Matthias Koenig, Karin Gottschall, Hans-Peter Müller, Gesa Lindemann, Andreas Pettenkofer, Wiebke Keim, Heonik Kwon, Rudolf Stichweh, Martin Zillinger | Jubiläum |

Durkheim lesen!

Facetten eines Klassikers

 

Anlässlich des 100. Todestages von Émile Durkheim haben wir Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unterschiedlicher Disziplinen darum gebeten, den Stellenwert des Durkheim'schen Werks für sie persönlich und ihre Profession darzulegen. Dafür sei ihnen an dieser Stelle ganz herzlich gedankt. - Die Red.

Matthias Koenig: Durkheim & Weber statt Durkheim vs. Weber

Karin Gottschall: Geschlechterdifferenz als Mechanismus sozialer Integration?

Hans-Peter Müller: Nur Note 3?

Heonik Kwon: Visiting Durkheim's Grave

Gesa Lindemann: Zum Kult des Individuums

Andreas Pettenkofer: Der missverstandene Monsieur Durkheim

Wiebke Keim: Franzose, Jude und Positivist

Rudolf Stichweh: Durkheim, Differenzierungstheorie und die Soziologie der Professionen

Martin Zillinger: Die fremde Welt des Sozialen

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Matthias Koenig: Durkheim & Weber statt Durkheim vs. Weber

Dass Émile Durkheim bis heute zu den einflussreichsten Klassikern der Religionssoziologie gehört, ist unstrittig. Sein Spätwerk Les formes élémentaires de la vie religieuse (1912), nur vordergründig eine Studie des australischen Totemismus, entfaltet eine ambitionierte Theorie des Zusammenhangs von Sakralität und Sozialität und will damit gleichzeitig zur Lösung von Integrationsproblemen der Dritten Republik Frankreichs beitragen. Sein mit Marcel Mauss entwickeltes Argument, demzufolge Glaubensüberzeugungen und rituelle Praktiken in außeralltäglichen Kollektiverfahrungen verankert sind und diese ihrerseits reproduzieren, haben Durkheim-Schüler (z.B. Davy, Gernet, Granet) anhand der Religionsgeschichten Ägyptens, Griechenlands, Indiens und Chinas erhärtet. Seine Überlegungen zur Bedeutung von Symbolen des Heiligen in modernen arbeitsteiligen Gesellschaften wiederum standen unverkennbar im Hintergrund strukturfunktionalistischer Konzeptionen von Zivilreligion (Bellah) und mikrosoziologischer Interaktionsanalysen (Goffman, später Collins).

Dieser beeindruckenden Wirkungsgeschichte zum Trotz erscheint Durkheim in der gegenwärtigen religionssoziologischen Literatur eigentümlich randständig. Das gilt jedenfalls für die langjährigen Kontroversen um Säkularisierung, die sich im Wesentlichen auf die – je nach Perspektive schwindenden oder bleibenden – Bindungskräfte von Kirchen und anderen religiösen Organisationen in Europa und Nordamerika konzentrierte. Es gilt aber gleichermaßen für global vergleichende Forschungen zu öffentlicher Religion, fundamentalistischen Bewegungen und zur religiös imprägnierten Vielfalt der Moderne. Der Religionsbegriff wird dabei stets in Anlehnung an Max Weber über die Unterscheidung von Transzendenz und Immanenz – und eben nicht über Durkheims Unterscheidung von Heiligem und Profanem – entfaltet. An Durkheim anschließende Studien zu Formen des Sakralen und Prozessen der Sakralisierung haben sich in den letzten Jahren oft sogar außerhalb der Religionssoziologie entwickelt (Joas, Lynch).

Es bleibt daher ein Desideratum für die Religionssoziologie, die Durkheim‘sche und Weber‘sche Theorietradition systematisch miteinander zu verbinden. Einen wichtigen Versuch stellt in dieser Hinsicht die evolutionstheoretische Analyse von Religion im Spätwerk von Robert Bellah dar. Ihm zufolge wird die sakrale und rituelle Konstitution der Gesellschaft durch den Transzendenzschub der sogenannten Achsenzeit nicht einfach hinfällig. Elementarformen des Religiösen und ausdifferenzierte Erlösungsreligionen überlagern sich vielmehr auf komplexe Weise, bis hin zu den post-axialen Kulturen der Moderne. Solche Überlagerungen, Wechselwirkungen und Spannungsverhältnisse, wie sie sich beispielsweise in religiösen Nationalismen oder dem Kult der Menschenrechte artikulieren, historisch sensibel aufzuspüren und kulturvergleichend zu analysieren, ist zweifelsohne ein Forschungsprogramm von ungebrochener Aktualität.

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Karin Gottschall: Geschlechterdifferenz als Mechanismus sozialer Integration?

In der Rezeption von Durkheim wird häufig übersehen, dass die Basis seiner einflussreichen Theorie sozialer Integration in modernen Gesellschaften die Argumentationsfigur eines natürlich begründeten Geschlechterdualismus ist. Die Grundidee, dass soziale Bindungen nicht aus Ähnlichkeit, sondern aus Ungleichheit entstehen, führt Durkheim bereits früh in seiner Arbeitsteilungsstudie ein. In der ‚sexuellen Arbeitsteilung‘, d.h. in dem durch biologische Definition bedingt unterschiedlich ausfallenden Beitrag der Geschlechter zur Fortpflanzung, sieht Durkheim die Grundform sozialer Differenzierung, die in der monogamen Zivilehe der Moderne ordnungsstiftend institutionalisiert sei. Moderne Gesellschaften sind, gleich einer sozialen Pyramide, an der Basis durch ‚eheliche Solidarität‘ gekennzeichnet, darüber befindet sich das korporatistisch geregelte Berufswesen und an der Spitze der unitarische Nationalstaat, der durch staatsbürgerliche Pflichten und Rechte bindende Wirkung entfaltet. Die Integration von Frauen in die Gesellschaft vollzieht sich demnach über Fortpflanzung und Familienzuständigkeit, d.h. einen naturalistisch begründeten Kollektivstatus. Die höheren, auch Individualisierung ermöglichenden Formen der Integration, wie insbesondere die Teilhabe an Erwerbssphäre und Staat, sind demgegenüber Männern vorbehalten.

