Lotta Mayer | Rezension |

Ein dynamischer Interaktionsprozess

Rezension zu „Eskalation. G20 in Hamburg, Protest und Gewalt“ von Stefan Malthaner und Simon Teune (Hg.)

Abbildung Buchcover Eskalation von Malthaner/Teune (Hg.)

Stefan Malthaner / Simon Teune (Hg.):
Eskalation. G20 in Hamburg, Protest und Gewalt
Deutschland
Hamburg 2023: Hamburger Edition
296 S., 25,00 EUR
ISBN 978-3-868-54373-5

Sammelbände machen allzu oft ihrem Namen alle Ehre, indem sie sich als buntes Sammelsurium von Beiträgen präsentieren, die sich allenfalls mühsam unter ein gemeinsames Thema subsumieren lassen. Nach Systematik oder Stringenz sollte man in solchen Fällen gar nicht erst fragen. Der von Stefan Malthaner und Simon Teune herausgegebene Band Eskalation. G20 in Hamburg, Protest und Gewalt braucht sich vor derartiger Kritik nicht zu fürchten: Alle Beiträge beschäftigen sich schwerpunktmäßig mit den Auseinandersetzungen zwischen Protestierenden und Sicherheitskräften rund um den G20-Gipfel in Hamburg im Jahr 2017. Sie tun dies in einem recht einheitlichen theoretischen Rahmen und mit dem expliziten Ziel der Theorieweiterentwicklung. Der Band zielt nicht nur darauf, den Verlauf und die (gewaltsame) Eskalationsdynamik der G20-Proteste empirisch zu rekonstruieren. Vielmehr nutzt er die Ereignisse als „analytische Linse, um Eskalationsprozesse, die Wahrnehmung von – und Reaktion auf – Protest sowie die Austragung tiefer liegender gesellschaftlicher Konflikte zu untersuchen und besser zu verstehen“ (S. 10).

Der erste inhaltliche Beitrag („Mapping #G20“) stellt die theoretische Ausrichtung ausführlich dar. Der Band ordnet sich ein in eine Bewegungssoziologie, die in der Tradition einer verstehenden historischen Prozesssoziologie steht, welche wiederum macht-, gewalt- und konfliktsoziologisch informiert ist. Dementsprechend richtet er seinen Blick auf die offenen kontingenten Prozesse, in denen situative und übersituationale Dynamiken entstehen, die – ganz im Sinne Robert K. Mertons – mit unintendierten Folgen intentionalen Handelns einhergehen. Im ersten Teil geht es um „Analysen der Protestwoche“, hier sind Ausführungen zum theoretischen Framework sowie eine Rekonstruktion der Akteurskonstellation und des (Eskalations-)Verlaufs der Proteste versammelt.[1] Im zweiten Teil finden sich Beiträge, die die Ereignisse in einen größeren empirischen Kontext einbetten. Der dritte Teil – mit Aufsätzen von sowie Interviews mit beispielsweise Jan Philipp Reemtsma und Donatella della Porta – kontextualisiert die Erkenntnisse der ersten beiden Teile durch Rekurs auf übergreifende Debatten nicht nur der Protestforschung, sondern auch der Polizeiforschung und der Gewaltsoziologie.

Protest und Gewalt

Protest fassen die Herausgeber einleitend als eine zumindest in liberalen Demokratien etablierte und von ganz unterschiedlichen Akteuren und politischen Strömungen verwendete „Form des politischen Ausdrucks und der Beteiligung“ (S. 11). Er ist damit – entgegen verbreiteter politischer und medialer Darstellungen – sowohl normal als auch inhärent politisch. Seine Umstrittenheit ergibt sich daraus, dass Protest qua definitionem Regelbrüche bis hin zu Sachbeschädigung und physischer Gewalt beinhalten kann. Letztere führt regelmäßig dazu, dass dem Protest in einem „Ritual gesellschaftlicher Selbstversicherung über die Grenzen akzeptablen Verhaltens“ (S. 13) sein politischer Gehalt wie auch die Legitimität abgesprochen werden.

Gewalt als zweiter zentraler Begriff, der letztlich auch den der Eskalation bestimmt, verstehen die Herausgeber und Beiträger:innen im Sinne Heinrich Popitz’ als physische Gewalt, nämlich als „Angriff auf die körperliche Unversehrtheit von Personen“ (S. 12). Da in modernen Gesellschaften Gewalt grundsätzlich als illegitim gilt, strebt in den Deutungskämpfen, die Protestereignisse immer umgeben, jede Seite danach, das Handeln der jeweils anderen selbst dann, wenn dieses keine physische Gewalt darstellt, als Gewalt zu labeln. Das eigene Handeln hingegen bezeichnet man in der Regel – auch wenn es Popitz’ Definition entspricht – lediglich als Zwang (so die Polizei) oder Widerstand (so Teile des Protestspektrums). Mir scheint, die Beiträge im Band folgen allesamt dem Popitz’schen Verständnis. Nur wer Protest und Gewalt analytisch trennt – also weder Protestformen wie Blockaden noch eine Polizeiabsperrung per se als Gewalt versteht –, kann präzise nach ihrem Verhältnis und ihren Verbindungen fragen: Wann, wie, unter welchen Bedingungen entsteht ausgehend von oder an einer Blockade beziehungsweise Absperrung gewaltsames Handeln?

