Frank Eckardt | Rezension | 14.09.2021
Ein Latour’sches Patchwork
Rezension zu „Die Fabrikation der Stadt. Eine Neuausrichtung der Stadtsoziologie nach Bruno Latour“ von Jessica Wilde
Ameisenhaufen sind interessante Gebilde. Nach wie vor wissen wir sehr wenig darüber, wie solche komplexen Formationen des Zusammenlebens entstehen, wie sie durch ihre Bewohner aufrechterhalten und organisiert werden. Kann man dies auch auf Städte übertragen? Jessica Wilde würde auf die Frage wohl mit einem eindeutigen Ja antworten, immerhin wählt sie das Bild als Eingangsmetapher für ihr Buch über Die Fabrikation der Stadt, wobei sie sicherlich auch versucht, damit die Neugier der Leser*innen zu wecken. Die Verameisung – oder schöner: antification – geht auf ein Zitat des französischen Soziologen Bruno Latour zurück, der – nach Wildes Auffassung – damit zum Ausdruck bringen will, dass ein*e Stadtforscher*in wie angeblich die Ameise eine spezifische Theorie im Gepäck hat: Jede*r Stadtforscher*in geht also mit einem Vorverständnis des Gegenstandes ans Werk, das seinen beziehungsweise ihren Blick auf die Empirie beeinflusst. Doch ob Latour die Metapher so versteht und verwendet, ist fraglich. Jessica Wilde will offensichtlich auf etwas anderes hinaus: Die Ameisenmetapher soll eine „Anleitung dafür [begründen], wie die Stadt und was in der Stadt mit Latour zu untersuchen ist“ (S. 9). Es geht der Autorin aber nicht darum, wie der Untertitel Eine Neuausrichtung der Stadtsoziologie nach Bruno Latour suggerieren mag, mit der auf Latour zurückgehenden Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) „eine empirische Untersuchung der Stadt auf der Grundlage der ANT“ (ebd.) durchzuführen.
Viele Versatzstücke, wenig Systematik
Wie sieht die angestrebte Neuausrichtung der Stadtsoziologie stattdessen aus? Die Autorin greift sich hierfür einige Aspekte der Arbeiten Latours heraus, die sie für wichtige neue Ansätze hält. Zunächst redefiniert Wilde das Soziale, denn im klassischen soziologischen Verständnis von Weber bis Durkheim galt die Stadt ihr zufolge lediglich als Spiegelbild und als eine Art Hinterwelt der Gesellschaft. Nun obliegt es der Interpretation der Leser*innen , was genau unter Hinterwelt zu verstehen ist, jedenfalls impliziert Wildes Ausdruck ein Gesellschaftsbild von Vorder- und Hintergrund, das nicht nur unterhinterfragt bleibt, sondern auch weitere Fragen aufruft. Die omnipräsente Gesellschaft gilt es nun gewissermaßen aus der Stadt herauszunehmen, sodass das für die ANT entscheidende „Nachzeichnen von Assoziationen“ (S. 11) überhaupt möglich wird. Assoziationen schließen ausdrücklich auch nichthumane Akteure ein. Wilde versucht in ihrer Arbeit, diejenigen Leerstellen mit neuen Forschungsangeboten zu füllen, die entstehen, wenn die Sozialforschung ihren vermeintlichen Kern – das Soziale – aufgibt.
Das Buch soll einen „listenförmig, sammelnden Charakter“ (S. 12) haben und weigert sich, einer bestimmten Systematik zu folgen, die etwa die Auswahl der besprochenen Themen und Beispiele begründen könnte. Wer deshalb zunächst eine Einführung in die ANT und die Arbeiten Latours erwartet, der wird enttäuscht sein. Stattdessen muss sich der*die Leser*in auf eine Schreibweise einlassen, die den Bezug zur Soziologie Latours zumeist dadurch herstellt, dass sie Zitate aus dessen Arbeiten, oftmals nur Satzteile, miteinander verflicht. Wilde hat auf diese Weise einen Text produziert, der auf ihrem profunden Wissen zu den Büchern und Aufsätzen Latours basiert, sie aber nicht systematisch aufarbeitet, kontextualisiert oder kritisch reflektiert. Für Leser*innen, die die ANT bislang nicht kennen, ist die Verknüpfung einzelner Versatzstücke ein großes Hindernis. Darüber hinaus gerät Wilde in argumentative Schwierigkeiten, da sie ihre Kritik an der bisherigen Stadtsoziologie dadurch nicht angemessen und nachvollziehbar entfalten kann. So lässt sich für die Leserschaft zum Beispiel nicht abschätzen, inwiefern eine durch die ANT inspirierte Stadtsoziologie das Forschungsfeld tatsächlich besser beackern könnte als die kritisierte Chicago School oder die Arbeiten der political economy.
