Andreas Göbel | Literaturessay |

Ein „Spezialproblem“ mit „zentrale(r) Bedeutung" - Reflexion als Selbstthematisierung des Gesellschaftssystems

Literaturessay zu "Systemtheorie der Gesellschaft" von Niklas Luhmann

Niklas Luhmann:
Systemtheorie der Gesellschaft
hrsg. von Johannes F.K. Schmidt und André Kieserling, unter Mitarbeit von Christoph Gesigora
Deutschland
Berlin 2017: Suhrkamp
1132 S., EUR 49,95
ISBN 978-3-518-58705-8

I.

Von Anfang an ist sich die Luhmann‘sche Theorie eines an der Hegel-Marx-Tradition geschulten Moments von Selbstreflexion mit Bezug auf ihren Gegenstand – Gesellschaft – gewiss. Das zeigen schon die frühesten Aufsätze zum Gesellschaftstheorie-Komplex auf einem möglicherweise noch nicht endgültig durchgereiften, allerdings bereits bemerklichen Niveau. Einschlägig sind etwa die Schlussbemerkungen des „Gesellschaft“ betitelten Aufsatzes im 1. Band von Soziologische Aufklärung zum reflexiven Stellenwert einer gegenstands- und komplexitätsadäquaten Gesellschaftstheorie, wo zu lesen ist, „daß sie sich selbst als Moment dessen begreift, was sie zu begreifen hat.“[1]

In die Luhmann‘sche Theorie der Gesellschaft ist also von Beginn an eine grundlagentheoretische Sensibilität für die Selbstreferenz-Problematik eingebaut. Sie schärft sich an der Einsicht, dass die Beziehung der Theorie zu ihrem Gegenstand als Selbstverhältnis begriffen werden muss. Damit wird sofort handgreiflich, dass die spätere Durchgestaltung des Themas ‚Selbstreferenz‘ ihren zentralen, theorieinternen Katalysator in der Selbstthematisierungs-Problematik hat. Letzterer kommt, obwohl sie ein Spezialproblem traktiert, doch zentrale Bedeutung für die Gesamttheorie zu.

Ebenso klar ist allerdings auch, dass Luhmanns frühe Einsicht nur zögerlich und in kleinen Schritten ausgearbeitet, das heißt in ihren theoriebautechnischen Konsequenzen reflektiert wird. Schwerlich wird man sagen können, dass die jetzt vorliegende und aus dem Nachlass mustergültig edierte 1975er-Fassung der Gesellschaftstheorie in dieser Hinsicht ein bislang unbekannter Meilenstein sei. Zwar ist auffällig, dass die Selbstreferenz-Thematik, gleicht man sie mit den Aufsätzen Luhmanns aus den späten 60er- oder frühen 70er-Jahren ab, prägnanter wird. Und beobachtbar ist auch: je später die Manuskript-Teile formuliert sind, umso entschiedener wird ‚Selbstreferenz‘ mit grundbegrifflichen Ansprüchen artikuliert und zu einem dominanten Teil der Theoriesprache. Jedoch kann von einem die Gesamttheorie konstituierenden, oder zumindest – um konstitutionstheoretische Ansprüche nicht allzu hoch zu hängen – sie organisierenden Niveau mit Blick auf das 1975er-Manuskript keine Rede sein. Insofern lauert der ‚Explosivstoff Selbstreferenz‘ zweifelsohne im Hintergrund – und es wäre ein eigenes und durchaus reizvolles Thema, die Schritte dorthin detailgenau zu beobachten –, doch soll davon jetzt nicht die Rede sein.

Ich konzentriere mich stattdessen auf das im jetzt lesbaren Manuskript entfaltete Verständnis von Selbstthematisierung als einer Form der Reflexion des Gesellschaftssystems. An seiner Rekonstruktion (III-VIII) entlang will ich, nach einer weiteren kurzen Vorbemerkung (II), die wichtigsten Punkte herausgreifen, indem ich die Unterkapitel des 5. Teils („Reflexion“) in lockerer Folge nacheinander durchgehe,[2] um sie weniger mit dem späteren Selbstbeschreibungs-Kapitel der 1997er Gesellschaft der Gesellschaft (oder den entsprechenden Selbstbeschreibungs-Kapiteln in den Funktionssystem-Monographien) als vielmehr mit denjenigen publizierten Aufsätzen zu vergleichen, die in der zum Zeitpunkt der ursprünglichen Abfassung des Manuskripts näheren zeitlichen Umgebung liegen. Denn unübersehbar ist, dass das Selbstthematisierungskapitel die vorher publizierten Aufsätze zu „Gesellschaft“,[3] zu den „Selbstthematisierungen des Gesellschaftssystems“[4] und zur „Weltgesellschaft“[5] nicht nur fortsetzt, sondern deren Themenspektren auch erweitert, ohne ihnen gegenüber eine kategorial neue und begrifflich unterscheidende Position zu beziehen. Demgegenüber markiert ein Aufsatz wie derjenige über den „Identitätsgebrauch in selbstsubstitutiven Ordnungen“,[6] erstmalig 1979 publiziert, ein angesichts des Stands der Theorieentwicklung von 1975 in einigen Hinsichten doch neues Niveau. Das liegt sowohl an Luhmanns Akzentuierung eines 3. Differenzierungstypus, aber auch an seinem neuen und stärker akzentuierten Verständnis von Identität, worauf später noch einzugehen sein wird. Zunächst gilt es, den Textbefund zu sondieren. Er wird mir in einem letzten und sehr erratischen Schritt den Anlass dazu liefern, einige theoretische Unschärfen, die meines Erachtens im Selbstthematisierungs-Kapitel selbst, aber auch in der Gesamtkonzeption des Textes identifizierbar sind, hervorzuheben (IX).

II.

Wenn man, wie gelegentlich vorgeschlagen wurde, die gesamte Theorieanlage Luhmanns als den Versuch beschreibt, eine durch und durch unwahrscheinliche Theoriehochzeit von Phänomenologie und Systemtheorie herbeizuführen, dann ist – und die 1975er-Gesellschaftstheorie wäre insgesamt ein vehementer Beleg dafür – auffällig, dass die frühen Luhmann‘schen Versuche zur Begründung sowohl einer allgemeinen Theorie sozialer Systeme wie auch einer Gesellschaftstheorie ihr Schwergewicht deutlich auf der phänomenologischen Seite hatten.