Prominent geworden ist die Vorstellung geschlechterdifferenter Kompetenzen und sozialer Räume im weiteren Verlauf nicht nur in Simmels ‚Soziologie der Geschlechter‘ und Parsons strukturfunktionalistischer Rollentheorie. Sie findet sich – von naturalistischen Grundannahmen mehr oder weniger befreit – seit den 1960er-Jahren auch in kritischen Vorstellungen des ‚Privaten‘ als weniger kolonisierter Lebenswelt (Habermas) und in Teilen der Frauenforschung, zum Beispiel in Konzepten wie dem ‚weiblichen Arbeitsvermögen‘ (Ostner/Beck-Gernsheim).

Freilich war Durkheims Sicht auf die Geschlechterdifferenz und deren Integrationswirkung schon zu seinen Lebzeiten gesellschaftsdiagnostisch unzulänglich. Denn die Unauflöslichkeit der Ehe wurde bereits in Frankreichs Dritter Republik durch ein moderat liberales Scheidungsrecht in Frage gestellt, Frauen waren sowohl in Hörsälen als auch auf dem Arbeitsmarkt präsent und das Frauen vorenthaltene Wahlrecht war politisch hoch umstritten. Auch auf theoretischer Ebene vermag Durkheims Konzeption von Integration durch eheliche Gemeinschaft und berufliche Arbeitsteilung nicht zu überzeugen, bleiben eheliche Machtbeziehungen und strukturelle Zusammenhänge zwischen Reproduktions- und Erwerbsarbeit sowie die hierarchische Struktur des Erwerbslebens doch unberücksichtigt.

Anknüpfungspunkte für eine kritische Soziologie finden sich bei Durkheim so weniger in seiner Geschlechtertheorie als in seiner handlungstheoretischen Vorstellung, dass gesellschaftlich produzierter Sinnbildung eine eigene Realität zukommt. Die Genese jener sozialen Tatsachen, ist – gerade auch im Hinblick auf Geschlecht – dann freilich eher in sozialkonstruktivistischen Ansätzen gewinnbringend ausbuchstabiert worden. Aktuell bleibt, changierend zwischen Sozialtechnologie und Aufklärung, auch Durkheims Verständnis einer ‚säkularen Mission‘ der Soziologie, die soziale Mechanismen und Krisen des gesellschaftlichen Zusammenhaltes theoretisch wie empirisch, durch Beobachten und Messen, aufzuspüren vermag.

Literaturangabe[1]

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[Hans-Peter Müller: Nur Note 3?]

„Durkheim is well-known but not known well!“ Das ist eine überraschende Feststellung zu seinem 100. Todestag am 15. November 2017. Auf diese Kurzformel haben bereits Harry Alpert im Jahre 1939 und kürzlich Susan Stedman Jones (2001, X) den Befund zu Status und Stellenwert des „père fondateur“ der französischen Soziologie gebracht. Das ist mehr als erstaunlich, wird doch Émile Durkheim neben Karl Marx und Max Weber zur heiligen Triade der klassischen Soziologie gezählt. Er gehört zu den am meisten zitierten Soziologen, wie Marcel Fournier (2005, 41) am Beispiel des „American Journal of Sociology“ zwischen 1895 und 1992 nachweisen konnte – knapp geschlagen nur von Max Weber.

In Deutschland hat René König (1976) von einem „unbekannten Durkheim“ gesprochen. Hinzufügen könnte man angesichts der Missverständnisse, die noch immer sein Werk umranken, die Rede von einem „verkannten Durkheim“ (Müller 2012). Durkheim wurde unter anderem ein überzogener Soziologismus vorgeworfen, dem zufolge die Soziologie angeblich alles erklären kann. Hinzu kamen Einwände gegen seinen Positivismus und Empirismus, seinen Funktionalismus und Strukturalismus, seinen Konservatismus und Anti-Individualismus, sein unkritisches Ordnungs- und Konsensusdenken. Kurzum: Durkheim wurde zum „Anderen“ in der deutschen Soziologie, mit dessen bürgerlicher Soziologie (Adorno 1976) man sich darum gar nicht weiter zu beschäftigen brauchte. „Vorurteile“ vermögen zuweilen leider die Lektüre zu ersetzen und nur wer sich von den unangefochtenen Autoritäten in der alten Bundesrepublik Deutschland nicht verführen ließ, riskierte vielleicht überhaupt einen Blick in Durkheims Studien. So blieb sein Name zwar bekannt und im Gedächtnis, sein Werk jedoch blieb dem Verständnis der deutschen Leserschaft weitgehend verschlossen. Wer sollte sich in der deutschen Soziologie nach dem Zweiten Weltkrieg auch schon mit Positivismus, Empirismus und Konservatismus ernsthaft beschäftigen wollen? Ein anekdotisches Beispiel mag die fehlende Wertschätzung für den französischen Klassiker in Deutschland illustrieren: Im Mekka der Soziologie der 1960er-Jahre, an der Freien Universität Berlin, zog derjenige in Theorieprüfungen einen Vergleich zwischen Marx und Weber, der Note 1 wollte. Wer die 2 anstrebte, wählte entweder Marx oder Weber. Wer sich dagegen mit einer 3 zufrieden geben konnte, trug Durkheim vor.

Erst in jüngster Zeit kommt Bewegung in die Diskussion: Durkheim wird als einflussreicher Denker für Soziologie, Ethnologie und Philosophie (Bogusz/Delitz 2013) auch in Deutschland entdeckt. Zudem geben zwei kompetente und knappe werkbiographische Einführungen den Stand der internationalen Durkheim-Forschung (Suber 2012, Delitz 2013) wieder. Eine Lanze für den Menschen Émile Durkheim hat vor allem die umfangreiche Biographie von Marcel Fournier (2007) gebrochen, die zwar das Standardwerk von Steven Lukes (1973) nicht ersetzen, aber um wertvolle neue Einsichten zur Person ergänzen kann. Ironischerweise ist es dieses Mal ausgerechnet ein Franzose, der vor Durkheim warnt und dafür plädiert, anstelle von Durkheim dessen Antipoden Gabriel Tarde zu studieren. Aber sollen wir Durkheim ausgerechnet zu dem Zeitpunkt vergessen, wo er in Deutschland endlich wiederentdeckt wird?

