption der geschlechtersensiblen Arbeiten von Robert Michels zum Anlass für eine Standortbestimmung, die Michels’ Arbeiten im Kontext der um die Jahrhundertwende geführten Debatten zur Geschlechterfrage verortet. In einem fiktiven Gespräch zwischen Max Weber und Robert Michels lässt Ingrid Gilcher-Holtey zunächst die beiden miteinander befreundeten, aber keineswegs immer einigen Soziologen selbst zu Wort kommen. Eine vergleichende Perspektive wählen auch Hans-Peter Müller und Kerstin Wolff, die Michels’ Ansichten zur Geschlechterfrage mit den Positionen von Georg Simmel beziehungsweise Helene Stöcker kontrastieren. Anschließend nimmt Vincent Streichhahn Michels’ publizistische Zusammenarbeit mit den verschiedenen Flügeln der deutschen Frauenbewegung in den Blick. Und zuletzt fragt Sebastian Engelmann nach Michels’ Bedeutung für die Geschichte der Sexualpädagogik. Die Beiträge sind aus dem Workshop „Robert Michels – Die Grenzen der Geschlechtsmoral“ hervorgegangen, der vom 31. März bis 1. April 2022 an der Martin-Luther-Universität Halle- Wittenberg stattfand. Den Organisator:innen sowie allen Beitragenden des Workshops sei für ihre Kooperation und ihr Engagement an dieser Stelle ganz herzlich gedankt.

Die Redaktion

Ingrid Gilcher-Holtey | Essay

Max Weber und Robert Michels

Ein Gespräch über Ehe, Erotik, Ethik und die Frauen

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Hans-Peter Müller | Essay

Die Geschlechterfrage

Ein Vergleich der Positionen von Robert Michels und Georg Simmel

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Kerstin Wolff | Essay

Zwischen Klassenkampf und Frauenfrage

Robert Michels und Helene Stöcker über die Prostitution um 1900

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Vincent Streichhahn | Essay

Wechselnde Allianzen

Robert Michels im Spiegel seiner Korrespondenz mit den unterschiedlichen Flügeln der deutschen Frauenbewegung

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Sebastian Engelmann | Essay

„Der Rest wird sich schon ergeben“

Robert Michels über Erziehung und Sexualität

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