Das betrifft – um es nur kurz zu erwähnen – (a) die intensive Arbeit am Sinnbegriff, sowohl in der generellen Hinsicht der Ausrichtung auf diesen Begriff wie in je spezifischer Hinsicht auf Details seiner Entfaltung. So folgt, um ein gewichtiges Beispiel heranzuziehen, die Erörterung der ‚Funktion der Negation in sinnkonstitutierenden Systemen‘[7] einer Argumentationslogik, die an Momenten des Sinnprozessierens die Negierbarkeit auf eine Fragestellung hin beobachtet, von der Luhmann ersichtlich glaubt, sie sei durch Husserl’sche „Protentionen“ und „Retentionen“ weder endgültig noch zureichend beantwortet. Es betrifft (b) das Konzept der Kontingenzformel; und es betrifft schließlich (c) das Muster oder die Form von Systemkonstitution generell, die in „Welt als Problem“ ihren Ausgangspunkt hat. Luhmann greift diesen genuin phänomenologischen Begriff auf, um ihn im Grunde nur komplexitätstheoretisch zu re-interpretieren. Systembildung wird er als eine Form der Komplexitätsreduktion beschreiben und darin die Lösung des bei Husserl traktierten transzendentalphilosophischen Problems sehen, wie es überhaupt zur Konstitution einer Welt oder objektiver Gegenständlichkeit kommen kann. Und es betrifft am Ende (d) auch die Kategorie der Reflexion, die Luhmann – wie bekannt – vom Subjektbegriff entkoppeln und auf eine „höhere… Abstraktionslage und mit Anspruch auf eine breitere Verwendung im Rahmen einer allgemeinen Theorie sinnkonstituierender Systeme“[8] bringen möchte.

Luhmann begreift Reflexion als eine besondere, faktisch als die „unwahrscheinlichste“ Technik der „Relationierung“, die „für etwas ursprünglich einheitlich-konkret-kompakt Gegebenes eine Relation oder eine Relationskette“[9] einsetzt. Reflexion ist folglich Relationierung in der Weise, dass ein Teil des Systems – Luhmann lässt zunächst offen, ob es sich um Teilsysteme, Prozesse oder einzelne „Akte“[10] handelt – das System als Ganzes zu seinem Thema macht. Der weitere Akzent liegt auf jeden Fall im Begriff der Partizipation, das heißt auf der Frage nach der Teilhabe, womit die bekannte Klaviatur vom Teil in seiner Relation zum Ganzen bespielbar wird: „Ein Teil kann das Ganze zwar nicht sein, kann es aber thematisieren, indem er es sinnhaft identifiziert und auf eine ausgegrenzte Umwelt bezieht.“[11] So gefasst ist Reflexion stets Selbst-Thematisierung.

Auch wenn in den Details dieser recht kryptischen Erörterungen nicht immer klar ist, was genau wie relationiert wird, zeigt sich in der Folge, dass Selbst-Thematisierung als ein Modus der Relationierung bestimmt wird, kraft derer das Ganze eines Systems in einen Kontext gestellt und mit diesem Kontext in Beziehung gebracht wird. Diesen Kontext nennt Luhmann Umwelt, genauer: „die Diskontinuität von System und Umwelt“.[12] Deshalb – weiterer Schritt – ist Selbst-Thematisierung immer die Thematisierung eines Systems als „System-in-einer-Umwelt“.[13]

Was jedoch ist die Umwelt des Gesellschaftssystems? Weil – und nur, weil! – Luhmann in den 70er-Jahren noch nicht über ein durchdekliniertes Verständnis der Emergenz des Sozialen verfügt, folgt bei ihm angesichts dieser Frage regelmäßig eine Rekonstruktion der Vorstellungen von „Welt“, die historisch überkommene Gesellschaftsformationen kultiviert und gepflegt haben. Auf die Frage nach der Umwelt eines Gesellschaftssystems antwortet mithin eine Rekonstruktion der Weltverständnisse dieses Gesellschaftssystems, weil sich just in solchen Vorstellungen von Welt die Differenz von Sozialem und Nicht-Sozialem, von Dazugehörigem und Nicht-Dazugehörigem, von System und Umwelt artikuliert.

Luhmanns Verfahren ist keineswegs neu: Bereits im Weltgesellschaftsaufsatz hatte er die Frage nach der Umwelt der Weltgesellschaft nicht mit Blick auf die konstatierte Formhomogenität von Kommunikation beantwortet, sondern mit Bezug auf sich historisch verändernde Weltvorstellungen. Dementsprechend wird die Frage nach der Umwelt der Weltgesellschaft in eine „Analyse der Weltvorstellungen“ überführt (in Luhmanns Wortlaut heißt es: durch eine solche „vorbereitet“[14]). – Dieser Zug könnte zumindest plausibilisieren, warum in seinen Texten aus diesem Zeitraum gelegentlich die etwas merkwürdige Gleichung „Welt (= System und Umwelt)“[15] auftaucht. So verstanden geben die jeweiligen Weltvorstellungen Aufschluss über die Weise, in der sich eine Einheit, ein ‚Selbst‘, thematisiert, indem es sich von Nicht-Dazugehörigem abgrenzt. Ergo müssen Welt-Vorstellungen eo ipso Selbst-Thematisierungen sein.

III.

Die dargestellte Sachlage vergegenwärtigt das thematische Zentrum der Aufsätze zum Komplex der gesellschaftlichen Selbstthematisierung vor der Abfassung des Selbstthematisierungskapitels der 1975er-Gesellschaftstheorie. Sie konturiert in hohem Maße allerdings auch noch diesen Text. Wie üblich agiert Luhmann vor allem doppelstrategisch mit den Begriffen der Kontingenz und der Komplexität.

Die Klärung der eigentlichen Problemstellung für das, was als Selbstthematisierung (ohne Bindestrich) verstanden werden soll, liefert den Auftakt des Kapitels. Sie gilt dem Problem, auf das hin Selbstthematisierungen von sozialen Systemen als Lösung qualifiziert werden können. Und wie typisch für Luhmann hat das Ganze keine hermeneutische Stoßrichtung – als Frage nach der Frage, für die ein x (hier: Selbstthematisierung) eine Antwort darstellt –, sondern einen funktionalistisch-systemischen Akzent. Selbstthematisierungen, heißt es entsprechend, tauchen nicht immer, sondern nur dann auf, wenn Systeme eine bestimmte Größe und ein bestimmtes Komplexitätsniveau dergestalt überschritten haben, dass eine „Verschärfung der systemeigenen Selektivität“ und „eine Ausschließung systemeigener Möglichkeiten zwangsläufig wird“ (S. 914). Zugleich sind diese Probleme keine „Zweckprobleme[…]“ (S. 915), die beseitigt wären, falls nur die rechten Mittel zu ihrer Abhilfe gefunden und eingesetzt werden. Reflexion beseitigt Luhmann zufolge also keine Schwierigkeit, vielmehr reagiert sie auf ein Problem, ohne es zweckorientiert und endgültig lösen zu können.[16]

Die zu Beginn gegebene kanonische Definition lautet dementsprechend: Reflexion passiere dann, „wenn selbstbezügliches Identitätsbewußtsein benutzt wird, um selektive Operationen zu steuern“ (S. 916). Kurz danach ist die Rede von „Selbstreferenz mit diskriminierender Funktion“ (S. 916) – was auf ein Identitätsmuster verweist, das als Differenz-Identität zu bezeichnen wäre. Ich bin dies – und nicht das (Hellene – und nicht Barbar; Christ – und nicht Heide …). Darin liegt der Hauptakzent dieses Hinweises, dem freilich als solchem noch nicht unbedingt besondere Vorstellungen von Welt, sondern lediglich spezifische Identitätsmuster zu entnehmen sind.