Bruno Latour (2007) ist immer für Überraschungen und extreme Wendungen gut, aber wer mit seinem Werk vertraut ist, wird des Durkheim‘schen Erbes in seinem Denken rasch gewahr werden. Selbst seine „Akteur-Netzwerk-Theorie“ (ANT) ist von solchen Zügen nicht frei. Latours Plädoyer für das Studium von Assoziationen, statt der Gesellschaft, hätte im Übrigen Émile Durkheim gern unterschrieben, zumal er selbst genau das bereits gefordert hatte.

Hundert Jahre nach seinem Tod ist es angebracht, die Diskussion wieder aufzunehmen und sich zu fragen, was Durkheim den heutigen Sozialwissenschaften zu sagen hätte. In meinen Augen kann man sehr viel von seinen Arbeiten profitieren. Nirgendwo wird man besser als bei ihm soziologisches Denken lernen, zugleich aber auch die Grenzen des eigenen Faches kennenlernen. Durkheim gehört in das Lager der Differenzierungstheorie, der in unnachahmlicher Weise die Frage nach dem Verhältnis von Arbeitsteilung und Solidarität stellt, aber auch die Frage nach Differenzierung und Individualität aufwirft. Vieles von dem, was Ulrich Beck (1986) in seiner Individualisierungstheorie diskutiert hat, findet sich bei Durkheim vorformuliert und nicht nur das: In manchen Punkten ist er wesentlich expliziter als Beck. Was sein methodisches und methodologisches Programm angeht – vor allem, wie er es in seinem Manifest, den „Regeln der soziologischen Methode“, aufgestellt hat – so klingt es starr und rigide. In einigen Punkten kann es sicherlich so nicht aufrecht erhalten werden. Als lehrreiche Instanz dafür, wie man im Prinzip Soziologie als rationale, empirische und möglichst vorurteilsfreie Erfahrungswissenschaft zu betreiben hat, darf es jedoch zweifelsohne immer noch als „Paradigma“ im Sinne eines „Vorbildes“ und eines lehrreichen Beispiels gelten.

Es ist daher wenig überraschend, dass Pierre Bourdieu, Jean-Claude Chamboredon und Jean-Claude Passeron (1991) in ihrem Standardwerk zur „Soziologie als Beruf“ neben Gaston Bachelard und George Canguilhem, Marcel Mauss und Claude Lévi-Strauss vor allem auf Durkheims „Regeln“ zurückgreifen. Sein Werk ist schlicht instruktiv, wenn es darum geht zu lernen, wie man Soziologie macht. Die Suizidforschung zählt Durkheims Selbstmordstudie zu ihren Klassikern, aber auch die Soziologie des abweichenden Verhaltens wie die Kriminologie zählen ihn zu ihrem Kanon, den man kennen muss. Den größten Fußabdruck dürfte Durkheim darüber hinaus in den beiden Kerngebieten seiner Soziologie hinterlassen haben: der Moral und der Religion. Wie kein anderer Klassiker hat Durkheim die Soziologie als Moralwissenschaft verstanden und da eine moderne Gesellschaft komplex ist, braucht sie ein entsprechend kompliziertes Moralsystem, das es in allen Einzelheiten zu untersuchen gilt. Durkheim entwirft daher eine Sozialisations- und Erziehungstheorie, die erklären soll, wie aus Menschen moralische Wesen gemacht werden und wie man sie aus dem heteronomen Stadium ihrer Existenz in das einer autonomen Person überführt. Er studiert historisch-empirisch das Erziehungs- und Universitätswesen, um der Praxis oder besser den Praxen der Edukation auf die Spur zu kommen. Zudem entwirft er eine komplexe staatsbürgerliche Moral und Zivilreligion, die dem Niveau von Demokratie, Menschenrechten und individueller Freiheit gerecht werden kann. Während Max Weber als der Religionssoziologe gilt, der sein Werk den Weltreligionen in unnachahmlicher Weise gewidmet hat, so ist Durkheim der Religionssoziologe, der sein Augenmerk auf die Ursprünge und elementaren Funktionsweisen des Religiösen in paradigmatischer Manier gerichtet hat. In eins damit studiert er im Rahmen seiner Erkenntnissoziologie, wie elementare Distinktionen und Klassifikationen entstehen und wirken, die unser Handeln und unsere Lebensführung orientieren. Insofern ist Durkheim auch ein Ahnherr der kognitiven Soziologie und Anthropologie (Bourdieu 1981, Lévi-Strauss 1979, Zerubavel 1993).

Das alles sind nur die großen Linien der Anschlussfähigkeit des komplexen Werkes des Franzosen, das es wieder zu entdecken und neu zu lesen gilt.

Literaturangaben[2]

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Heonik Kwon: Visiting Durkheim's Grave

A memorable event took place in the Collège de France in June 2012—to mark the centenary of The Elementary Forms of Religious Life, Durkheim’s magnum opus, first published in 1912. Our French colleagues invited scholars to discuss the enduring relevance of Durkheim’s oeuvre in different disciplines, from international law to science studies. Notable among the overseas participants was Karen Fields, an American sociologist of African-American descent and the author of the magnificent new English translation of The Elementary Forms published in 1991. Karen noted on how we might see Durkheim’s work, and that of his close associates in L’Année sociologique, as a concerted effort to resist the waves of totalitarianism even before they took manifest forms. She shared her first encounter with the text, in which she heard a powerful voice of human emancipation from racial hierarchy. For my part, I touched upon an element of moral hierarchy existing within The Elementary Forms. I argued that Durkheim’s homo duplex, which he expressed through the concept of the soul, both individual and social, remains a powerful idea. However, I also noted that the concept focuses too narrowly on communally revered spirits only, ignoring the politics of exclusion that the making of these “true spirits” necessarily involves.

After the two-day conference was over, I went to visit Durkheim’s grave at the Montparnasse cemetery with a close friend. It was a pleasant walk, and the weather was excellent. I left on the grave a copy of the conference brochure in a plastic cover. On our way back, I could not help wondering why I was not able to persuade other colleagues to join us in this visit, asking myself: wouldn’t it be in keeping with the spirit of Durkheim’s scholarship, after discussing so much about his legacies, to pay tribute to the man in person?

