Daniela Russ | Rezension |

Ein Strohmann wird lebendig

Rezension zu „Toward a Critical Theory of Nature. Capital, Ecology, and Dialectics“ von Carl Cassegård

Carl Cassegård:
Toward a Critical Theory of Nature. Capital, Ecology, and Dialectics
USA
New York 2021: Bloomsbury
256 S., 39,95 $
ISBN 9781350176263

In der ökomarxistischen Debatte der letzten Jahrzehnte fungierte die Kritische Theorie vor allem als Strohmann, an dem sich unterschiedliche Positionen hervortun konnten. So verschiedene Theoretikerinnen wie Jane Benett, Paul Burkett und Andreas Malm setzen sich – mal abgrenzend, mal zustimmend – zur Kritischen Theorie ins Verhältnis. Doch auch wenn es an Zitatschnipseln von Walter Benjamin, Theodor W. Adorno und Alfred Schmidt nicht mangelt, gibt es bis heute nur wenige Stimmen in der Debatte, die ihre Position explizit aus einem Studium der Texte der Kritischen Theorie entwickeln. Nach Deborah Cook (2011), Adrian Wilding (2008), Andrew Biro (2011) und Christian Stache (2017) hat nun der schwedische Soziologe Carl Cassegård einen Versuch vorgelegt, die Kritische Theorie für die ökologische Frage der Gegenwart nutzbar zu machen.

Cassegårds Arbeit stellt eine wichtige Korrektur in einer Debatte dar, die so wenig über Kritische Theorie weiß, dass Alfred Schmidt unwidersprochen ‚stalinistisch‘ genannt werden kann.[1] Nachdem Cassegård sich in einzelnen Artikeln mit den Missverständnissen amerikanischer Ökomarxisten auseinandergesetzt hat,[2] entwirft er mit „Toward a Critical Theory of Nature“ ein Gegenangebot. Es gelingt ihm in dieser lesenswerten und verständlichen Einführung die wesentlichen begrifflichen Umstellungen herauszuarbeiten, die eine Kritische Theorie der Natur erfordert und die sie vom amerikanischen Ökomarxismus á la Paul Burkett und John Bellamy Foster sowie vom New Materialism unterscheidet. Das Resultat ist eine Kritische Theorie, die Kapitalismus und Naturwissenschaften endlich größere analytische Bedeutung zumisst, jedoch noch ein wenig zu unkritisch bleibt gegenüber der Logik des ökologischen Diskurses selbst.

Cassegård verortet die von ihm anvisierte Kritische Theorie der Natur im Ökomarxismus, neben denjenigen Ansätzen also, welche die gegenwärtige ökologische Frage mit Hilfe von Marx’schen Kategorien und Begriffen zu greifen versuchen. Wie das ‚Außen‘ der kapitalistischen Gesellschaft jeweils gedacht wird, ist dabei zentral für die Unterschiede zwischen den Ansätzen. Der kausale Materialismus knüpft an Marx‘ Kritik des Idealismus und Engels Dialektik der Natur an und begreift die dialektischen Bewegungsgesetze als kausale, naturwissenschaftlich erkennbare Beziehungen zwischen Dingen, die den gesellschaftlichen Überbau bestimmen (hier führt eine Linie von Engels zu Lenin, Bucharin und den neueren Ansätzen von Burkett und Foster). Gegen dieses Modell von materialer Basis und sozialem Überbau wendet sich der praktische Materialismus György Lukács‘, der Dialektik als Praxis zwischen Subjekt und Objekt begreift und davon ausgeht, dass Gesellschaft und Natur sich historisch gegenseitig hervorbringen. Während den Naturwissenschaften im kausalen Materialismus eine zentrale Stellung im Aufdecken dialektischer Gesetze zukommt, bleibt ihr Verhältnis zur Dialektik im praktischen Materialismus ungeklärt.

Bisher weniger Beachtung fand nach Cassegård der kritische Materialismus der Frankfurter Schule, obschon er sich direkt mit dem Denken Lukács‘ auseinandersetzt. Anders als Cassegård impliziert handelt es sich beim Begriff kritischer Materialismus um eine Selbstbezeichnung.[3] Der kritische Materialismus begreift das Materielle weder als Basis, noch als historisch sich entfaltende Praxis, sondern als das nicht-begriffliche, das außerhalb konzeptueller Systeme existiert und die Kraft besitzt, selbige aufzubrechen (S. 38). Der kritische Materialismus der Frankfurter Schule wendet sich also sowohl gegen den wissenschaftlichen Marxismus, der in seinen Augen ein begriffliches System über etwas Nicht-Begriffliches stülpt, als auch gegen Lukács‘ Hoffnung, dass es eine Totalität gebe, deren Sinn dechiffriert werden könne (S. 57 f). Stattdessen fokussiert er das Diskontinuierliche, das, was nicht aufgeht und nicht auf den Begriff gebracht werden kann. Dieser Materialismus ist immanent kritisch, insofern er den Begriff an dem misst, was dieser zu begreifen vorgibt.