Neben dieser am Leitfaden des Komplexitätsbegriffs operierenden Variante von Selbstbezüglichkeit finden wir im selben Text jedoch auch die Verknüpfung der Reflexionskategorie mit dem Kontingenzbegriff. Sie unterfüttert in der Folge Luhmanns Idee, dass sich Reflexion nicht auf das Notwendig-Sein der reflektierenden Instanz (des Systems) bezieht, sondern ganz im Gegenteil eben auf deren Kontingenz: „Reflexion leistet die Thematisierung von Systemidentität (des jeweils reflektierenden Systems) unter dem Gesichtspunkt ihrer Kontingenz. Reflexion beginnt daher erst, wenn diese Identität als nichtnotwendig, aber auch als nichtunmöglich erfahren wird.“ (S. 910)[17]

Diese Überlegungen spitzt Luhmann mit Hilfe der Trias von System, Umwelt und Welt auf die These zu, dass Reflexion als „eine Form der Vergewisserung kontingenter Identität (begriffen werden)“ könne, „die den Durchgriff auf Welt erreicht dadurch, daß sie die Identität des Systems in Relation auf seine Umwelt thematisiert.“ (S. 919/20) Im Lichte dieser These gewinnt Reflexion „die Funktion der Kontingenzkontrolle“: sie artikuliere „die Identität des Systems im Hinblick auf andere Möglichkeiten“ (S. 920).

Was nun die möglichen Materialien einer konkreten „Reflexionsgeschichte“ (S. 923)[18] solcher Kontingenzen anlangt, so konzentriert sich Luhmann, wie bereits im 1973er Aufsatz über ‚Selbst-Thematisierungen des Gesellschaftssystems‘, zunächst auf den „Übergang von archaischen Siedlungs- und Stammesgemeinschaften zu politisch konstituierten und zusammengehaltenen, also kollektiv entscheidungsfähigen Einheiten“.[19] Bei diesem Übergang spielen vor allem die Domänen des Politischen und des Religiösen eine dominante Rolle, wobei man, um die Nomenklatur des 1975er-Textes ernst zu nehmen, präziser von den „Funktionsbereichen der Politik und der Religion“ (S. 924) sprechen müsste. Ihr Thema sei – abstrakt gefasst – die „Erfahrung von“ (S. 923) Komplexität. Sie stellt im Kern das eigentliche „Reflexionsthema“ (S. 922) dar.[20]

IV.

Ein in der „Systemtheorie der Gesellschaft“ wichtiger Topos ist die „Rückprojektion funktionaler Primate“ (S. 923ff.), mit der sich Luhmann wiederholt beschäftigt. Selbstverständlich haben wir es mit einer Variante des bekannten „pars pro toto“-Konstitutionsprinzips zu tun, demzufolge gilt, zwar könne ein Teil des Ganzen selbstverständlich nie das Ganze sein, allerdings suggerieren (oder eben: projizieren), es zu sein. Die Beschreibung solcher Primate von Funktionssystemen, das heißt solcher Projektionen, ist aus den einschlägigen Publikationen Luhmanns geläufig. Die Quintessenz und der Fluchtpunkt seiner diesbezüglichen Beobachtungen ist die Dominanz einer durch Religion gestützten Politik, die irgendwann in der frühen Neuzeit vom Primat der unter dem Titel der ‚commercial society‘ laufenden Ökonomie abgelöst wird. Was in der Systemtheorie der Gesellschaft auffällt, ist Luhmanns Suche nach einer Erklärung dafür, „wie und in welcher Abfolge es zu solchen Dominanzen kommen kann“ (S. 925). Dabei favorisierte der 1973er Selbstthematisierungsaufsatz dafür jene Funktionsdomänen, die einerseits schon eine entsprechende interne Differenzierung in Gestalt von Rollen und „Rollensystemen“ (S. 924) vorweisen können, andererseits ihr abstraktes Bezugsproblem in den Fragen nach dem richtigen Handeln gefunden haben. Ähnlich argumentierte auch der bereits erwähnte Gesellschaft-Aufsatz im ersten Band der Soziologischen Aufklärung. Jetzt ergänzt Luhmann seine Sondierungen durch einen der wenigen Versuche, die zweite (und gesellschaftstheoretisch nie ausgearbeitete) Variante einer Differenzierungstheorie – die Typentrias aus „Interaktion“-„Organisation“-„Gesellschaft“ – auf diese Problemstellung zu beziehen. Seine „Hypothese“ lautet, dass „die Dominanz gesellschaftlicher Teilsysteme mitbedingt ist durch die Nähe nicht zur ökonomischen, sondern zur interaktionellen Infrastruktur gesellschaftlichen Lebens.“ (S. 926) Es sind im Luhmann‘schen Verständnis die „Interaktionssysteme[…] des täglichen Lebens“ (S. 926), die die Plausibilitätsbedingungen für die Durchsetzung funktionaler Primate begünstigen oder zumindest erhöhen. Diese Behauptung verfolgt offenkundig die Ambition, die Handlungsproblematik – ob als Kontingenz oder als Komplexität rekonstruiert –, die den Anlass für Selbstthematisierungen liefert, in eine stärker typen-differenzierungstheoretische Nomenklatur zu übersetzen. Man muss jedoch sehen und folglich konstatieren, dass Luhmann eine solche Übersetzung eher andeutet als wirklich vornimmt.

V.

Eine zusätzliche Bemerkung zum Begriff der „Rückprojektion“ ist noch fällig. Was in dem Kapitel, das uns gerade beschäftigt, zunächst ins Auge sticht, ist eine terminologische Neuerung. In keinem der thematisch einschlägigen Aufsätze aus den beiden ersten Bänden der Soziologischen Aufklärung verwendete Luhmann „Rückprojektion“ als grundbegriffliche Vokabel. Wohl aber taucht der Begriff in einem späteren, wiederum thematisch einschlägigen Aufsatz auf, der erstmalig 1979 publiziert wurde und der in den dritten Band der Soziologischen Aufklärung eingegangen ist: „Identitätsgebrauch in selbstsubstitutiven Ordnungen, besonders Gesellschaften“.[21] Wichtiger als dieser Befund ist meines Erachtens allerdings, dass die Idee zu dieser Variante einer Primatakzentuierung in der 1975er-Gesellschaftstheorie mit einem speziellen, später dezidiert aufgegebenen beziehungsweise erweiterten differenzierungstheoretischen Grundverständnis einhergeht. Rückprojektion meint hier: „Rückprojektion der funktionsspezifischen Primate und Reflexionen von der Ebene dominanter Teilsysteme auf die Gesellschaft als ganze“ (S. 929). Das Präfix ‚Rück‘ setzt dabei eine faktisch durchgesetzte Form funktionaler Differenzierung voraus. Von ihr aus projiziert sich die Selbstthematisierung eines ausdifferenzierten Teils ‚zurück‘ auf das Ganze, dessen Teil dieses Funktionssystem ist. Das kann aber schon begrifflich und erst recht nach der Systematik von Luhmanns Differenzierungstheorie nur gelingen, wenn der berühmte „take off“ zur Gesellschaftsformation funktionaler Differenzierung nicht – wie später in den diesbezüglich wichtigen Publikationen – in die frühe Neuzeit fällt, sondern bereits, so die Auskunft im Text der Systemtheorie der Gesellschaft, zur Entstehung griechischer Stadtstaaten gehört, also mit dem historischen Vorgang einer Zentralisierung politischer Herrschaft in Gang kommt.