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Gesa Lindemann: Zum Kult des Individuums

Émile Durkheim ist bekannt für seine Theorie der gesellschaftlichen Arbeitsteilung und für seine forschungspraktische Aussage, dass das Soziale wie eine Tatsache zu behandeln sei. Weniger bekannt ist, dass er eine Theorie vorgelegt hat, die einen immanenten Widerspruch im Ethos der Menschenrechte thematisiert, letzteres analysiert Durkheim als einen Kult des Individuums. Durkheim zufolge müssen die Menschenrechte einerseits durch den Staat garantiert werden, andererseits sollen sie aber global gelten. Denn das Ethos der Menschenrechte bezieht notwendigerweise alle menschlichen Individuen ein.

Für Durkheim gestaltet sich der Unterschied zwischen vormodernen und modernen Gesellschaften wie folgt: Während das Individuum in vormodernen Gesellschaften von einzelnen gesellschaftlichen Subgruppen vereinnahmt wird und primär als Teil jener Gruppe eine bestimmte Funktion für diese erfüllt, besteht das Charakteristische der modernen Gesellschaft darin, dass der Staat das Individuum aus den gesellschaftlichen Subgruppen herauslöst. Man kann sich das an der für Durkheim als besonders problematisch geltenden Familie vergegenwärtigen. Sie tendiert dazu, das Individuum vollständig ihrer Gewalt zu unterwerfen. Dem Familienoberhaupt kommt beispielsweise. die Macht zu, Familienangehörige zu bestrafen, wenn sie nicht im Interesse der Familie agieren. Der Staat jedoch begrenzt den Zugriff der Familie auf das Individuum, indem er es ausschließlich seiner Gewalt unterwirft, er befreit es von den Zwängen der Familie und ermöglicht damit die Zugehörigkeit zu mehreren gesellschaftlichen Subgruppen. Dabei soll auch der Staat allerdings das Individuum nicht vollständig vereinnahmen, was dadurch verhindert wird, dass die verschiedenen gesellschaftlichen Subgruppen ein Gegengewicht zum Staat bilden. Auf diese Weise entsteht ein Gleichgewicht im Zugriff unterschiedlicher Gruppen auf das Individuum, wodurch dieses in die Lage versetzt wird, als Glied unterschiedlicher gesellschaftlicher Subgruppen und als Glied des Staates, als Staatsbürger/in, zu fungieren.

Ein solches Gleichgewicht bildet für den späten Durkheim das Sturkturmerkmal moderner Gesellschaften. Aufgabe des Staates ist es, den Kult des Individuums bzw. das Ethos der Menschenrechte zu fördern. Dessen faktische universelle Geltung bleibt also notwendigerweise auf die Grenzen des Staates angewiesen. Diese Einsicht gilt es weiterzuentwickeln. Auf diese Weise könnte die Soziologie zum Beispiel in der gegenwärtigen Debatte um die Menschenrechte und den Umgang mit Flüchtlingen wichtige Orientierungen für eine realistische Politik bieten, die die faktischen Bedingungen der Geltung des Ethos der Menschenrechte sichert.

Literaturangaben[3]

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Andreas Pettenkofer: Der missverstandene Monsieur Durkheim

Unter den soziologischen Klassikern ist Durkheim wohl der am meisten missverstandene. Gerade in der deutschsprachigen Debatte gilt er als ein Theoretiker, der alles aus einem ‚sozialen Zwang‘ heraus erklären will, den gesellschaftliche Makrostrukturen ausüben, und dadurch ein höchst statisches Bild des Sozialen zeichnet. Die Lektüre seiner eigenen Texte offenbart jedoch etwas anderes: Tatsächlich entwirft Durkheim ein Konzept prekärer Ordnungen, die sich – ohne auf einem festen Grund aufzuruhen – immer nur von Situation zu Situation erhalten, getragen allein durch störanfällige Sequenzen von Ereignissen, in denen die Plausibilität der geltenden Deutungsmuster bestätigt werden (und die sich nur so lange erhalten, wie diese Bestätigungen eintreten). Am weitesten ausgearbeitet hat Durkheim dieses Motiv in einer eigenwilligen Neulektüre ethnographischer Berichte, die sich den religiösen Praktiken australischer Aborigines widmen. Die im Raum verstreute Wüstengesellschaft sieht er hier als den (auch zur Analyse ‚moderner‘ Ordnungen geeigneten) Modellfall einer Struktur, die ihren Fortbestand allein den praktizierten, wiederkehrenden Ritualen verdankt. Durkheims Soziologie hilft also gerade, den Prozesscharakter des Sozialen und den zunächst je lokalen Charakter sozialer Ordnungsbildung genauer zu begreifen. (Der Begriff ‚Gesellschaft‘ steht bei Durkheim zuallererst für solche lokalen Ordnungen; Durkheim spricht – was die deutschen Übersetzungen konsequent verbergen – auch von société familiale und société conjugale. Projiziert man den heute gängigen soziologischen Begriff von Gesellschaft auf Durkheims Werk – ungefähr: die größte denkbare soziale Entität überhaupt –, dann lassen sich seine Argumente kaum verstehen.) Zudem gelingt es Durkheim durch diese Situationsanalysen, nicht – wie im heutigen soziologischen Mainstream gängig – die unterstellten Dispositionen und Präferenzen der beteiligten Individuen als Ausgangspunkte soziologischer Erklärungen zu behandeln: Auch das, was den beteiligten Individuen heilig ist – das, was diese Individuen als Personen ausmacht – erweist sich als Produkt solcher Sequenzen von Situationen, statt als eigenstabiles Merkmal dieser Individuen. Eine Lektüre des Durkheim’schen Werks lohnt sich also auch, weil sie dabei hilft, eine Alternative zu jenem rationalistischen Individualismus zu entwickeln, der die Sozialwissenschaften heute dominiert.

