Fabian Kölsch | Veranstaltungsbericht |

Ein gemeinsamer Blick auf die Vergangenheit und in die Zukunft

Bericht zur Jubiläumstagung der Sektion Methoden der qualitativen Sozialforschung vom 22. bis 23. Juni 2023 in Mainz

Ob in Zeitschriften oder Fachverbänden, auf Institutsfluren oder in der inhaltlichen Ausrichtung von Curricula: Die qualitative Sozialforschung (QSF) hat ihren festen Platz in einer multiparadigmatisch ausgerichteten Soziologie. Dass diese vermeintliche Selbstverständlichkeit Ergebnis langjähriger Institutionalisierungsarbeit und professionspolitischer Kämpfe ist, konnten die BesucherInnen der Jubiläumstagung der Sektion Methoden der qualitativen Sozialforschung der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS) lernen, die am 22. und 23. Juni 2023 an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz stattfand. Über 110 TeilnehmerInnen feierten den 20. Geburtstag der Sektion. In ihrer Begrüßungsrede unterstrich die Sektionsvorständin DANIELA SCHIEK (Hamburg) den Anspruch des Veranstaltungsteams: Die Tagung wolle einen Blick zurück auf die Geschichte der Sektion werfen, aber auch nach vorne auf die möglichen Zukünfte der QSF schauen. Den zu Beginn vorgelesenen Geburtstagsgruß der Schwestersektion Methoden der empirischen Sozialforschung betrachtete Schiek – mit einem Augenzwinkern – als ein Zeichen der Annäherung.

Abbildung Die Sektion Methoden der qualitativen Sozialforschung feierte ihr 20-jähriges Bestehen mit einer Jubiläumstagung in Mainz.
Die Sektion Methoden der qualitativen Sozialforschung feierte ihr 20-jähriges Bestehen mit einer Jubiläumstagung in Mainz. (© Justus Heeks)

Die Beziehung zur quantitativen Sozialforschung war ein beständiges Thema der Zusammenkunft, dies zeigte sich vor allem im anschließenden ersten inhaltlichen Teil der Tagung. In einem – von DEBORA NIERMANN (Zürich) moderierten – Podiumsgespräch unterhielten sich die Gründungsmitglieder der Sektion STEFAN HIRSCHAUER (Mainz), GABRIELE ROSENTHAL (Göttingen) und JÖRG STRÜBING (Tübingen) über die institutionellen Anfänge der QSF in Deutschland. Die biografisch gefärbte Unterhaltung der drei war eine Mischung aus anekdotischen Erzählungen und historischer Rekonstruktion. Nicht die Sektionsgründung 2003, sondern bereits die Gründung der Arbeitsgruppe Methoden der qualitativen Sozialforschung im Jahr 1997 stellte die zentralen Weichen für die sich anschließende Institutionalisierungsbewegung im deutschsprachigen Raum – darin waren sich die RednerInnen einig. Weniger einfach zu beantworten erschien wiederum die Frage nach den theoretisch-konzeptionellen Vorläufern der Sektion. Hirschauer, Rosenthal und Strübing betonten die zentrale Bedeutung des transatlantischen Theorieimports, sie wiesen auf das Arbeitsumfeld rund um Christel Hopf sowie auf die Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen hin. Im weiteren Verlauf des zweistündigen Gesprächs wurde immer wieder deutlich, unter welch starkem Legitimationsdruck die frühen ‚Qualis‘ standen und inwiefern dieser bis heute die Arbeit prägt. Entsprechend beendete Jörg Strübing das Gespräch mit dem Auftrag, die qualitativen Methoden weiterhin professionspolitisch zu stärken.

Abbildung Podiumsdiskussion mit drei Gründungsmitgliedern der Sektion (v.l.n.r.): Jörg Strübing (Tübingen), Gabriele Rosenthal (Göttingen) und Stefan Hirschauer (Mainz)
Podiumsdiskussion mit drei Gründungsmitgliedern der Sektion (v.l.n.r.): Jörg Strübing, Gabriele Rosenthal, Stefan Hirschauer und Debora Niermann. (© Justus Heeks)