Schon an diesem Punkt zeigt sich, wie sehr das terminologisch und konzeptionell Fragile in Luhmanns Auseinandersetzung mit Formen der Selbstthematisierung an einer noch nicht abschließend ausgearbeiteten Differenzierungstheorie hängt – einer Differenzierungstheorie, die 1975 lediglich das alte Durkheim‘sche Dual von segmentärer versus funktionaler Differenzierung gesellschaftsgeschichtlich verfeinert, ohne – wie später – noch einen eigenständigen, dritten Differenzierungstyp zu kennen. Maßgeblich deshalb spielt die semantische Katastrophe der Neuzeit – also die Gesamttransformation des semantischen Apparats einer Gesellschaft im Übergang von stratifikatorischer zu funktionaler Differenzierung[22] – bei dem Luhmann der Mittsiebziger Jahre ebenso wenig eine Rolle wie die sich daraus ergebenden, völlig neuen Plausibilitätsbedingungen für das, was unter den Voraussetzungen heterarcher gesellschaftlicher Differenzierung noch als eine Selbstbeschreibung oder Selbstthematisierung dieses Gesamt-Systems gelten kann. Erst später und mit dem Einbau des Typs stratifikatorischer Differenzierung in das setting gesellschaftlicher Differenzierungsformen wird eine Denkfigur und ein Begriff bedeutsam, der bereits in der Systemtheorie der Gesellschaft eine gewisse, allerdings eher subkutane Prominenz genießt. Dort ist er noch nicht zu der späteren Gestalt ausgereift ist, die unter dem Titel der ‚repraesentatio identitatis‘ den Grundgedanken, der sich in der Systemtheorie der Gesellschaft noch im Begriff der ‚Rückprojektion‘ ausspricht, in anderer Weise zur Geltung bringt: dass nämlich ein Teil des Ganzen dieses Ganze repräsentiert, für es zu stehen imstande ist. Erst die Form einer ‚Repräsentation‘ unter den Bedingungen hierarchisch-stratifikatorischer Differenzierung wird es Luhmann erlauben, die beiden dominanten Selbstthematisierungsvarianten, um die es ihm fortlaufend geht – die societas civilis-Tradition einerseits, die der commercial society andererseits – verschiedenen Differenzierungsformen zuzuordnen und sie nicht beide unter die Pauschalrubrik ‚funktionale Differenzierung‘ zu subsummieren. Auf diese Problemlage werde ich gleich zurückkommen.

VI.

Titel und Gegenstand des Unterkapitels „Selbstthematisierung durch Gesellschaftstheorie“ signalisieren in geradezu klassischer Manier die ausgeprägte Sensibilisierung der Luhmann‘schen Theorie für Phänomene des Selbstreferentiellen. Charakteristisch ist eine grundbegriffliche Orientierung auf Selbstreferenz. Sie ist Effekt einer Gesellschaftstheorie, die unter den Bedingungen der sich konstituierenden Weltgesellschaft für Luhmanns Begriffe als Selbstthematisierung einer Gesellschaftsstrukturformation verstanden werden muss, in der die Möglichkeit der Rückprojektion funktionaler Primate kategorisch ausgeschlossen ist. Man könnte insofern von der Geburt der Selbstreferenz aus dem Geiste einer Selbstreflexion sprechen, die aus der Beziehung der Gesellschaftstheorie zu ihrem Gegenstand folgt. Entsprechend deutlich heißt es: „Wenn die Gesellschaft selbst ihre eigene Reflexion realisiert, muß die Gesellschaftstheorie in der Lage sein, mit selbstreferentiellen Begriffen zu arbeiten. Reflexion ist dann nicht länger nur ein erkenntnistechnisches oder erkenntnistheoretisches Problem, sondern ein vorfindbarer Tatbestand, der geeignete soziologische Begriffe und Verfahren erfordert.“ (S. 949) Dem Reflexionsproblem kommt mithin der Status eines Sonderproblems zu, das allerdings eine allgemeine, weitreichende, die Theorie als Ganze mitkonstituierende und später ersichtlich auch reorganisierende Bedeutung besitzt. Luhmann dekliniert die entsprechenden Implikationen kursorisch an den Bereichen der Evolutionstheorie, der Kommunikationstheorie und der Systemtheorie (er sagt nicht: Differenzierungstheorie!) durch (vgl. S. 950-951). Seine dort skizzierten Betrachtungen zum „selbstreferenziellen Begründungsstil“ (S. 951) der Gesellschaftstheorie sind jedoch nicht wirklich durchgearbeitet. Er legt auf einen „Theoriestil kombinatorischer Relationierung“ (S. 952) Wert, bei dem der Aussagenfundus des einen Bereichs die Aussagemöglichkeiten eines anderen Bereiches limitiert, strukturiert, anleitet, durch ihn ergänzt wird, usf. Allein dank einer solchen Theoriearchitektur, so vermutet Luhmann, lasse sich die „Adäquität“ (S. 952) einer Gesellschaftstheorie mit ihrem ‚Gegenstand‘ begründen, den sie als ihre eigene Möglichkeitsbedingung zu verstehen und zu thematisieren hat.

VII.

In Luhmanns Zuschnitt ist „Selbstthematisierung“ natürlich ein autologischer Begriff. Er bezieht sich nicht nur auf die historischen Formen der Selbstthematisierung, sondern umgreift auch die Theorie, die sich dieses Begriffs bedient. Wie nun thematisiert sich diese Theorie? Welche Formen, welche Notwendigkeiten, macht sie für sich geltend?