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Wiebke Keim: Franzose, Jude und Positivist

„1895 Durkheim. L’avènement de la sociologie scientifique“, so der Titel, den der Erkenntnistheoretiker Jean-Michel Berthelot seiner Durkheim-Monographie gab. Denn im Jahr 1895 veröffentlichte Durkheim die Regeln der soziologischen Methode, mit denen er die methodologischen und erkenntnistheoretischen Grundlagen eines ganzen Zweiges dieser Disziplin legte – in der Tat ein programmatischer Text. Die Soziologie wird hier als vollständige Wissenschaft legitimiert und auf dem Wissenschaftsmodell der Naturwissenschaften errichtet. Die Anwendung des experimentellen Schlussfolgerns als Methode zur Untersuchung sozialer Erscheinungen verlangt nach einer einwandfreien Beweisführung sowie den grundlegenden Operationen des experimentellen Argumentierens und der kausalen Erklärung.

Doch war es oftmals nicht die Auseinandersetzung mit diesem Programm, die Durkheims Rezeption über Frankreich hinaus dominierte. Im deutschsprachigen, von den „verstehenden“ Ansätzen geprägten Raum, war nicht nur seine Verortung in der cartesianischen Tradition für eine angemessene Würdigung hinderlich. Durkheim vereinte als Franzose, Jude und Positivist eine über lange Zeit hindurch denkbar ungünstige Kombination von Merkmalen, die verhinderte, dass er in der deutschen Wissenschaftslandschaft breite Anerkennung fand. Aller historischen Widrigkeiten zum Trotze hat sich nach und nach dennoch auch hier das Bild Durkheims als eines klassischen Mitbegründers der Disziplin durchgesetzt.

In der Türkei erfahren angehende SoziologInnen hingegen bereits im ersten Studienjahr, dass sie ohne eingehende Durkheim-Lektüre ihr eigenes Land nicht angemessen werden verstehen können. Ziya Gökalp (1876-1924) – heute als Begründer der türkischen Soziologie gefeiert, wobei es zahlreiche Dunkelstellen in seiner Biographie gibt – erhielt wohl als zweiter Fachvertreter weltweit 1912 eine Professur für Soziologie an der Darülfünun. Gökalp erklärte sich ausdrücklich zum Durkheim-Anhänger. Nicht nur in der Wissenschaftsgeschichte des Landes hinterließ Durkheim so sein Erbe. Als Mitglied der İttihad ve Terakki und als Berater Atatürks übersetzte Gökalp soziologische Ideen in politische Reformen. Sein intellektueller Einfluss auf die Errichtung der modernen Republik Türkei und auf die Erfindung des türkischen Nationalismus ist bis heute prägend. Bei den Kobani-Ausschreitungen im Oktober 2014 verbrannte Gökalps Geburtshaus in Diyarbakır samt seiner Bibliothek, in der sich auch eine Ausgabe der Regeln befand.

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Rudolf Stichweh: Durkheim, Differenzierungstheorie und die Soziologie der Professionen

Im Sommer 1973, ich hatte zu dem Zeitpunkt die ersten beiden Semester Soziologiestudium hinter mir, hatte ich für eine vielleicht zehntägige Reise mit einem Familienmitglied Durkheims De la division du travail social (1893) eingesteckt. Ich verband keine besonderen Erwartungen mit diesem Buch, es war eher die Vorstellung, dass man es als Soziologe vermutlich einmal lesen müsse. Völlig überraschend war dann doch die Lektüre eine der bestimmendsten Leseerfahrungen, die ich je gemacht habe. Mein alles andere als wohlgeordneter Studienbeginn hatte aus mäßigen Lehrveranstaltungen bestanden. Jetzt stand auf einmal die Soziologie in einer zuvor nicht gekannten eindrucksvollen Gestalt vor mir. Die Soziologie fing in diesem Buch als Wissenschaft an, aber sie fing auch für mich persönlich mit diesem Buch noch einmal an, als eine strenge, reiches historisches Material in sich einbeziehende, aber dieses ihrem argumentativen und begrifflichen Ordnungswillen unterwerfende Wissenschaft. Ich war etwas, was ich zuvor noch nie gewesen war: ich war stolz, dass ich vielleicht ein Soziologe werden könnte; und ich war mir der kognitiven Neuheit einer auf die Realität von ‚Gesellschaft‘ setzenden Perspektive bewusst, die mit diesem Buch formuliert wurde.

Die Einflüsse dieser Lektüre sind bis heute da. Sie hat die Überzeugung mit geformt, dass ‚Differenzierung‘ vielleicht die am stärksten die Disziplin vereinheitlichende kognitive Perspektive ist. Als ich in den 1990er-Jahren, zwanzig Jahre nach der Lektüre der Division du travail, die Grundlagen meiner Theorie der Professionen formuliert habe,[4] spielte in diesen Überlegungen die Idee des monoprofessionellen Funktionssystems als einer Überleitungsinstitution zu den Strukturen der modernen Gesellschaft eine wichtige Rolle. Ein monoprofessionelles Funktionssystem ist ein System, in dem nahezu alle Leistungsrollen des Systems durch eine einzige homogene Profession besetzt werden und andere eventuell mitwirkende Berufe dieses Funktionssystems dieser dominierenden Profession subordiniert sind (Klerus, Juristen, Ärzte). Dies ist eine Struktur, die sowohl in eine ständische wie in eine funktional differenzierte Gesellschaft einpassbar ist, die aber in der Welt des 20. und 21. Jahrhunderts, in der es allenfalls multiprofessionelle Funktionssysteme gibt, verschwunden ist. Als ich in den neunziger Jahren diese professionssoziologischen Texte schrieb, war mir nicht bewusst, dass ich mir diesen historisch-soziologischen Ordnungsvorschlag ohne die in der Division du travail social formulierte Theorie der Berufsgruppen, die die Familie als generationsübergreifendes und deshalb zentrales gesellschaftliches Ordnungselement ablösen, vermutlich gar nicht hätte ausdenken können. Man kann heute niemandem versprechen, dass die Lektüre von Durkheim bei der Lösung soziologischer Probleme immer wieder anregend sein wird. Aber die starke Erfahrung der Soziologie als einer wichtigen Wissenschaft mit einem nicht durch anderes ersetzbaren kognitiven Profil wird man auch heute noch bei der Lektüre von Émile Durkheim – die französische Sprache ist dafür vermutlich wichtig – machen können.