Der Vortrag von CARSTEN G. ULLRICH (Duisburg-Essen) schloss insofern an das Sektionsgespräch an, als dass er nach dem konstitutiven Kern der QSF fragte. Ohne seine kurzfristig erkrankte Co-Sprecherin Betina Hollstein (Bremen) blickte er zurück auf die erste Sektionstagung, auf der beide schon einmal die Frage nach der Einheit in der Differenz stellten.[1] Unter Berücksichtigung seiner eigenen Forschungstätigkeit zur Digitalisierung erörterte Ullrich, wie neue gesellschaftliche Entwicklungen die QSF aktuell und zukünftig herausfordern (werden). Die Digitalisierung, so sein Fazit, irritiere zwar selbstverständliche und liebgewonnene Annahmen der QSF, berühre deren Kern jedoch nicht.

Als ein Meilenstein der Institutionalisierung der QSF im deutschsprachigen Raum war im Eröffnungsgespräch unter anderem von dem programmatischen Werk Theoretische Empirie. Zur Relevanz qualitativer Sozialforschung (2008) die Rede. Als einer der drei Herausgeber (neben Stefan Hirschauer und Gesa Lindemann) betrachtete HERBERT KALTHOFF (Mainz) in seinem Vortrag „Theoretische Empirie reconsidered“ die Entwicklung des Werks und dachte im Zuge dessen über den Stellenwert der Theorie in der Theoretischen Empirie nach. Er schlug ein Verständnis von Theorien als Denk-Zeug vor, dass die Forschenden zu extensiver Theoriearbeit verpflichtet, ohne jedoch mit dogmatischer Monolingualität einherzugehen. Kalthoff argumentierte für ein stärker dialektisch ausgerichtetes Denken von Theorie und Empirie, das auch die affektiven Effekte von Theorien miteinbezieht: Theorien gelten in seiner Konzeptualisierung nicht nur als Denk- und Werkzeug, sie ergreifen immer auch die mit ihnen Forschenden und nehmen sie in Besitz. Theoretisch-empirische Forschung dürfe – mit Ernst Bloch gesprochen – nicht langweilig werden, sondern müsse Unruhe bewahren, so Kalthoffs Abschlussplädoyer.

Der letzte Vortrag des Tages fand in einem besonderen Format statt. RUTH AYAß (Bielefeld) und MICHAEL MÜLLER (Chemnitz) beschäftigten sich mit der visuellen Dimension des Sozialen. LARISSA SCHINDLER (Bayreuth) moderierte das dialogische Wechselspiel aus Erörterung und Kommentar. Ausgangspunkt des Dialogs war die These einer Omnipräsenz visueller Phänomene, an die sich die qualitativen Methoden anpassen müssten. In der anschließenden Diskussion ging es zum einen um die allgemeine Visualität der sozialen Welt, zum anderen um eine Differenzierung spezifischer Felder, in denen Visualität ein konstitutives Element der jeweiligen Feldlogik ist. Angesichts der spannungsreichen und produktiven Debatte bleibt zu hoffen, dass die beiden Vortragenden ihren Dialog in Textform weiterführen.

Die Mitgliederversammlung der Sektion und die Verleihung des Publikationspreises für das Jahr 2022 an Nadine Gautschi (Bern) schlossen den ersten Tag auf formeller Ebene ab. Die erfreuliche Botschaft, dass die Sektion durch die Aufnahme zahlreicher Neumitglieder die 300er-Marke überschritten hat, wurde anschließend in informeller Zusammenkunft mitsamt Geburtstagstorte auf den Treppen der Alten Aula gefeiert.

Der zweite Veranstaltungstag stand ganz im Zeichen der Zukünfte der QSF. LAURA BEHRMANN (Wuppertal) und VIKTORIA RÖSCH (Dresden) eröffneten ihn mit einem Vortrag, der sich der Ausbildung von Methodenkompetenz widmete. Auf der Grundlage ihrer gemeinsamen Erfahrungen in Lernwerkstätten formulierten sie einen Diskussionsanstoß zur Weiterentwicklung und Professionalisierung der qualitativen Methodenlehre. Themen der anschließenden Fragerunde waren gegenwärtige Herausforderungen durch eine veränderte Studierendenschaft sowie Transformationen im Hochschulsystem. Wie sich in der sehr lebhaft geführten Diskussion zeigte, trifft die Reflexion der eigenen pädagogischen Praxis in der Sektion durchaus einen Nerv, weshalb mit weiteren Einlassungen zu dieser Frage zu rechnen ist.