Die Überlegungen hierzu organisieren sich in der Systemtheorie der Gesellschaft zunächst über zwei Verbote oder „Verzichte“ (S. 952): zum Einem den Verzicht auf Rückprojektion, zum Anderen den auf Negation. Dabei meint Negation Verneinung im Sinne von Nichtnegierbarkeiten, wie sie klassischen Selbstthematisierungen eigentümlich waren, die ihre Plausibilität dem Ausschluss von Alternativen verdankten. Zugleich ist damit die Reflexionsform und -stufe benannt, die eine Gesellschaftstheorie – nach Hegel![23] – erreichen können muss: im Gegensatz sowohl zu klassischen rückprojizierenden Selbstthematisierungen wie zur unter modernen Bedingungen möglichen Auseinandersetzung mit Selbstthematisierungen steht sie auf einer dritten Reflexionsstufe. Diese dritte Stufe sei, so Luhmanns Überzeugung, „erforderlich, aber auch ausreichend“ (S. 953). Aufgeschlüsselt gibt er damit zu Protokoll, dass (1) Reflexion in Gestalt klassischer Selbstthematisierungen vorliegt. Darüber hinaus gibt es aber, sobald die Selbsthypostasierungen derartiger Selbstthematisierungen als Rückprojektionen funktionaler Primate nicht mehr nicht negiert werden können, das heißt in der modernen Gesellschaft, auch (2) die Reflexion dieser Reflexion. Eine Theorie, die wie diejenige Luhmanns solche Gegebenheiten thematisiert, muss folglich auf der dritten Stufe platziert werden. Sie muss, anders gesagt, nicht nur Reflexion (als kontingent) thematisieren können, sondern auch noch (3) die Reflexion der Reflexion reflektieren.

Soll Selbst-Hypostasierung vermieden werden, kann eine Theorie diesen Typ von Reflexion nur als Wissenschaft vollziehen. Ohne dass daraus Szientismus resultierte, schützt – Luhmann zufolge – allein die Wissenschaftlichkeit der Reflexion vor Selbsthypostasierungen. Dabei steht Wissenschaft für ein bestimmtes Verständnis von Kritik, das bei Luhmann, der im Text der Systemtheorie der Gesellschaft einige Mühe darauf verwendet, sich von einer kritischen Gesellschaftstheorie Frankfurter Provenienz abzugrenzen, im Grunde das Bewusstsein der Fallibilität wissenschaftlicher Erkenntnis meint. Wissenschaft ist, anders gesagt, zur Selbstkorrektur befähigt, jedoch nicht im Sinne eines Popper‘schen Kritischen Rationalismus, sondern im Modus der Reflexion auf die eigene Position als Teil des beschriebenen Gegenstands unter der ausdifferenzierten Sonderbedingung einer wissenschaftsspezifischen Perspektive auf ihn. Eine sich derart mit den Mitteln der Wissenschaft selbst situierende Wissenschaft kann ihre Perspektive auf Gesellschaft – bei allem Wissen um die ‚Partizipation‘ an dieser Gesellschaft als ihrem ureigenen Erkenntnisgegenstand – zugleich in eine zureichend sachdienliche, nämlich Korrekturen gestattende Distanz bringen.[24]

Diese Reflexivität erfordert auf Seiten der Gesellschaftstheorie ein besonderes Eingedenken wissenschaftssoziologischer Bauart: Eine Theorie des Gesellschaftssystems muss auch und zugleich eine Theorie des Wissenschaftssystems sein. Um es mit der Luhmann‘schen Formulierung zu sagen: „Für die Gesellschaftstheorie ist … die Selbstthematisierung des Wissenschaftssystems nicht unabhängig zu denken von der Selbstthematisierung des Gesellschaftssystems und umgekehrt.“ (S. 959) Diesem Postulat widmet er immerhin ein eigenes zweites Unterkapitel, das „Gesellschaftstheorie als Wissenschaft“ überschrieben ist.[25] Es führt aus, warum Wissenschaftstheorie zum Reflexionsteil der Gesellschaftstheorie gehört, sich also mitnichten auf eine kleine erste Studie zu Wissenschaft als Funktionssystem beschränken darf. Dieses Unterkapitel exemplifiziert, wie sehr eine differenzierungstheoretische Ausarbeitung von Gesellschaftstheorie das Resultat einer Reflexionsanstrengung ist, der es um die Vermeidung einer allenfalls verfeinerten Variante von Selbsthypostasierung geht. Die dritte Reflexionsstufe mündet vielmehr in eine Selbstthematisierung des eigenen Theoriestatus im Rahmen (einer Theorie) funktionaler Differenzierung!

VIII.

Luhmann verdichtet seine Ambition, das Reflexionsniveau Hegels keinesfalls zu unterbieten, im Konzentrat einer Selbstthematisierung der modernen Gesellschaft durch Gesellschaftstheorie. Ihr Leittitel und Leitthema lautet „Weltgesellschaft als System“. Damit greift er die für seinen ganzen Ansatz unvermeidliche Frage auf, „welche Funktion denn“ – ist eine systemtheoretische Gesellschaftstheorie tatsächlich die Selbstthematisierung der (modernen) Weltgesellschaft auf einer dritten Reflexionsebene – „die Identifikation der Weltgesellschaft als System erfüllt, wenn es keine spezifisch politische oder keine spezifisch ökonomische Funktion ist.“ (S. 961) Und die Antwort lautet, es sei „ der Doppelsinn des Begriffs der Weltgesellschaft: daß sie (heute) das einzige System in der Welt ist, das Welt konstituiert.“ (S. 961) Alle weiteren Explikationen verweisen dann auf Gesellschaft als ein „Sondersystem speziell für die Sozialdimension“ (S. 966) und darauf, dass deren „Prinzip der Identifikation“[26] als „Sozialität“ (S. 964) identifiziert ist und just darin „der besondere Standpunkt und die Selbstreferenz des Gesellschaftssystems“ (S. 964) zur Geltung kommt.

Nimmt man diese etwas erratische Passage näher in Augenschein, fällt auf, dass sich die materialen Analysen dazu interessanterweise nicht im Kapitel über Selbstthematisierung als Reflexion finden, sondern im zweiten Kapitel des vierten Teils der Systemtheorie der Gesellschaft, also in Textpassagen über Gesellschaft als soziales System. Von Belang sind dort zumal die Aussagen, die sich der „Ausdifferenzierung des Gesellschaftssystems“ (S. 675ff.) widmen. Dabei liegt der Focus – wiewohl das Kapitel eigentlich als eines mit differenzierungstheoretischem Akzent angelegt ist – nicht primär auf den unterschiedlichen Formen gesellschaftlicher Differenzierung, sondern auf den unter variierenden Selbstthematisierungsbedingungen möglichen Welt- und Gesellschaftsbeschreibungen. Es geht, kurz gesagt, um die – wie bei Luhmann üblich in unwahrscheinlichkeitsepistemologischer Einstellung formulierte – Frage: Wie eine Ausdifferenzierung des Sozialsystems Gesellschaft als „Anstoß und Substrat“ (S. 707) einer sinnhaft konstituierten Welt überhaupt möglich ist, wenn die Sozialdimension doch die „konstitutive Weltdimension ist und bleibt?“ (S. 708)