Berliner Stadtsoziologie
In den beiden ersten Kapiteln, die sie als „Herzstücke“ (S. 17) der Arbeit bezeichnet, widmet sich Jessica Wilde der Stadt Berlin. Zunächst entwickelt sie ein breiteres Technikverständnis, das nicht nur technische Artefakte und Infrastrukturen als stadtsoziologische Objekte in die Forschung einbezieht, sondern auch „defekte Brunnenanlagen oder Spielgeräte, kaputte Gehwegpflasterungen, verschmutzte Sitzbänke, vertrocknete Grünanlagen“ (S. 94) und vieles mehr, dem die klassische Stadtsoziologie keine Aufmerksamkeit schenkt.
Insofern man sich daran gewöhnt hat, dass die Autorin permanent zwischen Beispielen und Zitaten von Latour hin und her springt – was sich auch die gesamten 418 Seiten des Buches nicht ändert –, gehört das erste Kapitel über die Technopolis Berlin sicherlich zu den lesenswerteren Teilen der Arbeit. Darin greift Wilde den Impetus auf, den Latour mit seiner designsoziologischen Wende und seiner metaphorischen Faltung von Zeit und Raum gesetzt hat, und buchstabiert die damit einhergehende Neuausrichtung anhand von vielen Beispielen durch. Insbesondere bei der Betrachtung der Berliner Wohnhäuser schärft sich der Blick für den Zusammenhang zwischen gebauter und gelebter Stadt, eben weil der Fokus auf die Assoziationen gerichtet ist, die beide Welten miteinander verbinden.
Im zweiten Berlin-Kapitel greift die Autorin nach dem einleitenden Bild der Ameisen eine weitere Metapher auf: Mit der Rede von der Stadt als Bühne thematisiert sie das Personal hinter der Bühne, wobei unklar ist, wen sie damit meint. Im Zuge dessen führt sie auch den, für den Titel des Buches leitenden Terminus einer Fabrikation der Stadt ein und ist sehr bemüht, für die angestrengte Analogie zur fabrikmäßigen Herstellung wissenschaftliche Fakten zusammenzutragen (S. 18).
Es folgen interessante Diskurse, die sich mit Stadtplanung im engeren Sinne beschäftigen und sich an deren Verständnis von Modernität abarbeiten; einer Epoche, die es nach Latour und treufolgend Wilde gar nicht gegeben hat. Eine zentrale These, die Wilde illustrieren will, ist die Definition von Urbanität und städtischer Öffentlichkeit als „Werte“, die sich anhand der eingerichteten Netzwerke realisieren können: „Das Stadtleben wird zum Stoff, der durch Straßen, Plätze und Parks zirkuliert wie das Gas durch das Gasrohr.“ (S. 228)
Nicht auf der Höhe der Debatten
Wer die Stadt im Kontext von Urbanität diskutiert, der führt implizit einen Wertemaßstab ein, nach dem es angeblich mehr oder weniger urbane, also bessere und schlechtere Orte gibt. Damit erhält eine normative Dimension Einzug in die Diskussion über die Stadt, wobei die Autorin Werturteile der beiden Säulenheiligen der Urbanistik, Kevin Lynch und Jane Jacobs, aufgreift. Wilde bezieht sich an dieser Stelle auf deren sehr klar vertretene Vorstellungen darüber, wie urbanes Leben auszusehen habe.
Schmerzlich vermisst der*die Leser*in aktuell in der Stadtplanung geführte Debatten, die sich etwa mit normativen Fragen um environmental justice oder Gender-Gerechtigkeit in der Stadt auseinandersetzen. Spätestens jetzt offenbart sich die fehlende Rezeption der internationalen Stadtforschung. Während Jessica Wilde nicht weniger als 43 Werke von Bruno Latour in den Text einspannt, nimmt sie keinen einzigen Artikel aus einer der für die Stadtsoziologie einschlägigen Fachzeitschriften wie dem International Journal on Urban and Regional Research, City, Urban Studies, European Journal on Urban Research oder der circa fünfzig anderen Fachzeitschriften zu den unterschiedlichen Problem- und Themenfeldern der Stadtplanung und -forschung zur Kenntnis.
Die derart verkürzte und einseitige Literaturrezeption rächt sich unter anderem in Wildes Kritik an der bestehenden Stadtsoziologie (Kap. 3), im Zuge derer sie denn auch in eine „etwas andere“ Chicago School einführen will. Die Chicago School (1894–1936) schuf Grundlagen für die gesamte Arbeit der Soziologie, indem sie sich vor allem empirisch mit den Problemen einer schnellwachsenden Metropole (Chicago) beschäftigte: Zuwanderung, Wohnungsnot, Gewalt und Verbrechen. Die damals ebenfalls begründete Stadtsoziologie setzt die Autorin nun auf die Anklagebank, wobei sie William Cronons Buch Nature’s Metropolis aus dem Jahr 1991, das sie als „ANT avant la lettre“ (S. 237) bezeichnet, als ihren Kronzeugen reklamiert. Für die Autorin, wie auch für Leser*innen, die sich mit Stadtsoziologie bislang nicht beschäftigt haben, ist Cronons Arbeit sicherlich sehr lesenswert, weil sie den Zusammenhang zwischen der Entwicklung der Stadt Chicago und dem Zurückdrängen der Natur thematisiert. Die soziologische Stadtforschung hat die Publikation allerdings bereits intensiv rezipiert und längst in ihren Kanon integriert: In den 1990er-Jahren entstand die sogenannte L.A. School, die für eine Revision der Chicago School sorgte, indem sie versuchte, postmoderne Theorien mit lebensweltlichen und problemorientierten soziologischen Ansätzen zu vereinen.