KORNELIA ENGERT (Mainz) nahm anschließend das Motto der Tagung zum Anlass, um einen wissenschaftssoziologisch informierten Blick auf die Geschichte qualitativer Methodendiskussionen zu werfen. In ihrer re-description vergangener Debatten begriff sie diese als Formate der Selbstpositionierung von ForscherInnen. Der empirisch-konzeptionelle Vortrag überzeugte somit als Beitrag zu einer Genealogie soziologischer Forschungspraxis. In ihrem Fazit warnte Engert jedoch konsequenterweise davor, eine solche reflexive Wende als Abschluss der Diskussion zu verstehen. Es gelte, nicht in soziologische Nabelschau zu verfallen, sondern zu neuen (Forschungs-)Feldern aufzubrechen.

Den Abschluss der Tagung übernahm KAI DRÖGE (Frankfurt am Main / Luzern) mit einem Vortrag zu den Auswirkungen künstlicher Intelligenz auf die QSF. KI könne als „hermeneutische Maschine“ verstanden werden, die – einer induktiven Logik folgend – gewisse Ähnlichkeit zur menschlichen Hermeneutik zeige. In seiner nüchternen Betrachtungsweise der Vor- und Nachteile des Einsatzes von KI als Hilfsmittel qualitativer Forschung distanzierte sich Dröge von den Hypes um KI. So ließ er in einem Quasiexperiment mithilfe von Chat-GPT Interviewdaten aus den Archiven des Frankfurter Instituts für Sozialforschung kodieren. Das Ergebnis sprach für sich: In Kooperation mit dem menschlichen Hermeneutiker kann die KI zwar Induktion, jedoch keine Abduktion leisten. Die Sektion muss sich also keine Sorgen machen, dass ihre menschlichen Sektionsmitglieder bald durch maschinelle ersetzt werden.

Neben den Vorträgen waren auch zahlreiche textuell-visuelle Beiträge in Form einer Postersession zu sehen. Die Ausstellung bewies die vielbeschworene Vielfalt der QSF eindrucksvoll. Die Poster beschäftigten sich unter anderem mit Konferenzethnografien (BRAUN/RÖDDER), soziologischer Traumforschung (AMBROSI/KNOLL/KREY), Begehungen als Methode (SCHÜRKMANN), SchiedsrichterInnen (WEIGELIN) und soziologischer Gesellschaftsdiagnostik (LORENZ).

Neben der Postersession darf auch die organisatorische Rahmung der Tagung nicht unerwähnt bleiben. Trotz Außentemperaturen um die dreißig Grad und einem denkmalgeschützten Veranstaltungssaal ohne Klimaanlage stellte sich bei den TeilnehmerInnen keine Ermüdung ein, wovon die bis zum Schluss hohe Anwesenheit zeugte. Vor diesem Hintergrund ist die organisatorische Fleißarbeit des lokalen Veranstaltungsteams (Tobias Boll, Miriam Brunnengräber, Aurora Sauter inklusive ihrer Hilfskräfte) besonders hervorzuheben. Abgesehen von der inhaltlichen Gestaltung waren sie unentwegt darum bemüht, für das leibliche Wohl zu sorgen. In Anbetracht einer solch rundum gelungenen Tagung ist der Blick auf die nächsten zwanzig Jahre der Sektion vielversprechend.

Zum Programm der Tagung geht es hier. Einen Einblick in die Postersession gibt es hier.

  1. Vgl. Betina Hollstein / Carsten G. Ullrich, Einheit trotz Vielfalt? Zum konstitutiven Kern qualitativer Sozialforschung, in: Soziologie 32 (2003), 4, S.29–43.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Wibke Liebhart.

Kategorien: Digitalisierung Geschichte der Sozialwissenschaften Methoden / Forschung Wissenschaft

Abbildung Profilbild Fabian Kölsch

Fabian Kölsch

Fabian Kölsch ist Doktorand und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen in der Wissens- und Bildungssoziologie sowie der Soziologie sozialer Ungleichheiten. Derzeit ist er im DFG-Projekt „Universitäre Urteile. Die Bewertung studentischer Leistungen in den Ingenieurs- und Geschichtswissenschaften“ tätig.

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