In diesem Zusammenhang taucht auch der Topos der Selbstthematisierung eines solchen auf seine Ausdifferenzierbarkeit hin befragten Systems wieder auf. Es geht um das Problem, wie eine Sinndimension, nämlich die soziale im Unterschied zur sachlichen oder zeitlichen Sinndimension, überhaupt zu einem eigenen System sui generis hochaggregiert werden kann.[27] Wenn, was Luhmann unterstreicht, „alle Reduktion auf spezifisch soziale Prozesse innerhalb einer durch ebendiese Prozesse immer schon konstituierten Sinnwelt spielt“, muss eben diese Sinnwelt „zu ihrer Konsolidierung, Formulierung und Tradierung Prozesse der Selbstthematisierung des Gesellschaftssystems“ voraussetzen (S. 709f.). Die Identitätsfrage wird mithin als die Frage nach der Konstitution des Systems Gesellschaft in der Differenz zu seiner Umwelt relevant. „Ein Gesellschaftssystem kann sich gegen eine durch es selbst mit Sinn überzogene Umwelt nur dadurch absetzen, daß es Sinngrenzen bildet, indem es sich selbst einen Namen gibt oder sonstwie erkennbar macht und identifiziert.“ (S. 702)

Das Selbst-Thematisierungskapitel greift in Luhmanns Gesellschaftstheorie von 1975 vor allem diese Problemstellung auf. Es behandelt die Frage, wie trotz eines soziokulturell frühen Vorrangs der Sozialdimension die Ausdifferenzierung eines spezifisch sozialen Gesellschaftssystems möglich ist, wenn doch die „Sozialdimension … nicht mit dem Bereich menschlichen Lebens identifiziert (wird).“ (S. 712), also etwa: segmentäre Gesellschaften zu Anthropomorphismen neigen, weil die soziale Welt eben nicht auf den menschlichen Bereich eingegrenzt wird.

Der in post- segmentären Gesellschaften einsetzende Vorgang der „De-Sozialisation“ von Natur, wie ihn Thomas Luckmann benannt hat, und die mit ihm anlaufende „Bildung von eindeutigen Grenzen des Sozialen“ (S. 714) in Gestalt einer deutlicheren Differenzierung zwischen der Sozial- und der Sachdimension verlangt danach, den Zusammenhang zwischen der Entsozialisierung von Natur und dem Prozess sozialer (Aus-)Differenzierung exakter zu beobachten. Beispiele wie die für die griechische Antike bedeutsame Unterscheidung von ‚physis‘ und ‚nomos‘ (S. 714), wie das Aufkommen eines Gattungsbegriffs ‚Menschheit‘ oder eines Begriffes wie ‚ius gentium‘, später dann eines „physikalischen Begriffes von Handlung“ (S. 736), der den Rekurs auf so etwas wie „Bedürfnisse“ und „Interessen“ zulässt, hat Luhmann im Auge, wenn er in einem nächsten Schritt die Transformation der „Vorstellungen über Welt und Natur, Menschheit und politischer Gesellschaft“ (S. 716) unter den Bedingungen bestimmter Weisen der Selbstthematisierung innerhalb eines bereits konstituierten und ausdifferenzierten Gesellschaftssystems in Betracht zieht.

Der Fluchtpunkt seiner Sondierungen ist dann selbstredend – und das macht einen Gutteil der Prominenz des Begriffs der „Weltgesellschaft“ in der Systemtheorie der Gesellschaft aus – eben diese Weltgesellschaft, die „jede Art von Sozialität außerhalb ihrer selbst entbehren kann: keine andere Gesellschaft mehr kennt; die kein projektives Verhältnis zu einem alter Ego außerhalb ihrer selbst mehr benötigt und entsprechend die Vorstellung einer transzendenten Personalität Gottes … als entbehrliche Fiktion und schließlich als Privatsache behandelt; und die die Welt nur noch als Korrelat ihrer Prozesse, aber nicht einmal mehr in formalster Analogie zu sich selbst als System voraussetzt.“ (S. 717) Waren die Grenzen des Sozialen historisch zunächst keineswegs identisch mit den Grenzen des Gesellschaftssystems, so läuft die Existenz einer Weltgesellschaft genau auf den Punkt einer solchen Konvergenz zu.

Weltverständnisse transformieren sich und derartige Veränderungen finden nicht – so der alte Korrelativitäts- oder Komplementaritätsgedanke von Weltverständnis und Gesellschaftsstruktur – unabhängig davon statt, wie und zu welcher Gestalt sich das Gesellschaftssystem ausdifferenziert. Worauf sich die Gesellschaftstheorie in ihrer Beschäftigung mit diesen Transformationen konzentriert, ist die Veränderung von Sozialitätsverständnissen. Vermutet wird ein interner Zusammenhang mit Prozessen der „Ausdifferenzierung, Innendifferenzierung und Selbstthematisierung des Gesellschaftssystems“ (S. 719) dergestalt, dass von einer zunehmend „restriktiven Systematisierung des Sozialen im System der Gesellschaft“ (S. 723) ausgegangen werden kann – zunächst und maßgeblich über die Kategorie des (zurechenbaren) Handelns. Just diese und weitere Überlegungen bilden den Horizont, auf den sich das Selbstthematisierungskapitel zubewegt. Das Finale in historischer Hinsicht liefert dann erwartungsgemäß die Weltgesellschaft, die ‚selbstthematisierungstheoretisch‘ deshalb höchste Relevanz besitzt, weil erst unter ihren Bedingungen die „Identität von Sozialität und Gesellschaftssystem erkennbar“ (S. 737) wird.[28]

IX.

Ich komme zum (historisch-)kritisch pointierten Schluss.[29] Verdeutlichen wir uns die Grenzen dessen, was Luhmann in seiner Gesellschaftstheorie von 1975 unter dem Stichwort „Selbstthematisierung“ vorträgt, so fallen meines Erachtens zwei Punkte auf:

1. Die Prämisse sämtlicher Analysen von Selbstthematisierungen lautet, „daß die Selbst-Thematisierungen der Gesellschaft durch die Struktur des Gesellschaftssystems ermöglicht“[30] werden. Also steht im Zentrum aller Überlegungen zu einem sich identifizierenden Selbst das Vorhaben, die mit der Struktur des Gesellschaftssystems jeweils korrelierbare Form der Konstruktion von Welt und Selbst nachzuzeichnen. Genauso hatten es bereits die älteren Aufsätze Luhmanns definiert. Welche Weltkonzeption, so lautet Luhmanns Frage, ist mit welcher Gesellschaftsstruktur – im vorliegenden Buch – mit welchen dominant rückprojizierten Primaten vereinbar? Wie wird sie ausgebaut? Wie ist diese Konzeption von Welt folglich auch historisch rekonstruierbar? Damit haben wir die hegemoniale Themenstellung der 1975er-Gesellschaftstheorie vor Augen.