Protest und Gewalt sind dabei, so Teune und Malthaner, „eng verflochten“ (S. 13), auch wenn eine gewaltsame und sich immer weiter steigernde Eskalation keineswegs zwangsläufig ist. Gewalt ist auch innerhalb der überaus heterogenen und fluiden Gruppe der Protestierenden umstritten und wird mitunter „stark durch implizite Regeln des Protests eingehegt“ (S. 13). Die Normalität des Regelbruchs bedeutet also keinesfalls eine Regel- und Zügellosigkeit. Vor allem aber ist Eskalation hin zur Gewalt etwas, das sich in der Interaktion zwischen unterschiedlichen Akteuren vollzieht.

Kontexte und Akteursfigurationen

Zentral ist, dies zeigen die Beiträge des Bandes, der Kontakt von Protestierenden und Polizei in der Vorphase und während der Proteste. Er ist eingebettet zum einen in einen größeren historischen Kontext, zum anderen in eine komplexere Akteursfiguration aus Politik, Medien, lokalen, nationalen und internationalen Öffentlichkeit(en), die die (antizipierten, tatsächlichen, vermeintlichen) Ereignisse wiederum ihrerseits deuten, auf sie reagieren und derart auf sie zurückwirken.

All dies rekonstruieren die Beiträge des Bandes in ihrem Zusammenspiel: Der behandelte historische Kontext beginnt bei den lokalen Auseinandersetzungen zwischen Exekutive und Polizei einerseits und dem linksalternativen Spektrum in Hamburg andererseits, die der überaus lesenswerte Beitrag von Robert Matthies und Nils Schuhmacher rekonstruiert. Donatella della Porta und Simon Teune erzählen die Geschichte globaler Gipfelproteste, außerdem geht es um die Aufarbeitung der Geschehnisse in den Protestspektren (Phillip Brendel) sowie in Parlament und Justiz (Dorte Fischer).

Einige Beiträge behandeln die Rolle der (Hamburger) Politik, außerdem widmen sich zwei Texte schwerpunktmäßig verschiedenen Medien. So analysieren Moritz Sommer, Simon Teune und Corinna Harsch die Muster der Berichterstattung durch überregionale und lokale Printmedien, deren Fokus eindeutig auf Gewalt liegt, während sie die Konflikte und Anliegen hinter den Protesten nur schwach beleuchten sowie Politik und Polizei als Informationsquellen privilegieren. Dadurch ist ihre Wiedergabe der Ereignisse oft vereinfachend und stereotypisierend. Eddie Hartmann, Felix Lang und Sabrina Arneth nehmen das dezentrale Medium Twitter in den Blick. Hier fokussierten sich die Posts zunehmend auf das Thema Gewalt, außerdem sind eindeutige Polarisierungsprozesse in der Bewertung der Proteste zu erkennen. Im qualitativ-inhaltsanalytischen Teil des Aufsatzes wären ein paar illustrative Zitate schön gewesen. Allgemein scheint mir die Mehrzahl der Beiträge etwas zu knapp geraten – zumindest meine Lesegeduld hätten die meisten Autor:innen gerne noch mehr strapazieren dürfen.

Im Zentrum sowohl der rekonstruktiven Beiträge in Teil I als auch der analytischeren Auseinandersetzungen in den Teilen II und III steht die Interaktion zwischen Polizei und Protestierenden. Als Grundlage fächert der Sammelband die Strukturen und Prozesse auf, die – pragmatistisch formuliert – dem Handeln der jeweiligen Seite zugrunde liegen. Die zentralen Punkte, die der Band hier aufzeigt, sind erstens die enorme Heterogenität des Protestlagers, der simplifizierende Muster der Komplexitätsreduktion auf Polizeiseite gegenüberstehen. Zweitens sind Protestverläufe grundlegend offen, soll heißen: Die Ereignisse waren auch für die Protestierenden selbst nicht vorhersehbar und in ihrer konkreten Form häufig keineswegs intendiert. Sie ergaben sich vielmehr aus dem komplexen Zusammenwirken von einerseits divergierenden Zielen, Strategien und Normen im Protestlager selbst und andererseits vielfältigen, teils zeitgleichen Interaktionen der Protestierenden insbesondere mit der Polizei und weiteren Behörden, aber auch an- und abwesender Dritter. Drittens verlaufen derlei Prozesse dynamisch, ihr bisheriger Verlauf wirkt sich also auf den weiteren Fortgang aus, wobei Eskalation „in Sprüngen“ (S. 277) stattfindet, so Malthaner und Teune in ihrem Fazit.