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Martin Zillinger: Die fremde Welt des Sozialen

Nach Abschluss seiner Studie zum Selbstmord beginnt die eigentlich „ethnografische Phase“ im Schaffen Durkheims. Die Aufarbeitung ethnologischer Literatur stand im Zentrum der L’Année Sociologique und der Arbeiten zu Religion und Magie der Durkheimschule, von der bei Mauss und Hubert in Auftrag gegebenen Theorie der Magie 1902/1903 bis zur Veröffentlichung der Elementaren Formen des religiösen Lebens 1912. Während die deutsche und US-amerikanische Ethnologie in wichtigen Bereichen Eingang in die Arbeiten Durkheims gefunden haben, im Fortgang dann aber eher parallel laufende Debatten entwickelten (etwa bei dem zentralen Thema der „Körperschaften“, vgl. Kramer 2000), kann die Wirkung der systematischen Re-Analysen englischer ethnologischer Schriften durch Émile Durkheim und seine Équipe in Großbritannien kaum überschätzt werden: Durch die frühe Rezeption der L’Année Sociologique und der Elementaren Formen durch Radcliffe-Brown wurden die Arbeiten aus Paris nach England re-importiert und fielen insbesondere in Oxford auf fruchtbaren Boden. Dadurch wurde die ‚vergleichende Soziologie’ französischer Prägung zur Grundlage der englischen Sozialanthropologie (vgl. Segal 1999, Kuper 1983, Kramer 1983) und später programmatisch in den Arbeiten Meyer Fortes’ und Edward Evans-Pritchards weiterentwickelt. Die Wirkungsgeschichte der Durkheimschule über die Vermittlung der social anthropology ist komplex. So sei nur kurz darauf hingewiesen, dass sich Einflüsse Durkheims nicht nur im „Strukturfunktionalismus der bürgerlichen Soziologie, insbesondere [...] der Parsonsschen Theorie“ (Sigrist 1983: 34) nachverfolgen lassen, sondern auch in der deutschen Ethnologie der Nachkriegszeit, für die die Rezeption der britischen Anthropologie zu einem Mittel wurde, sich von der durch den Nationalsozialismus schwer belasteten Lehrergeneration zu befreien (Kramer 2005: 121).

Während Malinowski und Radcliffe-Brown früh dafür sorgten, dass stationäre Feldforschungen ins Zentrum der britischen Sozialanthropologie rückten, brachte die erste Generation der Durkheimschule abgesehen von wenigen kleineren Arbeiten keine eigenen empirischen Forschungen hervor. Das änderte sich substanziell erst mit der Gründung des Institut d’ethnologie, an dem unter der Anleitung Marcel Mauss’ zwischen 1925 und 1940 über 100 Feldforschungen durchgeführt wurden (Karady 1981: 176). Heute steht Marcel Mauss in der Rezeption der Durkheimschule häufig im Vordergrund – nicht nur, aber auch in der Ethnologie, in der seine ethnografischen Untersuchungen und informierten Weiterentwicklungen Durkheim‘scher Ideen rezipiert werden. Obgleich die Arbeit beider nur aus der Kooperation heraus verständlich wird, ist es doch Durkheim, dessen systematische Ideen die Grundlage für diese Kooperation darstellten. Ein prominentes Beispiel sind Durkheims Arbeiten zum Begriff der effervescence. Offenbar in enger Zusammenarbeit mit Mauss entwickelt, setzen sie bereits mit der Selbstmordstudie ein, werden dann systematisch aus der Analyse ethnografischer Berichte weiterentwickelt (vgl. Zillinger 2015) und bleiben bis heute eine wichtige Referenz für empirische Sozialforschungen.

Die Bedeutung der Efferveszenz bei Durkheim und Mauss geht über den engen Bereich der Ritualtheorie hinaus: Es ist als fait social ein sozialtheoretischer Grundbegriff, wie mir immer wieder in meinen Arbeiten zu marokkanischen Trancebruderschaften in Marokko und der marokkanischen Migration deutlich wird und wie ich anhand einer ethnografischen Vignette verdeutlich möchte.

In sechs Jahren klandestiner Migration wird man sich und den Seinen fremd. Als ich den Seher Tami im Sommer auf seinem Weg von Paris zurück nach Marokko begleitete, wog die Unsicherheit schwer, wie nun mit der doppelten Entfremdung von allen Seiten umgegangen werden würde. Doch er hatte die Reise so gelegt, dass schon bald die Rituale zum islamischen Neujahrsfest, ʻāšūrā’, stattfanden. Immer wieder versammelten sich in den folgenden Tagen die Adepten der ʻIsāwa-Bruderschaft, der er seit seiner Jugend angehörte, um zur Musik der Oboen und Trommeln im ṣaff – Schulter an Schulter – die ekstatischen Tänze der Bruderschaft aufzuführen.

Geübt geht der Rückkehrer Tami mit weiteren Vortänzern in die Beuge, spreizt ein Bein ab und dreht sich in schnellen Bewegungen um die eigene Achse. Umringt von den anderen tanzenden Adepten springen die Tänzer in Mitten der wogenden Körper in die Luft, drehen sich, reißen die Arme hoch und klatschen sich im Takt der Musik ab. Sie rufen laut und gedehnt den Namen Gottes aus und laufen die Reihe entlang. Die Tänzer im ṣaff steigern ihren Rhythmus zur Musik, sie reißen ihre Fersen vom Boden und schleudern ihre Arme von sich. Tami dreht sich um die eigene Achse, geht in die Beuge und springt hoch, er heizt den Tänzern ein, deren Bewegungen sich in ihm verstärken. Ein weiterer Vortänzer wirbelt um die eigene Achse an den Männern und Frauen entlang, und springt auf und nieder. Die Tänzer vergessen die Welt um sich herum – entfernen sich von dem Gegebenen [iġībū ʻala al-wuǧūd] wie es im marokkanischen Arabisch heißt – und tanzen sich in Trance. Tami wächst mit jeder Minute über sich und alle Momente von Entfremdung hinaus – mit ausladenden und fordernden Bewegungen tanzt er auf die anderen Adepten zu, vor ihnen und mit ihnen.