Sie krankt nun daran, dass der systematische Fluchtpunkt, auf den hin auch die späteren Analysen zu diesem Themenkomplex orientiert sind, differenzierungstheoretisch noch unzureichend ausgearbeitet ist. Über eine vollständige artikulierte Theorie der modernen Gesellschaft mit einer gegenüber den geschichtlich überkommenen Varianten von Selbstthematisierung radikal verschiedenen Weltkonzeption verfügt Luhmann noch nicht. Aus diesem Grund gelingt es der Systemtheorie der Gesellschaft nicht, den Bruch im Sinne einer echten rupture epistémologique, der zwischen einer politischen, religiösen oder wirtschaftlichen Primatorientierung der Selbstthematisierung einerseits und dem Selbstverständnis der eigenen Theorie als adäquater Selbstthematisierung der Strukturform der Moderne andererseits statthat, auf den Begriff zu bringen. Dieses Manko ist offenkundig der differenzierungstheoretischen Engführung des Textes geschuldet. Die Katastrophe der Neuzeit, also den Übergang von stratifikatorischer zu funktionaler Differenzierung, kann Luhmann nicht überzeugend als den alles entscheidenden Bruch ausweisen, weil Schichtung und funktionale Differenzierung in seiner Konzeption lediglich zwei Modalitäten ein und desselben Differenzierungstyps darstellen, nämlich der funktionalen Differenzierung. Folglich vermag er nicht darauf zu reflektieren, dass die Primatfunktion, sprich: die Möglichkeit, Selbstthematisierungen als selektive Rückprojektionen von Funktionsprimaten überhaupt zu organisieren, ihrerseits von einer bestimmten Differenzierungsform abhängig beziehungsweise mit ihr historisch korreliert ist. Eine weitere, fatale Folge dieses Manko besteht darin, dass Luhmann die Frage, wie funktionale Primate ihre vermeintliche Plausibilität einbüßen, nur mit dem Hinweis auf deren Vervielfältigung und ihre damit ersichtlich werdende Kontingenz zu beantworten vermag. Und eine letzte, nicht minder problematische Konsequenz besteht schließlich darin, dass dies historisch mit dem Aufstieg einer ökonomischen Rückprojektion identifiziert wird, also mit just dem historischen Augenblick, in dem sich die Weltgesellschaft – als zweiter Modus funktionaler Differenzierung – durchsetzt. Ob Luhmann mit dieser Entscheidung seiner Theorie eine soziologische Interpretation von Weltgesellschaft nicht nolens volens mit einer deutlich ökonomistischen Schlagseite belastet hat, wäre gerade bei einer sorgfältigen Beschäftigung mit der Systemtheorie der Gesellschaft zu diskutieren.

Insgesamt wäre angesichts dieser Befunde wohl festzuhalten, dass sich Luhmann den Weg für weitere Spezifikationen seiner Grundthese über die Korrelation zwischen Differenzierungs-Strukturen des Sozialen und unterschiedlichen Varianten gesellschaftlicher Selbst-Thematisierung verbaut hat. Erst nach der 1975er-Gesellschaftstheorie wird er diesen Strukturbegriff ernsthaft auf die Einarbeitung von inneren Differenzierungsoptionen umstellen. Gerade im Lichte dieser Revision ließen sich sowohl die differenzierungstheoretischen Texte Luhmanns nach 1975 (eigentlich erst nach 1977) als auch seine Studien zum Zusammenhang zwischen gesellschaftlichen Strukturen und semantischen Traditionen in ihrer gesellschaftstheoretisch aufschließenden Kraft neu lesen. Und erst auf ihrer Basis verfügt die Theorie tatsächlich über eine sicher fundierte Leitfrage nach der Korrelation von Semantiken und Selbstbeschreibungen mit gesellschaftlichen Differenzierungsstrukturen, für deren Beantwortung historisch tradierte Weltverständnisse und Weltvorstellungen eine gewichtige Rolle spielen. Doch treten sie weniger prominent als im Text der Systemtheorie der Gesellschaft von 1975 auf. Der Aufsatz über „Selbstsubstitutive Ordnungen“ etwa vollzieht bereits eine Wendung: Wird Reflexion der Reflexion zum Normalfall, verlieren also die rückprojizierten Primate durch Vervielfältigung ihrer Angebote die gesamtgesellschaftliche Plausibilität, weil sie als kontingent erlebt werden, dann liegt die verbleibende Konsequenz, wie Luhmann ausführt, darin, das „Prinzip der Identifikation nicht mehr in die Einzelfunktion“ zu legen, „sondern nur noch in die funktionale Differenzierung als solche“. [31]In der 75er-Version seiner Gesellschaftstheorie ist davon jedoch nicht die Rede, vielmehr lautet die dort wiederholt zum Einsatz kommende und allzu pauschale Chiffre schlicht – „Weltgesellschaft“.

2.

Selbstthematisierung bezieht sich immer auch auf die Reflexion der Theorie, die den Begriff ihrerseits benutzt und sich selbst als die adäquate Form moderner Selbstthematisierung versteht. Doch fallen auch für diesen Sachverhalt – das sei mit aller Vorläufigkeit formuliert – Unterschiede zu den späteren Versionen auf, in denen Luhmann die Gesellschaftstheorie als Selbstbeschreibung der modernen Gesellschaft beschreibt , das heißt eben als „Gesellschaft der Gesellschaft“.

Man kann das vorderhand an der Kategorie der Reflexion beobachten. Luhmann neigt in der Systemtheorie der Gesellschaft dazu, die Gesellschaftstheorie auf dritter Reflexionsstufe so zu präsentieren, als ergäbe sich deren Höherstufigkeit aus ihrem historischen Abstand zu den ‚schlichteren‘ Selbstthematisierungen der Vorläufer. Ob seine Entscheidung für die Ziffer „3“ – Gesellschaftstheorie als dritte und letzte Reflexionsstufe – ein reiner Zufall ist, kann man als eine vielleicht nicht ganz ernst gemeinte Rückfrage zunächst einmal offen lassen.

Doch liegt die Assoziation mit Luhmanns späterer Rede von „Beobachtung dritter Ordnung“ nahe, auch wenn sich diese Beobachtungsmodalität von dem, was uns bisher beschäftigt hat, auf fundamentale Weise unterscheidet. Mit der ‚Beobachtung dritter Ordnung‘ kennzeichnet Luhmann die Beziehung der Gesellschaftstheorie zu den Selbstbeschreibungen, die unterschiedliche Funktionssysteme von sich anfertigen. Von daher hat dieser Begriff tatsächlich einen viel deutlich markierteren, differenzierungstheoretischen Zuschnitt. Demgegenüber wird in der Systemtheorie der Gesellschaft eine dritte Reflexionsstufe ausschließlich mit Blick auf die historisch vorliegenden und nur selektiven Selbstthematisierungen reklamiert, weshalb der Begriff in diesem Kontext keinen genuin differenzierungstheoretischen Bezug aufweist. Was die Idee einer „Reflexion“ auf dritter Stufe in Luhmanns Verwendung Mitte der 70er-Jahre allerdings konnotiert, ist einen Anspruch auf abschließende Synthese. Dessen philosophiehistorisches Vorbild ist mit Händen zu greifen, weshalb es bestimmt kein Zufall ist, dass Luhmann gerade in den Passagen über Selbstthematisierung auffallend häufig herausstreicht, welche Form von Theorie „nach Hegel“[32] ausgeschlossen sei. Auch an der Idee, dass Gesellschaft erst unter den modernen Bedingungen der Weltgesellschaft im Medium einer wissenschaftlichen Theorie zu sich selbst komme kann, weil jetzt (endlich) die „Identität von Sozialität und Gesellschaftssystem“ (S. 737) erreicht sei, mahnt unmissverständlich an eine Konzeption von Reflexion, die auf den Schultern eines Hegel’schen Begriffs von Identität steht. Dementsprechend konturiert der gesamte Text ein spezifisches Verständnis von ‚Welt‘, dessen adäquate Artikulation die zentrale Aufgabe der soziologischen Gesellschaftstheorie sei. Dabei meint Adäquität, dass die Theorie zu einer als erdumspannend (oder, wie es später tatsächlich heißt: ‚tellurisch‘) begriffenen Weltgesellschaft passen müsse, nicht jedoch zu einer sozialevolutionär ausgeprägten Form funktionaler Differenzierung. Folglich ist Gesellschaftstheorie als Selbst-Thematisierung des Gesellschaftssystems für Luhmann ganz ohne Frage die Arbeit an der Projektion der real existierenden Weltgesellschaft. Und da „Welt“-Gesellschaft immer beides bezeichnet, nämlich die Projizierung von „Welt“, dadurch das überhaupt Sinn konstitutiert wird, und die empirische Erkenntnis des einzig verbliebenen, „Welt“ erzeugenden Gesellschaftssystem, arbeitet diese Gesellschaftstheorie – genau genommen – an der „Aufhebung“ (S. 955; vgl. S. 948) der Differenz zwischen realem und projektivem Weltgesellschaftsverständnis. Ein Schelm, wer dabei an dialektische Denkfiguren denkt – inklusive der Theorieformation, die diese Aufhebung nicht nur vollzieht, sondern als eine „Lehre vom absoluten Geist“ in sich reflektiert.