Die Darstellung der Kritischen Theorie in der bisherigen ökomarxistischen Debatte litt an einer Unkenntnis grundlegender Begriffe. Das lässt sich zum Teil darauf zurückführen, dass die international meistgelesenen Texte – Horkheimers und Adornos „Dialektik der Aufklärung“ und Alfred Schmidts „Der Begriff der Natur in der Lehre von Marx“ – den kritischen Materialismus nicht einführen, sondern als nicht explizierte Prämisse voraussetzen. Wesentliche Texte zum Thema wie „Die Idee der Naturgeschichte“ oder „Negative Dialektik“ werden in der ökomarxistischen Debatte jedoch kaum rezipiert oder sind erst kürzlich übersetzt worden. Einer nicht zuletzt durch Habermas popularisierten Lesart zufolge wird die „Dialektik der Aufklärung“ als allumfassende Kritik einer Vernunft verstanden, die ihr eigenes Fundament untergräbt, die Politik lähmt und die Rolle des Kapitalismus verschweigt. Dieser Lesart möchte Cassegård eine andere Interpretation entgegensetzen, aus der sich eine kritisch-theoretische, ökomarxistische Perspektive entwickeln lässt.

Cassegårds Interpretation Adornos betont den Zusammenhang von negativer Dialektik und einer Utopie der Versöhnung. Er versteht negative Dialektik als Methode, die an der Erfahrung ansetzt, dass Begriff und Gegenstand auseinanderklaffen. Erst wenn die Begriffe sich nicht an der begrifflichen Logik des Systems, sondern am Vorrang des Objekts orientieren, können Bedingungen geschaffen werden, unter denen eine Versöhnung von Natur und Gesellschaft möglich wird. „[N]egative dialectics is the attempt to be true to utopia by doing justice to the experience of non-identity.” (S. 53) Dass dieses Unterfangen nicht nur Theorie-, sondern auch Kapitalismuskritik umfasst, führt Cassegård in zwei Kapiteln aus, in denen er auf die Verbindungen zwischen der Wertformkritik der Neuen Marx-Lektüre und Adornos Kritik des Idealismus hinweist.

Diese ‚optimistische‘ Lesart Cassegårds relativiert jedoch einen relevanten Teil von Adornos Denken: die Diagnose des Verblendungszusammenhangs einer total verwalteten Gesellschaft und der Permanenz der Katastrophe. Denn im Anschluss an Walter Benjamin fasst Adorno die Katastrophe nicht als ein bestimmtes Ereignis, sondern als das Weiterbestehen eines falschen Ganzen. Nach Cassegård geht Adorno jedoch nicht davon aus, dass die Katastrophe bereits eingetreten und die Gesellschaft jeder Widerspruchsmöglichkeit beraubt sei. Vielmehr ‚verlege‘ er die zukünftige Katastrophe in die Gegenwart vor, als geschehe sie bereits, um uns zum Handeln zu bringen (S. 70). In dieser Argumentation gerät der pessimistische Impetus von Adornos Philosophie beinahe zu einem rhetorischen Trick – eine Interpretation, die angesichts der Bedeutung des Holocaust für Adornos Denken mehr als fragwürdig ist.

Problematisch ist diese Deutung auch, weil sie die Katastrophe, von der die Kritische Theorie spricht, tendenziell mit dem „Katastrophismus“ um ökologische Probleme identifiziert. Laut Cassegård spricht ein „enlightened doom-sayer“ wie Jean-Pierre Dupuy im Sinne der Kritischen Theorie, wenn er behauptet, ein menschliches Überleben des Klimawandels setze voraus, stets von der schlechtestmöglichen Zukunft auszugehen. Jede Hoffnung aufzugeben könne ein Weg sein, neue Hoffnung zu schöpfen, meint auch Cassegård (S. 69 f.). So überzeugend dieses Argument ist, wenn es sich bei besagten Hoffnungen um Illusionen handelt, so zweifelhaft wird es, wenn es als theoretische Antwort auf die ökologische Frage dienen soll. Denn impliziert wird damit, dass das wesentliche Problem heute im Leugnen oder Herunterspielen ökologischer Probleme wie des Klimawandels bestehe. Faktisch gab es allerdings niemals ein ökologisches Problem das genauer beobachtet, besser erforscht, stärker international institutionalisiert war – und in dessen (zumindest symbolischer) Bearbeitung sich die mächtigsten Unternehmen gegenseitig zu überbieten versuchen.[4] Diese Identifikation der Katastrophe, von der die Kritische Theorie spricht, mit ökologischen Problemen ist umso unverständlicher, als Cassegård an anderer Stelle selbst betont, dass jede Katastrophe benutzt werden kann, um Unterdrückung zu legitimieren (S. 16). Wenn das Alarmschlagen qua Theorie gerechtfertigt wird, bleibt unverstanden, dass das Ausrufen der Katastrophe auch systemerhaltend sein kann (etwa im Sinne von Naomi Kleins ‚disaster capitalism complex‘).