„Man kann sich leicht vorstellen, dass sich der Mensch bei dieser Erregung nicht mehr kennt. Er fühlt sich beherrscht und hingerissen von einer Art äußerer Macht, die ihn zwingt, anders als gewöhnlich zu denken und zu handeln. Ganz natürlich hat er das Gefühl nicht mehr er selbst zu sein. Er glaubt sogar, ein neues Wesen geworden zu sein. [...] Da sich aber zur gleichen Zeit auch seine Genossen auf die gleiche Weise verwandelt fühlen und ihr Gefühl durch ihre Schreie, ihre Gesten und ihre Haltung ausdrücken, so geschieht es, dass er sich wirklich in eine fremde, völlig andere Welt versetzt glaubt als die Welt, in der er gewöhnlich lebt, in eine Umwelt voller intensiver Kräfte, die ihn überfluten und verwandeln.“ (Durkheim, Elementare Formen 1981: 300)

Alle Gefühle gegenseitiger Entfremdung und subjektiver Verlorenheit werden mit den Körpertechniken der Trance in eine gemeinsame Entfremdungserfahrung der Selbstüberschreitung übersetzt. Diese andere Welt des Rituals, in der sich die Tänzerinnen und Tänzer immer wieder aufs Neue verwandelt erleben, bewirkt überschießende Kräfte, die als externe Kraft von außen auf die Tanzenden einwirken. Die soziale Welt wird in der efferveszenten Versammlung als fremde Welt hervorgebracht und findet zugleich Eingang in die subjektive Gefühlswelt der Anwesenden.

„Die entfesselten Leidenschaften sind so heftig, dass sie durch nichts mehr aufgehalten werden können. Man ist derart außerhalb der gewöhnlichen Lebensbedingungen und man ist sich dessen derart bewusst, dass man sich notwendig außerhalb und überhalb der gewöhnlichen Moral befindet.“ (ebd.: 297–98)

Der Selbstverlust tritt also durch Überreizung ein, in der sich die Menschen allerdings in der efferveszenten Bewegung der Selbstüberschreitung angesichts eines „ungewöhnliche[n] Übermaß[es] an Kräften, die ausufern und nach außen drängen“ (ebd.: 290) zunächst ihrer selbst überdeutlich bewusst werden. Wie bei dem Redner, der erlebt, dass die „Gefühle, die er hervorruft“ (ebd.), zu ihm zurückkommen, nur mächtiger und vergrößert, und in ihm widerhallen, so erleben die Trance-Tänzer selbst-bewusst, wie die efferveszenten Versammlungen im Ritual starke Kräfte hervorrufen, die sie „überfluten“ bis sie einen Selbstverlust durchleben und durch die Krise der Präsenz (De Martino) über sich hinauswachsen, sich als „neue Wesen“ erleben. Tami, so wurde mir klar, ist ein Experte für diese Fremderfahrungen und war durch seine rituellen Erfahrungen ein marginal man lange bevor er in die Migration ging.

Die Darstellung der effervescence als fait social durchzieht die Arbeiten der Gründer der Schwesternwissenschaften Ethnologie und Soziologie in Frankreich – von den frühen Arbeiten Marcel Mauss’ zur Magie und sozialen Morphologie über Durkheims Elementare Formen und die Weiterentwicklung zum fait social total in der Mauss‘schen Gabe. Effervescence wurde so zum Eckstein ihres sozialwissenschaftlichen Unternehmens. Als fait social bildet es zugleich die Kategorie der Totalität und damit die Basis ihres monumentalen Kategorien-Projekts. Nota bene: Die Gesellschaft als externe Kraft wird beständig in der Interaktion hervorgebracht – und kann nicht statisch vorausgesetzt werden.

Wer einmal ein ekstatisches Ritual und die fremde Fremderfahrung der Feldforschung erlebt hat, kann nur staunen, wie detailliert Durkheim diese zwischen Selbstwahrnehmung und Selbstverlust changierende Verlaufsform ritueller Sozialität auf der Grundlage früher Ethnografien zum australischen „corrobbori“ beschrieben hat. Durkheim hat nie Feldforschung betrieben. Deshalb lehrt uns sein Werk bis heute nicht nur die Grundlagen der Sozialtheorie, sondern auch ein fast vergessenes Handwerk: Ethnografien immer wieder von Neuem so zu lesen, dass sie uns die fremde und zugleich vertraute Welt des Sozialen erschließen.

Literaturangaben[

Fußnoten

 

[1] Karin Gottschall, Soziale Ungleichheit und Geschlecht. Kontinuitäten und Brüche, Sackgassen und Erkenntnispotentiale im deutschen soziologischen Diskurs. Opladen 2000.

[2] Theodor W. Adorno, Einleitung zu É. Durkheim, Soziologie und Philosophie, 7-44. Frankfurt am Main 1976.
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[4] Rudolf Stichweh, Wissenschaft, Universität, Professionen, Frankfurt am Main 1994, Neudruck Bielefeld 2013; Bd. 2, Bielefeld 2018.