Viertens machen die Beiträge erstaunlich deutlich, wie groß der Anteil war, den die Polizei an den Eskalationen hatte – und zwar nicht nur in der jeweiligen Situation. Bereits vorab verstand man bestimmte Protestierendengruppen als problematisch und gewaltaffin. Der Fokus des protest policing lag auf sogenannten Strategien der Stärke, während die Polizei gleichzeitig auf deeskalierende Taktiken verzichtete. Hier ist insbesondere die Analyse von Udo Behrendes herausragend. Entgegen meiner Erwartung, dass der von einem ehemals leitenden Polizeibeamten verfasste Beitrag – der überdies auf einen polizeikritischen Text von Rafael Behr folgt – fast schon zwingend die polizeiliche Vorgehensweise verteidigen müsse, nimmt er eine geradezu schonungslose Kritik von innen vor. Die für die Proteste gewählte Abschreckungsstrategie sei zum einen „restaurativ [...], da sie an polizeiliche Einsatzkonzepte der Weimarer Republik und der 1950er und 1960er Jahre anknüpft“ (S. 242), und habe zum anderen kaum Raum für Kooperation und eskalationsvermeidende Verständigung geboten. Dies widerspreche, so Behrendes, dem Brokdorf-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts, der eine versammlungsfreundliche und zurückhaltende Polizeistrategie einfordert. Gewalteskalation erscheint demnach nicht als Folge taktischer Fehlentscheidungen und situativer Dynamiken, sie ist bereits in einer verfehlten und letztlich verfassungswidrigen Strategie angelegt. Grundsätzlicher kann sachliche Kritik kaum sein.

Fünftens ist die Grenzziehung zur Gewalt zwar immer volatil und das Verhältnis der Protestierenden zu gewaltsamem Handeln ambivalent. Dennoch gebe es, so Malthaner und Teune in ihrem Fazit, eine zweite und als sakrosankt geltende Grenzziehung, die Protest als genuin zivile Handlungsweise kennzeichnet, die auf ein ziviles Setting angewiesen ist: die zur tödlichen Gewalt. Gewaltsoziologisch wäre hier nachzufragen, ob die Grenze nicht schon früher verläuft, nämlich da, wo Gewalt schwere und gegebenenfalls bleibende körperliche Schädigungen nach sich zieht. Für eine Antwort bräuchte es meines Erachtens eine feinere akteurs- und kontextspezifische Abgrenzung.

Inwiefern die Erkenntnisse aus Sicht der Protestforschung – beziehungsweise welche Aspekte davon – überraschend sind und/oder bisherige wesentliche Forschungslücken schließen, vermag ich als protestsoziologisch lediglich informierte Konfliktforscherin nicht abschließend zu beurteilen. Überdies ist meine Perspektive von einer gewissen lebensweltlichen Vertrautheit mit sozialen Bewegungen und Protest geprägt, was dazu führen mag, dass mir manches selbstverständlicher erscheint, als es dem Stand der Forschung nach ist. Dass aber eine Aufklärung der Öffentlichkeit hinsichtlich der Wahrnehmung von Protest beziehungsweise dessen gewaltsamer Eskalation dringend ansteht, zeigen schon die teils gewaltlegitimierenden beziehungsweise -phantasierenden, teils unmittelbar gewaltsamen Reaktionen auf die sogenannten Klimakleber. Dazu kann der Band in jedem Fall einen Beitrag leisten – wenn er denn, was ich hoffe und empfehle, fleißig gelesen wird.

  1. Er geht aus dem 2022 erschienenen Bericht zu dem Projekt „Mapping #NoG20“ hervor, vermutlich enden die Beiträge des ersten Teils aus diesem Grund nicht mit einem kurzen (Zwischen-)Fazit, sondern mit einer Überleitung zum jeweils nächsten Beitrag. Derart entsteht zwar eine Art Fließtext aus unterschiedlichen Federn, jedoch ist am Ende eines Beitrags nicht immer ganz klar, was nun (aus Sicht der Autor:innen) die entscheidenden Aspekte und Konklusionen sind.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Wibke Liebhart.

Kategorien: Demokratie Gewalt Internationale Politik Sicherheit Zivilgesellschaft / Soziale Bewegungen

Lotta Mayer

Dr. Lotta Mayer ist Nachwuchsgruppenleiterin am Max-Weber-Institut für Soziologie der Universität Heidelberg. Sie forscht theoretisch und empirisch im Bereich Konflikt- und Gewaltsoziologie mit Schwerpunkt auf Eskalationsdynamiken sozialer Konflikte, kriegerischen innerstaatlichen Konflikten sowie extrem rechter Gewalt.

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