Wenig Neues für die Stadtforschung
Im Gegensatz zu Bruno Latour, der Feldforschung im Allgemeinen und ethnografische Arbeit im Besonderen als eminent wichtig bezeichnet, unterzieht Die Fabrikation der Stadt ihre Forschungsgegenstände eben keinem reality check, sondern begnügt sich mit deren Neuinterpretation anhand unzähliger zitierter Versatzstücke aus dem Werk Latours. Seinen Anspruch einer „Neuausrichtung der Stadtforschung“ löst das Buch aus vielen Gründen nicht überzeugend ein. Zwar ist Wildes Kritik an einer Stadtsoziologie, die den materiellen Raum nicht genügend berücksichtigt, durchaus berechtigt – wobei man den Vorwurf auch nur an bestimmte Strömungen richten kann –, allerdings unternimmt sie selbst zu wenig Anstrengung, den von ihr propagierten Ansatz systematisch auszuarbeiten. Dazu müsste sie nachvollziehbar aufzeigen, welche bessere Erklärungen er bieten kann, um relevante Themen in der Stadt zu verstehen.
Das Buch ist in einer mitunter fragwürdig metaphorischen Sprache verfasst und bleibt eine geisteswissenschaftliche Übung dazu, wie man einen ‚fachfremden‘ Theoretiker für das eigene Forschungsinteresse nutzen und in die eigene Perspektive integrieren kann. Denn Latour würde sich, trotz einzelner Bezüge in seinem Werk zum Thema Stadt, sicherlich nicht als Stadtsoziologe bezeichnen. Ob die ANT für die Stadtsoziologie praxistauglich und fruchtbar ist, haben andere Autor*innen in Fachzeitschriften schon diskutiert – und dabei durchaus programmatische Ansätze aufgezeigt.[1] Leider sind diese in Die Fabrikation der Stadt nicht zu finden.
Es bleibt zu würdigen, dass Jessica Wilde den Leser*innen ihre eigene sehr empathische und begeisterte Interpretation der soziologischen Arbeiten Bruno Latours anhand von Themen der Stadtforschung näherzubringen vermag. Durch die bildhafte und bisweilen ungewöhnliche Sprache schafft sie es an der ein oder anderen Stelle, eingefahrene Interpretationen produktiv zu irritieren. Durch eine Metapher wie das anfangs zitierte Bild von den Ameisen entsteht möglicherweise ein Assoziationsraum, den die geisteswissenschaftliche Tradition der Stadtsoziologie durchaus für sich nutzen könnte.
Fußnoten
- Siehe etwa Sebastian Ureta, The Shelter that Wasn't There. On the Politics of Co-Ordinating Multiple Urban Assemblages in Santiago, Chile, in: Urban Studies 51 (2014), 2, S. 231–246; June Wang / Tim Oakes / Yang Yang (Hg.), Making Cultural Cities in Asia. Mobility, Assemblage, and the Politics of Aspirational Urbanism, London 2016; Susan Oakley, Understanding the Planning and Practice of Redeveloping Disused Docklands Using Critical Urban Assemblage as a Lens. A Case Study of Port Adelaide, Australia, in: Planning Practice and Research 29 (2014), 2, S. 171–186; Eugene McCann / Ananya Roy / Kevin Ward, Assembling/Worlding Cities, in: Urban Geography 34 (2013), 5, S. 581–589; Mattias Kärrholm, Building Type Production and Everyday Life. Rethinking Building Types through Actor-Network Theory and Object-Oriented Philosophy, in: Environment & Planning D: Society & Space 31 (2013), 6, S. 1109–1124; Katrin Grossmann / Annegret Haase, Neighborhood Change beyond Clear Storylines. What Can Assemblage and Complexity Theories Contribute to Understandings of Seemingly Paradoxical Neighborhood Development?, in: Urban Geography 37 (2016), 5, S. 727–747; Kim Dovey / Kenn Fisher, Designing for Adaptation. The School as Socio-Spatial Assemblage, in: Journal of Architecture 19 (2014), 1, S. 43–63.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Wibke Liebhart.
Kategorien: Gruppen / Organisationen / Netzwerke Stadt / Raum
Zur PDF-Datei dieses Artikels im Social Science Open Access Repository (SSOAR) der GESIS – Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften gelangen Sie hier.
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