[5] Victor Karady, French Ethnology and the Durkheimian Breakthrough, Journal of the Anthropological Society of Oxford XIII 1981, S. 165–176.
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  1. University of Toronto, Remembering Lee Ann Fujii; Erin Tolley, Remembering Lee Ann Fujii, a Friend and a Fighter.
  2. In dieser via Youtube verfügbaren Vorlesung erläutert Lee Ann Fujii unter anderem ihr Konzept des Violent Display.
  3. Lee Ann Fujii, Killing Neighbors: Webs of Violence in Rwanda, Ithaca 2009.
  4. Siehe dazu maßgeblich Elizabeth Jean Wood, Insurgent Collective Action and Civil War in El Salvador, Cambridge 2003; Stathis N. Kalyvas, The Ontology of ‚Political Violence’: Action and Identity in Civil Wars, in: Perspectives on Politics 1(2003), 3, S. 475–494; Stathis N. Kalyvas, The Logic of Violence in Civil War, Cambridge 2006.
  5. Elizabeth Jean Wood, The Social Processes of Civil War: The Wartime Transformation of Social Networks, in: Annual Review of Sociology 11 (2008), S. 540.
  6. Scott Strauss, The Order of Genocide: Race, Power, and War in Rwanda, Ithaca 2006.
  7. Muster sozialer Beziehungen strukturierten die Auswahl von Zielen, denn Denunziationen basierten in der Regel auf zuvor bestehenden persönlichen Banden – sie richteten sich gegen den Schwager, die Nachbarin oder die Arbeitskollegin, selten gegen gänzlich Fremde. In einigen Fällen führten Freundschaftsbande dazu, dass bestimmte Personen geschont oder gewarnt wurden. Die Rekrutierung zur Teilnahme an der Gewalt erfolgte dabei vor allem über persönliche Netzwerke. Hatte das Morden einmal begonnen, trat die interne Dynamik der dabei entstehenden Tätergruppen in den Vordergrund. Der enorme Einfluss der Gruppe auf Mittäter („Joiner“) beruhte teils auf direktem Zwang, vor allem aber auf der dem Einzelnen in Krisensituationen durch die Gruppe gebotenen Handlungsorientierung und Sicherheit sowie auf den sich formierenden Gruppenidentitäten, die aus Gewalthandlungen entstanden und durch diese reproduziert werden mussten. Die andauernde Beteiligung am Töten und damit auch das Andauern der Gewalt ganz generell, sind, so Fujii, ein Resultat der „konstitutiven Macht des Tötens in Gruppen“. Einmal entstanden generiert die Gruppe Rückkopplungsmechanismen, welche den Einzelnen daran hindern abzuweichen und gleichzeitig den Prozess der Gewalt aufrechterhalten.
  8. Lee Ann Fujii, Killing Neighbors: Webs of Violence in Rwanda, Ithaca 2009, S. 186.
  9. Lee Ann Fujii, The Puzzle of Extra-Lethal Violence, in: Perspectives of Politics 11 (2013), 2, S. 410–426.
  10. Udo Kelle und Susann Kluge, Vom Einzelfall zum Typus. Fallvergleich und Fallkontrastierung in der qualitativen Sozialforschung, Wiesbaden 2010, S. 30.
  11. Lee Ann Fujii, „The Puzzle of Extra-Lethal Violence, S. 421.
  12. Randall Collins, Dynamik der Gewalt, Hamburg 2011.
  13. Lee Ann Fujii, Interviewing in Social Science Research. A Relational Approach, New York 2017. Vgl. auch: Lee Ann Fujii, Five stories of accidental ethnography: turning unplanned moments in the field into data, in: Qualitative Research 15 (2015), 4, S. 525–539.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Tanja Bogusz, Stephanie Kappacher, Baran Korkmaz, Karsten Malowitz, Ute Tellmann.

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Matthias Koenig

Prof. Dr. Matthias Koenig ist Professor für Soziologie mit Schwerpunkt Religionssoziologie an der Georg-August-Universität Göttingen. Seit 2011 ist er zudem Fellow am Max Planck Institut zur Erforschung multireligiöser und multiethnischer Gesellschaften. Seine Forschungsthemen umfassen die soziologische Theorie, Religion und Migration und Menschenrechte.

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Prof. Dr. Karin Gottschall ist Professorin für Soziologie mit dem Schwerpunkt Geschlechterverhältnisse; Universität Bremen, SOCIUM Forschungszentrum Ungleichheit und Sozialpolitik. Arbeitsschwerpunkte: Erwerbsarbeit und Lebensformen, Soziale Ungleichheit und Geschlecht, Tertiarisierung, Mittelschichten und Wohlfahrtstaatlichkeit.

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Prof. Dr. Hans-Peter Müller ist Professor für Allgemeine Soziologie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Seine Arbeitsgebiete umfassen u. a. klassische und moderne Sozialtheorie, Sozialstruktur und Soziale Ungleichheit, Kultur und Lebensführung.

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Gesa Lindemann, Studium der Soziologie und Rechtswissenschaft in Göttingen und Berlin, ist seit 2007 Professorin für Soziologie an der Carl von Ossietzky-Universität, Oldenburg. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Sozial- und Gesellschaftstheorie, Soziologie der Menschenrechte, Techniksoziologie, Soziologie der Gewalt und Medizinsoziologie. (© Hans Ulrich Oehlke)

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PD Dr. Andreas Pettenkofer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Weber-Kolleg (Universität Erfurt). Er interessiert sich für Kritik und Protest (und deren Ausbleiben) sowie für Theoriefragen, vor allem aus kultursoziologischer Sicht. Zusammen mit Hans Joas ist er gerade dabei, das neue Oxford Handbook of Émile Durkheim herauszugeben.

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Wiebke Keim hat an den Universitäten Freiburg und Paris IV promoviert und ist seit 2013 CNRS-Forscherin am Forschungszentrum SAGE (Sociétés, Acteurs, Gouvernement en Europe) der Universität Strasbourg. Zu ihren Forschungsgebieten gehören die Geschichte und Erkenntnistheorie der Sozialwissenschaften, Eurozentrismuskritiken, soziale Ungleichheiten, Faschismen. wiebke.keim@misha.fr

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Heonik Kwon is Senior Research Fellow in Social Anthropology at Trinity College, University of Cambridge. He currently directs an international project that explores the possibilities of the Asian Community at the Centre for Research in the Arts, Humanities and Social Sciences, Cambridge.

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Rudolf Stichweh ist Dahrendorf-Professor für Theorie der modernen Gesellschaft und Direktor des 'Forum Internationale Wissenschaft' an der Universität Bonn. Seine hauptsächlichen Arbeitsgebiete sind die Theorie der Weltgesellschaft und die Theorie soziokultureller Evolution, die Soziologie der Wissenschaft und der Universitäten sowie das vergleichende Studium demokratischer und autoritärer politischer Systeme.

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Martin Zillinger, Ethnologe, ist zur Zeit Juniorprofessor an der a.r.t.e.s. Graduiertenschule der Universität zu Köln und leitet am Research Lab Transformations of Life eine Nachwuchsforschergruppe. Er betreibt Feldforschung u. a. zu marokkanischen Trance-Bruderschaften und ihren Medienpraktiken in Meknes, Marokko.Zusammen mit Kollegen der Universitäten Köln und Siegen arbeitet er in der Mauss Werkstatt zum Kategorienprojekt der Durkheimschule. Zur Zeit ist eine Edition der wichtigsten Schriften (Matthes und Seitz) in Vorbereitung; die Ergebnisse einer internationalen Konferenz zum Thema (unterstützt von der Fritz-Thyssen-Stiftung) werden 2018 erscheinen.

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