  1. Niklas Luhmann, Soziologische Aufklärung  1, Opladen 1970, S. 153.
  2. Die entsprechenden Kapitel sind: 1. Problemstellung (S. 913); 2. Rückprojektion funktionaler Primate (S. 923); 3. Leitfaden der Negation (S. 942), 4. Selbstthematisierung durch Gesellschaftstheorie (S. 948); 5. Weltgesellschaft als System: Theoriegeschichtliche, systembezogene und reflexionslogische Abgrenzungen (S. 960); 6. Zusammenfassung (S. 978).
  3. Luhmann, Soziologische Aufklärung  1, S. 153.
  4. Niklas Luhmann, Soziologische Aufklärung  2, Opladen 1975, S. 153.
  5. Luhmann, Soziologische Aufklärung  2.
  6. Niklas Luhmann, Soziologische Aufklärung 3 , Opladen 1981.
  7. Luhmann, Soziologische Aufklärung 3.
  8. Luhmann, Soziologische Aufklärung  2, S. 72.
  9. Ebd.
  10. Luhmann, Soziologische Aufklärung  2, S. 73.
  11. Ebd.
  12. Luhmann, Soziologische Aufklärung  2, S. 74; Hervorhebung im Original.
  13. Ebd.; Hervorhebung im Original.
  14. Luhmann, Soziologische Aufklärung  2, S. 64.
  15. Luhmann, Soziologische Aufklärung  2, S. 143.
  16. Luhmann hätte, was am Rande vermerkt sei, bereits an dieser Stelle auf die endogene Unruhe nicht nur des Mediums Sinn, sondern speziell auch der Reflexions- respektive Selbstthematisierungsprozesse verweisen können. Reflexion wird, eben weil sie nichts in zweckorientierter Weise löst, auf Dauer gestellt, wird mithin zu einer never ending story über die Identität einer Einheit.
  17. Ob diese Überlegungen Luhmanns restlos durchdacht sind, vermag ich nicht recht einzuschätzen. Sie folgen einerseits der bereits erwähnten und auch in anderen Texten beobachtbaren terminologischen Doppelstrategie, Komplexität und Kontingenz (beide übrigens mit Bezug auf ‚Sinn‘ – was der Behauptung einer noch viel prominenteren phänomenologische Orientierung in diesem Buch weitere Nahrung gibt) ineinander zu artikulieren. Aber wäre nicht zurückzufragen, unter welcher Hinsicht die Behauptung, eine Systemidentität sei nicht-notwendig und also kontingent, überhaupt einen Unterschied macht? Ich lasse die Frage an dieser Stelle unbeantwortet …
  18. Vgl. Luhmann, Soziologische Aufklärung  2, S. 76.
  19. Luhmann, Soziologische Aufklärung  2, S. 77.
  20. Im 1973er Aufsatz heißt es übrigens noch mit Blick auf das „Kernproblem“ frühester Selbstthematisierungen: „Kontingenz menschlichen Handelns“ (Luhmann, Soziologische Aufklärung  2, S. 77), das u.a. an der Relation von Politik und Religion abzulesen sei. „Die zu verarbeitende Erfahrung war: daß man anders handeln kann, als Impuls oder Gewohnheit nahe legen; …“ (ebd.).
  21. Dieser Aufsatz liefert im Übrigen das wichtigste später publizierte Konzentrat speziell des hier erörterten 5. Teils der Systemtheorie der Gesellschaft.
  22. Das Thema der ‚blauen Bände‘; vgl. Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft I-IV, Frankfurt 1980-1995.
  23. Luhmann verortet seine eigene Theorieambition selbstbewusst durch den Satz: „Man kann nicht hinter Hegel zurückfallen.“ (S. 953)
  24. Vgl. S. 955: „Das Erfordernis wissenschaftlicher Objektivierung von Reflexionsleistungen führt also nicht zur Behauptung des Vorrangs der Wahrheitsfunktion vor anderen, sondern im Gegenteil zur Aufhebung jeglicher Rückprojektion funktionaler Primate durch Relativierung auch des Prozesses der Selbstthematisierung auf eine teilsystemspezifische Funktion im Gesellschaftssystem.“ – ‚Aufhebung‘ durch ‚Relativierung‘!
  25. Kapitel II des 5. Teils: „Gesellschaftstheorie als Wissenschaft“ (S. 983ff.)
  26. Luhmann, Soziologische Aufklärung  3, S. 220.
  27. Man könnte von hier auch noch das in „Soziale Systeme“ auffällig intensive Nachdenken über die Relation von sozialer Sinndimension und der Konstitution sozialer Systeme rekonstruieren.
  28. Hätte Luhmann hier auch „für sie“ oder „für sich selbst erkennbar“ schreiben können?
  29. Das ist nicht gegen die, sondern gerade gegenteilig: im Angesicht der durchaus beeindruckenden Systematizität und Strahlkraft dieses Textes gemeint!
  30. Luhmann, Soziologische Aufklärung  2, S. 79.
  31.  Luhmann, Soziologische Aufklärung  3, S. 220.
  32. Vgl. als kleine Auswahl: S. 9, S. 940, schließlich S. 953: „Man kann nicht hinter Hegel zurückfallen.“

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Martin Bauer.

Kategorien: Geschichte der Sozialwissenschaften

Andreas Göbel

Prof. Dr. Andreas Göbel lehrt Allgemeine Soziologie und Soziologische Theorie an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg.

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