Dabei nimmt der kritische Materialismus auch für Cassegård eine Haltung gegenüber den Naturwissenschaften ein, die ihr Wissen ernst nimmt, ohne es absolut zu setzen. Gegen die Ökomarxisten, die den kausalen Materialismus erneuern wollen, betont er, dass naturwissenschaftliches Wissen eben keine unvermittelte Wahrheit produziere, auf die sich eine umfassende sozio-ökologische Theorie stützen könnte. Sowohl die Theoretikerinnen des Hybriden (Haraway, Latour), als auch die kausalen Materialisten (Burkett, Foster) vergäßen auf je eigene Weise, dass die Welt selbst eben noch nicht versöhnt sei (S. 20). Dass die Natur zum Objekt degradiert werde, lasse sich nicht sprachlich lösen, dass naturwissenschaftliches Wissen heute nicht außerhalb der kapitalistischen Gesellschaft und ihrer Funktionszusammenhänge produziert werde, lasse sich nicht wegargumentieren. So lange so produziert, so geherrscht werde, beschränke man sich besser darauf, die Einseitigkeit und das Scheitern der Begriffe aufzuzeigen. Cassegård sieht im Darstellen von Konstellationen, wie Adorno es im Anschluss an Benjamin vorschlägt, eine Möglichkeit, der widersprüchlichen, splitterhaften Realität ökologischer Probleme, zu der auch naturwissenschaftliches Wissen gehöre, Ausdruck zu verleihen (S. 125). Denn anstelle von Generalisierungen oder Fallanalysen, wie sie in der Soziologie üblich seien, ermögliche es die Konstellation, das Objekt aus unterschiedlichen Perspektiven zu beleuchten, ohne diese in eine Systemlogik zu überführen, die instrumentalisiert werden könne.

Insgesamt stellt Cassegårds Buch eine sehr lohnende Einführung in die Lektüre Kritischer Theorie aus ökologischer Perspektive dar. Es bleibt zu hoffen, dass sein Entwurf einer Kritischen Theorie der Natur nicht nur die ökomarxistische Debatte zu etwas mehr Sachlichkeit verpflichten kann, sondern auch eine Diskussion innerhalb der Kritischen Theorie auslöst – etwa darüber, wie ökologische Probleme als Moment der Katastrophe begriffen werden können, ohne sie als Katastrophe in der Gesellschaft instrumentalisierbar zu machen.

  1. Paul Burkett, „Nature in Marx Reconsidered: A Silver Anniversary Assessment of Alfred Schmidt’s Concept of Nature in Marx“, in: Organization & Environment 10 (1997), 2, S. 164–83, hier S. 164.
  2. Carl Cassegård, „Eco-Marxism and the Critical Theory of Nature: Two Perspectives on Ecology and Dialectics“, in: Distinktion: Journal of Social Theory 18 (2017), 3, S. 314–32; Carl Cassegård, „Is Dialectics Applicable to Nature? The Lukács Problem and the Critical Theory of Nature“, in: Azimuth 16 (2020), 2, S. 143–54.
  3. Alfred Schmidt, Geschichte des Materialismus, Leipzig 2017; Matthias Lutz-Bachmann / Gunzelin Schmid Noerr, Kritischer Materialismus. Zur Diskussion eines Materialismus der Praxis, München 1992.
  4. Siehe dafür die Diagnose eines möglichen ‚Climate Leviathan‘ in Joel Wainwright / Geoff Mann, Climate Leviathan: A Political Theory of Our Planetary Future, London: 2018.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Hannah Schmidt-Ott.

Kategorien: Kritische Theorie Ökologie / Nachhaltigkeit Politische Ökonomie Zeit / Zukunft

Daniela Russ

Daniela Russ ist Postdoc an der University of Toronto. Ihre Forschungsinteressen liegen in der Historischen Soziologie sowie in der Wirtschaftssoziologie und der Kritischen Theorie der Natur.

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